Ernst Wichert
Der Bürgermeister von Thorn
Ernst Wichert

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Sechstes Kapitel

Waldfrau und Waldfräulein

An demselben Tage noch gegen Abend brachte Marcus Blume die Waldfrau und ihre Tochter wohlbehalten nach Marienburg.

Es war ihm eine herrliche Zeit gewesen, da er von früh bis spät in der Nähe des schönen Mädchens sein konnte, das ihn von Stunde zu Stunde mehr fesselte. Ursula war die Munterkeit und geistige Beweglichkeit selbst. Sobald sie erst den Wald verlassen hatten, war ihr alles, was sie sah, neu und bewundernswert. Immer hatte sie zu fragen, und nie war ihr eine Antwort ausgiebig genug. Marcus sollte wissen, wer in jedem Hause am Wege wohne, jeden Vorübergehenden beim Namen kennen. Die langen Dörfer mit ihren stattlichen Höfen und der Kirche in der Mitte, die ummauerten Städte mit den vielen Türmen, die Schlösser des Ordens, die bunten Trachten des Landvolkes, vor einem Jahrhundert aus den verschiedenen deutschen Heimatsstätten mit hierher genommen und treu bewahrt, alles nahm ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Wie staunte sie erst über die Stadt Elbing, deren breite, von hochgiebligen Häusern eingefaßte Straßen sie von Tor zu Tor durchritten. Sie fing an, die Menschen zu zählen, die da geschäftig die Bürgersteige auf und ab gingen, konnte aber damit nicht fertig werden. Die Speicher am Fluß, die Fahrzeuge auf demselben, die Lastträger und Schiffer in ihrer eiligen Geschäftigkeit erregten ihr Staunen. Die letzten Meilen ritten sie durch ganz ebenes, von vielen Gräben durchzogenes Land. Die Weide war der einzige Baum, der sich da blicken ließ. In dem schon von den Herbstregen aufgeweichten Moorboden blieben manchmal die Pferde stecken. Aber schon hob sich bei jedem Schritt deutlicher das Schloß Marienburg mit seinem schlanken Wartturm auf dem Nogatufer gegen den nebelgrauen Himmel ab. Wie jauchzte Ursula auf, als sie an der äußeren Chorwandung der Kapelle das Riesenbild der Mutter Gottes erkannte, wovon Marcus so viel erzählt hatte. Sie wollte nicht glauben, daß es aus lauter kleinen buntfarbenen Glasstiften künstlich zusammengesetzt sei. Nun konnte sie auch alle Türme der Stadt und der Burg zählen. Marcus zeigte ihr ein hochragendes Spitzdach: das gehöre zum Rathaus; und nicht weit davon stehe seines Vaters Haus.

In dem letzten Dorfe vor der Stadt, ganz nahe derselben, machte Frau Regina Halt. Sie wollte nicht in Marienburg einreiten, sondern hier draußen in einem Bauernhause für sich und ihr Kind Herberge erbitten. Marcus suchte ihr dies vergeblich aus dem Sinn zu reden. Da sie nun fest blieb, schaffte er ihr beim Schulzen ein möglichst bequemes Unterkommen, was ihm nicht schwer wurde, da das Dorf zur städtischen Feldmark gehörte und der Sohn des Bürgermeisters den Bauern eine Respektperson war. Frau Regina bat ihn, ihre Ankunft recht schleunigst aufs Schloß zu melden, da sie am andern Morgen mit dem frühesten wieder nach ihrer Waldheimat aufbrechen wolle. »Warum eilt Ihr aber so, werte Frau?« fragte er traurig. »Ich hatte gehofft. Ihr würdet Euch hier von den Mühseligkeiten der Reise einige Tage recht ausruhen. Vergesset auch nicht, daß ich zu Hause ein Schwesterchen habe, das begierig sein wird, Ursula zu sehen. Kann ich Euch nicht bewegen, meine Eltern zu besuchen, so wollet doch Ursula nicht hindern, mich zu ihnen zu begleiten. Ich bürge dafür, daß sie wohlbehalten zu Euch zurückkehrt.«

»Ich mag mich nicht über die äußerste Not aufhalten lassen«, antwortete Frau Regina. »Sagt dem Herrn Bischof, daß ich nicht länger als eine Nacht hier verweile. Danach mag er sich richten. Auch will ich von niemand gesehen sein außer von dem Kranken. Ursula laß ich nicht gern von mir. Am besten ist's, sie wartet hier auf meine Rückkehr vom Schloß. Doch wüßte ich sie in Eurem Schutz gut aufgehoben und will ihretwegen noch nicht das letzte Wort gesprochen haben.«

Ursula begleitete ihn vor die Tür hinaus, reichte ihm die Hand und sagte: »Die Mutter wird so strenge nicht sein. Das wäre schade, