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In dem Stübchen des Bürgermeisters Blume in Marienburg saß schon längere Zeit im Lehnstuhl ein Gast, den jener mit viel Zuvorkommenheit behandelte. Es war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, eher darüber als darunter, auffallend breitschultrig und gedrungen in seinem ganzen Körperbau. Auf dem kurzen Halse saß ein dicker Kopf mit struppig aufstehendem Haar, das sich zu beiden Seiten der eckigen Stirn weit zurückgezogen hatte und so die Schläfen frei ließ. Auf dieser Stirn lagen drei Querfalten fest. Sie senkten sich nach der wuchtigen und breit auslaufenden Nase zu, deren Flügel immer in Bewegung waren. Der kurz geschorene Vollbart, am Ohr entlang und in den Mundwinkeln bereits grau, umlief borstig das Kinn. Das Gesicht war unschön, hatte aber von den Augen her einen klugen Ausdruck. Die harten Züge deuteten auf viel Willensstärke. Der Mann saß fest im Stuhl, hatte den breiten Rücken angelehnt und die rechte Hand mit den kurzen Fingern auf den Tisch gelegt, während der Daumen der linken in dem breiten Ledergurt steckte, der das schwarze Tuchwams zusammenhielt. Um den Hals trug er eine schwere goldene Kette, an welcher einige Schaustücke auf die Brust hinabhingen. Er atmete kurz und schnaufte von Zeit zu Zeit, um sich besser Luft zu machen. Was er von seinem Wirt gehört hatte, schien ihm nicht sonderlich gefallen zu haben; die Falten auf der Stirn waren tief gesenkt, und der Mund hatte sich spöttisch verzogen.
»Es scheint mir, Gevatter Barthel«, sagte er, »daß Ihr alleweile vermitteln möchtet, wo doch keine Vermittlung möglich ist. Ihr versichert, treu zum Bunde zu stehen, an dessen Brief die Stadt Marienburg mit allen anderen Städten des Landes, großen und kleinen, ihr Siegel gehängt hat, und wollet doch dem Orden nicht wehe tun, der den Bund bekämpft und je eher, je lieber für immer abtun möchte. Wie verträgt sich das miteinander? Ihr versprecht, Euch vom Bunde nicht zu trennen, ratet aber zu Schlimmerem, als wenn das wirklich geschähe. Denn wie Ihr auch Eure Meinung sorgsam verklausuliert, so höre ich doch deutlich heraus, daß es Euch nicht unlieb wäre, wenn der Bund sich auflöste und somit alle seine Glieder frei gäbe. Dann allerdings hätte kein einzelnes mehr Gelegenheit, sich schwach zu erweisen.«
»Ihr könnt meine Worte dreist nehmen, wie ich sie spreche, Herr Tileman«, antwortete Blume sehr ruhig und bestimmt. »Solange der Bund nach Beschluß der Mehrheit besteht, will ich mich von der gemeinsamen Sache nicht sondern, es sei denn, daß etwas Unrechtes gegen die Herrschaft unternommen werden sollte. Hoffe aber zu Gott, daß solche Gedanken allen Gliedern des Bundes fern. Es ist männiglich bekannt, daß die Stadt Marienburg dem Orden treu anhängt, und ist auch kein Geheimnis im Lande, welcher Gesinnung ich selbst bin und stets gewesen bin. Ich wollte, wir wären niemals genötigt worden, den Bund zu schließen. Doch ist's vor zehn Jahren um merklicher Ursachen wegen geschehen, in Notwehr gleichsam, da der Orden dem Lande seine Versprechungen nicht gehalten hatte und seine Untertanen zu vergewaltigen drohte, um ohne ihre Einwilligung Steuern erheben und sich gegen Polen zu neuem verderblichen Kriege rüsten zu können. Da sind die Genossen unter den Rittern und Knechten des Landes mit den Städten zusammengetreten und haben dieses Verbündnis aufgerichtet, einander gegen ungerechten Angriff ihrer Privilegien beizustehen und gemeinschaftlich ihr Recht zu vertreten. Doch unbeschadet des Rechts der Herrschaft. Dazu hat uns damals der Herr Hochmeister und der größte Teil seiner Gebietiger und Ritter für wohlbefugt erachtet. Sind auch bemüht gewesen, unsere Beschwerden abzustellen, soviel in ihrer Macht war. Damit, so mein' ich, hat der Bund erreicht, was seines Zusammenschlusses Zweck war. Ist uns nun seit Jahren keine Klage über gewalttätiges und ungerechtes Regiment gegeben, sondern von unsern Herren der Frieden erhalten und das Land wieder zu Wohlstand gebracht, so scheint es mir billig, daß auch wir zur alten Ordnung der Dinge zurückkehren und nicht ohne Not unsere Wehr aufrechthalten, da uns doch niemand etwas zuleide tut. Sollte es künftig geschehen, so stände es ja doch wieder bei uns, den Bund zu erneuern und ihm, wenn erforderlich, noch mehr Stärke zu geben.«
Herr Tileman vom Wege hatte sehr ungeduldig zugehört, mit den Mundwinkeln gezuckt und mit den Fingern auf dem Tisch getrommelt. »Ihr sprecht recht wie ein Kind, Herr Barthel Blume«, rief er, »dem man mit einem roten Apfel oder einer Zuckernuß die Tränen trocknet. Sind wirklich unsere Beschwerden abgestellt? Ich weiß nichts davon. Der Orden hat sich wohl gehütet, zu neuen Anlaß zu geben, und auch das soll ihm gedankt sein, aber die alten sind nicht beseitigt. Ich will nicht groß Geschrei erheben wegen des Schadens, der dem einzelnen während des polnischen Krieges durch Brand seiner Gebäude und Raub seiner fahrenden Habe zugefügt ist, den der Landmann von den Ordensmühlen und der Städter von des Ordens Kaufschlagen erlitten hat und täglich noch leidet; aber was das ganze Land angeht, sollt' Euch füglich eine wichtige Sache dünken. Hat nicht der Hochmeister Heinrich von Plauen schon zugesagt, einen Landesrat einzusetzen und in denselben außer seinen Gebietigern auch Ritter und Knechte des Landes aufzunehmen, denen er Vertrauen schenke, und Vertreter der großen Städte? Ist diese Zusage nicht vor zwanzig Jahren erneuert und die Zahl der Gebietiger und weltlichen Leute festgesetzt und ihre Befugnis in des Herrn Meisters Rat geordnet und dem Lande verbrieft, daß keine Abgabe oder Schoß erhoben werden sollte ohne des ganzen Landes Bewilligung? Und ist uns nicht mit feierlichen Worten zugesagt, es solle fortan jährlich ein Richttag sein, an dem ein jeder gegen die Obrigkeit wegen Verletzung seiner Rechte und Privilegien Klage führen könne und gehört werden solle? Was ist uns davon gehalten bis in die jüngste Zeit? Nichts, soweit ich der Sachen kundig. Der Herr Hochmeister hat zwar, wenn es ihm gefiel, einzelne von den Landesrittern und Bürgermeister der Städte als seine geschworenen Räte um ihre Meinung befragt, wie er auch mich jetzt zu sich beruft, aber ein Landesrat, der des Ordens Heimlichkeit weiß und zu dem wir ein gutes Recht haben, besteht nicht; sondern der Herr Hochmeister erledigt nach wie vor alle Sachen des Landes wie des Ordens mit seinen obersten Gebietigern allein. Der Richttag aber ist von Jahr zu Jahr verschoben und soll am liebsten ganz in Vergessenheit kommen, denn die Herren wollen nicht, daß über sie zu Gericht gesessen werde, sie mögen im Recht oder Unrecht sein. Wollt Ihr nun einwenden, es sei nichts zum Schaden des Landes, gar manches aber zu dessen Wohlfahrt geschehen, so antworte ich: das ist dem Bunde zu danken. Weil der Orden ihn fürchtete, hielt er sich selbst in Schranken. Nun heißt's: was hat der Bund zu tun? Darauf antwort' ich: er ist da, das ist genug. Tut ihn ab, und Ihr sollt Euch über der Herren schnellen Übermut verwundern. Wenn Ihr aber sagt: dann ist's Zeit, ihn von neuem aufzurichten, so antwort' ich Euch zum dritten: Ihr kennt der Welt Lauf nicht. Was Ihr heute haben könnt, könnt Ihr nicht ebensogut morgen haben. Es muß viel guter Zufall zusammentreffen, damit ein großes Werk gelingt, und zum zweitenmal gelingt's nicht wieder, wenn auch nur zum Unterbau eine kleines Steinchen fehlt. Des Landes Bedrängnis durch den Feind, des Hochmeisters Schwäche, des Kapitels Ratlosigkeit, Geldnot, Mißwuchs, Handelsstockung, der Unterdrückten verzweifeltes Geschrei, der Mutigen rasche Entschlossenheit – es lag in der Zeit und kehrt so nicht zurück. Der Bund ist nicht wie ein Schild, den man heut aus der Hand legt und morgen wieder aufnimmt. Er ist ein Kettenpanzer, aus hundert Ringen zusammengesetzt, jeder einzelne schwach, gesamt undurchdringlich. Nehmt sie voneinander, und Ihr habt ein loses Häuflein von Gliedern, aber keinen Panzer mehr. Und ob Ihr ihn je wiederherstellt, ist die Frage. Nein, nein, wir haben den Bund und wollen ihn behalten, weil wir ihn haben, er mag im Augenblick nützlich oder unnützlich sein. Er besteht zu Recht. Das ist eine gar vornehme Eigenschaft, und um die wollen wir ihn nicht bringen!«
Er stand auf und durchmaß das Zimmer mit raschen Schritten, schnaufend und mit der Hand gestikulierend. Blume hatte das Kinn auf die Brust sinken lassen und blickte nachdenklich vor sich hin auf die Erde. »Und Ihr wollt also dem kranken Herrn Hochmeister nicht aufwarten?« fragte er nach einer Weile.
»Dazu kam ich auf Euer Schreiben her«, entgegnete der Thorner, »nachdem ich den Rat meiner Stadt verständigt, damit man von mir nichts Schlimmes denke. Ich will hören, was der Herr Hochmeister, den ich für seine Person von Herzen verehre, mir zu sagen hat, und ich will ihn mit Antwort so gut bedienen, als ich vermag. Aber ich verhoffe mir für uns beide keinen Erfolg davon.«
Der Bischof schickte aus dem Schloß einen Boten mit der Meldung, daß jetzt günstige Zeit sei, dem Herrn Hochmeister den Besuch abzustatten. Blume hatte ihn von der Ankunft des Thorner Bürgermeisters benachrichtigt. »Es gefällt mir nicht, daß der Bischof seine Hand im Spiel hat«, sagte dieser verdrießlich, warf aber doch den Mantel um.
»Ohne seine Vermittlung würdet Ihr schwerlich in die Krankenstube eingelassen werden«, meinte Blume. »Mich wundert schon, daß es mit ihr gelingt. Ich bitt' Euch, Herr Tileman, laßt Euch durch nichts aufregen und bedenkt des Herrn Hochmeisters Schwachheit.«
Er streichelte ihm dabei leicht die Schulter. Der Thorner Bürgermeister nickte flüchtig mit dem dicken Kopf, fand aber eine weitere Zusicherung nicht für erforderlich und verließ gleich darauf mit des Bischofs Diener das Haus. Bartholomäus Blume hatte ihn bis in den Flur begleitet und stieg nun die Treppe in den ersten Stock hinauf, wo er des Gastes Sohn, Jost vom Wege, in munterem Gespräch mit den Frauen fand. Der junge Mann ähnelte seinem Vater weder in Gestalt noch Gesichtsbildung. Er war über Mittelgröße, schlank und von männlicher Schönheit. Um die vollen Lippen keimte der erste Bart, mit dem sich die schlanken Hände viel beschäftigten. Die munteren Augen zeigten die Lebhaftigkeit seines Geistes und die Leidenschaftlichkeit seines Gemüts an; sie schienen an Magdalenens zierlicher Gestalt viel Wohlgefallen zu finden und kehrten, so beweglich sie waren, immer wieder dahin zurück. Das schien dem Fräulein nicht unbemerkt zu bleiben und auch nicht unlieb zu sein; das runde Gesichtchen glühte purpurn, und die Garnwinde kam öfters ins Stocken. Jost vom Wege wußte aber auch so prächtig zu unterhalten. Trotz seiner jungen Jahre war er in den Handelsgeschäften seines Vaters schon weit gereist, wiederholt in der westfälischen Heimat, am Rhein, in Dänemark und England, in Polen und Ungarn gewesen. Er wußte von Köln, von Brügge, von London, nicht weniger interessant von Warschau und Wien zu erzählen; selbst in Venedig war er einmal gewesen und schilderte mit beredten Worten die beschwerliche Reise über die Alpen wie die Wunder der Lagunenstadt. Auch sein Anzug schon kennzeichnete den Großstädter. Er trug das Wams und die Hose geschlitzt, die Strümpfe von verschiedener Farbe, die Schuhe geschnäbelt und das Mäntelchen verkürzt, nicht zwar geckenhaft die Mode des Tages übertreibend, aber doch nicht unauffällig in ihr glänzend. Ein Marienburger Bürgersohn hätte sich so nicht auf der Straße zeigen dürfen, und vielleicht waren Erscheinungen dieser Art auch in Thorn noch selten. Aber dem weitgereisten Patriziersohn aus der reichen Weichselstadt mochte es gar nicht unbequem sein, von den Leuten, wo er ging und stand, angegafft zu werden. Und die bunte Tracht kleidete ihn gut. Das gestand sich im stillen Wohl auch Magdalene ein. An seiner Seite über den Markt zu gehen, wäre schon ein rechtes Sonntagsvergnügen gewesen.
Sie sah ihn heut nicht zum erstenmal. Es bestand zwischen den Familien seit Jahren schon ein freundschaftlicher Verkehr. Herr Tileman vom Wege hatte seinen Sohn öfters zu Tagfahrten nach Marienburg mitgenommen, um ihn mit den angesehensten Sendeboten der Städte bekannt zu machen und in die auf die öffentlichen Angelegenheiten bezüglichen Geschäfte einzuführen. Er liebte ihn sehr und hoffte sich in ihm einen Nachfolger im Rate der Stadt Thorn und im Bunde zu erziehen. Obschon ein wenig älter als Marcus Blume, hatte Jost sich doch gern zu ihm gesellt und es an Einladungen nach Thorn nicht fehlen lassen, die denn auch gern angenommen wurden. Bei mancher Verschiedenheit in Wesen und Neigungen hielten sie sich doch selbst für gute Freunde und galten ihren Vätern dafür, Marcus ordnete sich in seiner freundlichen Weise willig unter, ohne doch von seinen strengeren Sitten mehr nachzulassen, als vorübergehend die Gefälligkeit im Umgang mit dem leichtlebigeren Kameraden gebot, und Jost wußte seine Zuverlässigkeit und Biederkeit zu schätzen, fühlte sich auch gern als der überlegene Teil und suchte ihn schon seiner hübschen Schwester wegen in guter Stimmung zu erhalten, die er in seiner Gesellschaft aufsuchen konnte, so oft es ihm beliebte.
Magdalene war ein munteres Kind gewesen, als Jost ihr zum erstenmal begegnete, selbst noch ein nicht ausgewachsener junger Mensch und immer zum Tollen aufgelegt. Dann kam eine Zeit, in der die Mutter sie von dem Verkehr mit den beiden Burschen zurückhielt, wie Jost meinte, »vor ihm versteckte«. Er ärgerte sich über sie, weil sie sich am Gängelband halten ließ und ihm gar nicht ein wenig entgegenkam, und es war ihm nun wirklich kein großer Schmerz, sie ein Jahr und länger nicht wiedersehen zu können, als sein Vater ihn auf eine weite Reise schickte. Als er dann aber nach der Rückkehr zum erstenmal wieder nach Marienburg kam und den Freund aufsuchte, war seine Verwunderung nicht gering, die Knospe zur schönsten Blüte entfaltet zu finden, die irgendwo in der Vaterstadt oder in der Fremde sein begehrliches Auge geschaut. Auch jetzt freilich war ihr Benehmen gegen ihn noch nicht ganz sicher, aber ihre holdselige Schüchternheit und jungfräuliche Zurückhaltung gaben ihr einen Reiz mehr. Er kam wieder und wieder, nicht immer nur in seines Vaters Auftrag, und schien kein größeres Vergnügen zu kennen, als mit dem hübschen Mädchen ein paar Stunden verplaudern oder gar bei einer Festlichkeit im Rathaussaal zum Reigen antreten zu können.
Freilich hütete er sich, in Thorn den Patriziersöhnen, mit denen er täglich umging, zu gestehen, womit seine Gedanken sich beschäftigten. Es galt ihnen als ausgemacht, daß einer der ihrigen nur in dem geschlossenen Kreise der Stadtgeschlechter und Ratsverwandten, allenfalls auch in Danzig oder Elbing freien, nie und nimmer aber sich seine Frau aus einem kleinen Städtchen holen könne. Jost vom Wege war nicht weniger stolz und voreingenommen als sie; er wußte sehr gut, daß man es als eine Kränkung empfinden würde, wenn er die heimischen Ratstöchter unbeachtet ließe. Deshalb erfuhr auch sein Vater nichts von seinen heimlichen Absichten. Er wollte sich nicht einmal selbst eingestehen, daß er heimliche Absichten habe. Das Mädchen gefalle ihm – seines Freundes Schwester – was weiter? Wenn er sie sich zur Frau nehmen wolle, wen gehe es etwas an? Tue er's, so sei er auch der Mann, ihr gegen alle patrizische Hochnäsigkeit der lieben Vaterstadt Anerkennung zu schaffen. Aber er habe Zeit, sich zu bedenken, und es sei seine Art, zu bedenken, was sich in der Welt schicke. Damit machte er sich sicher. Und es kam ihm nun gar nicht mehr sonderlich gefährlich vor, dem hübschen Jüngferchen in die hellen Augen zu sehen, den roten Mund zum Lachen zu bringen, die weiche Hand zu streifen und den Fuß wie zufällig auf den Saum des langen Kleides zu setzen.
Er hatte ja auch Zeit. So jung er noch war –! Und Magdalene erst –! Von seinen Jugendgespielen in Thorn war freilich der eine und der andere schon vor den Altar der Marienkirche getreten – das Bündnis wurde von den Eltern vorbestimmt – und manche von ihren Gespielinnen unter den Marktlauben mochte schon Braut geworden sein. Aber warum sich so früh binden? Konnte er nicht in den Familien seines Umgangs die Erfahrung machen, daß so junge Eheleute einander bald gleichgültig oder wohl gar überdrüssig wurden? Und hatte Magdalene so große Eile, den ersten Besten zu nehmen, nur um bald unter die Haube zu kommen? Sie sah gar nicht so aus, als kümmere sie sich um irgendeinen anderen mehr als um ihn.
Um ihn aber doch? Er glaubte es gern. Und es mochte wohl auch Zeichen geben, die ihm verständlicher waren als selbst ihren nächsten Angehörigen. Der wackere Bürgermeister wenigstens und seine gute Frau taten, als ob sie nichts merkten, und ließen den Dingen ungehindert und ungefördert ihren Lauf. Marcus freilich hatte manchmal gemeint, dem Freunde ins Herz zu sehen. Es war aber nicht seine Art, unaufgefordert über etwas zu sprechen, das der andere anscheinend als ein Geheimnis hütete. Er sehnte, so lieb er ihn hatte, auch nicht einmal das frohe Ereignis heran. Denn noch lieber hatte er seine Schwester, und ein unbestimmtes Gefühl warnte ihn, ihr vorschnell solches Glück zu wünschen, das leicht in Kümmernis umschlagen könnte.
Jost war von früher Jugend her daran gewöhnt, alles, was ihn bewegte und bedrängte, mit sich allein auszumachen. Seine Mutter war gestorben, als er noch ein Kind war; seine ältesten Erinnerungen reichten nur verschleiert an eine hohe und sehr schöne Frau heran, in deren Schoß er den Kopf gelegt, damit sie sein Haar streichele, die ihn abends zu Bett gebracht und Beten gelehrt. Er wußte das Kindergebet noch, und wenn er's sich bei geschlossenen Augen vorsprach, war's ihm, als ob die Gestalt weniger schattenhaft um ihn hinschwebte. Von seinem Vater war er als Knabe sehr ungleich behandelt worden, manchmal in übergroßer Strenge, dann wieder mit übergroßer Zärtlichkeit. Zu einer vertrausamen Annäherung hatte er selten den inneren Drang gefühlt, und meist, wenn er sie versuchte, war er zur unrechten Zeit gekommen. Etwas Finsteres und Ungemütliches in dem Wesen des vielbeschäftigten Mannes hielt ihn in scheuer Entfernung. Erst als er zum Jüngling heranwuchs und für die öffentlichen Angelegenheiten Teilnahme gewann, sah er sich enger herangezogen. Nun erkannte er aber auch, daß seines Vaters ganzes Denken von der Sorge um die Stadt und den Bund in Anspruch genommen war. Der Sohn wurde ihm teuer als Gesinnungsgenosse, als Mitstreiter, als Erbe seiner politischen Pläne, die sich vielleicht erst in der folgenden Generation ganz verwirklichten. Für den Austausch herzlicher Gefühle blieb da kaum Raum. Geschwister hatte Jost nie gehabt. So war er verschlossen und rückhaltend geworden, so offen er sich auch zu geben schien. Es reizte ihn, zu seinem Innersten allein den Schlüssel zu haben; er meinte da jederzeit ein- und auslassen zu können, was er sich zuträglich und unzuträglich hielt. Und noch war er mit sich selbst nicht einig, ob ihn seine Neigung zu Magdalene mehr beglückte oder beunruhigte.
Magdalene selbst strengte ihr Köpfchen wenig mit Nachdenken darüber an, was die Zukunft bringen oder versagen könne. Jost vom Wege war ihr, solange sie überhaupt auf das Schlagen ihres kleinen Herzens merkte, der einzige Mensch gewesen, in dessen Nähe ihr Blut lebhafter in Wallung kam. Sie wäre kein junges Mädchen gewesen, wenn ihr hätte entgehen können, daß Jost sich Mühe gab, ihr zu gefallen – in ganz anderer Weise zu gefallen, als er's sonst wohl erstrebte. Und er gefiel ihr nur zu gut und jedesmal besser. Nicht daß sich schon ein leidenschaftlicher Wunsch in ihr geregt hätte, ihn zu besitzen – das hätte sie nur geängstigt –, aber es wurde ihr immer gewisser, daß er ihretwegen kam und blieb und alle liebenswürdigsten Seiten seines Wesens vorkehrte, daß er jeden Abschied schwer empfand und nach jeder Trennung mit unveränderter Gesinnung ihr zum frohen Willkomm die Hand reichte. Das war ein sehr beseligendes Gefühl. Aber nicht einmal ihrem Beichtvater brauchte sie darüber Rechenschaft zu geben. Es war ganz unschuldig, gang unaussprechlich, ganz nur ein noch unfaßliches Glück verheißende Erwartung. Sie rechnete nicht mit Tagen, Monden oder Jahren, nur mit Augenblicken. Und sie waren so schön!
Es kam ihr diesmal sehr unverhofft. Tileman vom Wege hatte seinen Sohn nach Marienburg mitgenommen, um für alle Fälle jemand bei der Hand zu haben, der geheime Aufträge nach Thorn befördern könnte, wenn die Verhandlungen mit dem Herrn Hochmeister sie erforderlich machen sollten und seine eigene Rückreise wegen der etwa in nächster Zeit zu erwartenden Ereignisse sich verzögern müßte. Jost hatte an diesem Morgen Magdalene, als sie zur Begrüßung der Gäste eilig die Treppe hinunterkam, liebreizender gefunden als je. Alle seine Bedenken waren zum Schweigen gebracht. Hätte er nur ein halbes Stündchen mit ihr allein bleiben können, wer weiß, ob er ihr nicht das entscheidende Wörtlein gesagt haben würde. Um so eher, als er hörte, daß Marcus verreist sei – über Zweck und Ziel der Reise wurde gar nicht gesprochen – und eine Störung von seiner Seite also nicht zu befürchten gewesen wäre. Aber die Mutter hielt diesmal ihren Platz am Spinnrocken beharrlich fest und schickte zu kleinen Besorgungen in der Wirtschaft lieber das Töchterchen hinaus. So konnte Jost nur sein verliebtes Spiel versteckt weitertreiben. Verrieten ihm doch zu seiner freudigsten Genugtuung die glühenden Wangen und verschämten Blicke des Mädchens, daß er ganz nach Wunsch verstanden wurde. Nun kam auch noch Herr Bartholomäus Blume in den Söller hinauf, setzte sich in den Lehnstuhl am Ofen und begann ein Gespräch über den Thorner Handel und der Danziger Bemühungen, ihn von der direkten Seeverladung auszuschließen. Da ließen sich denn nicht einmal mehr die Heimlichkeiten weiterspinnen.
Tileman vom Wege war des Bischofs Diener durch die Stadt und den Weg um das Schloß herum bis zum Pfaffenturm gefolgt. Dort wartete Franziskus auf ihn.
»Ich danke Euch«, sagte derselbe, »daß Ihr gekommen seid, des Herrn Hochmeisters letzten Willen zu hören. Denn als ein Sterbender betrachtet er sich. Wir freilich wollen noch nicht alle Hoffnung aufgeben, daß er wieder zu Kräften komme und dem Lande lange noch einen schier unersetzlichen Verlust spare. Viel möget Ihr selbst dazu beitragen können, da es ja bekannt ist, wie belebend Freude wirkt. Könntet Ihr ihm eine frohe Zusage machen, daß fortan aller Streit und Hader im Lande –«
»Ich will hören, was der Herr Hochmeister mir zu sagen hat«, unterbrach Tileman unfreundlich. »Wir beide, hochwürdigster Herr, könnten uns schwerlich über die Dinge verständigen, auf die Ihr zu deuten beliebt. Auch ich bin zu Euch nicht berufen. Führet mich ohne Zeitverlust an Ort und Stelle.«
Der Bischof strich sich das spitze Kinn mit dem Rücken der hageren Hand. »Ihr habt wahrlich keinen Grund«, bemerkte er, »so vorsorglich einem Vorausgespräch mit mir aus dem Wege zu gehen. Man kennt ja Eure Festigkeit und Beharrlichkeit – ich bin weit entfernt zu hoffen, daß ich Euch umstimme, wenn Ihr in der Absicht hierhergekommen seid, auf friedfertigen Zuspruch nicht zu achten. Aber wie dem auch sei – ich bin bereit, Euch sogleich zum Herrn Hochmeister zu führen, sobald es Euch gefallen hat, in diese schon parat liegende Mönchskutte zu schlüpfen.«
»In eine Mönchskutte?« fragte Tileman verwundert.
»Sie wird Euch unkenntlich machen und als einen Pater erscheinen lassen, den ich zu meiner Begleitung mitnehme.«
»Aber warum soll ich unkenntlich sein?«
»Sagt Ihr Euch das nicht selbst? Die Krankenstube des Herrn Hochmeisters ist von den obersten Gebietigern bewacht. Nun hat der Kranke zwar mir das Verlangen geäußert, Euch zu sprechen, aber seiner Gebietiger Rat darüber nicht einholen wollen. Ihr mögt selbst bedenken, weshalb. Seid Ihr doch allezeit ein scharfer Gegner des Ordens gewesen. Soll der Herr Hochmeister Euch nun ohne Zeugen sprechen können, so muß ich Euch heimlich einführen. Beliebe es Euch also, wenige Stunden die graue Kutte zu tragen, die Euch wahrlich nicht zum Mönch macht.«
Tileman schüttelte den struppigen Kopf. »Ew. Gnaden wollen mich da zu einem Versteckspiel verleiten, wozu ich nach meiner ganzen Beschaffenheit doch nichts tauge. Ich habe keinen Grund, mein ehrliches Gesicht zu verbergen und ein anderer zu erscheinen, als ich bin, weder anderswo noch in dieser Burg. Wollet mir also verzeihen, wenn ich es mit aller Entschiedenheit ablehne, mich wie ein Füchslein einzuschleichen.«
»Ihr nennt's so, vergesset aber, daß man Euch im Bau erwartet und dankbar sein wird, wenn Ihr unerkannt bleibt. Ich wüßte auch wahrlich nicht, wie ich Euch anders in die Krankenstube einbringen könnte.«
»So laßt mich draußen bleiben«, rief der Thorner Bürgermeister ohne Besinnen. »Ich hab' mich nicht mit Bitten an den Herrn Hochmeister gewandt, mich an sein Bett zu lassen, damit ich ein heimliches Anliegen vorbringe, sondern ich bin zu ihm gerufen, ihm mit Rat zu dienen, wie er ihn begehren mag. So hab' ich mich mit schuldigem Gehorsam eingefunden und stehe vor dem Schloß, ob man mich einlassen wolle. Geschieht's nicht, so geh' ich ebenso gern wieder nach Hause, und soll mich die unnütze Reise nicht verdrießen.«
»Ihr seid ein Eisenkopf«, schalt der Bischof, »und gefallet Euch darin, der Klugheit keinen Schritt nachzugeben. Wie nun, wenn der Großkomtur fordert, der Unterredung beizuwohnen?«
»Mag der Herr Hochmeister sich seiner erwehren, wenn's ihm nicht genehm ist. Ich für meinen Teil habe keine Heimlichkeiten und will auch nicht, daß man mich in solchen Verdacht bringt.«
Franziskus sah ein, daß mit ihm nichts nach seinen Wünschen auszurichten sein würde, und schickte sich seufzend an, nach dem Schloß vorauszugehen.
»Folgt mir denn langsam«, bat er, »wie Ihr steht und geht; ich will zusehen, wie ich Euch den Weg frei mache.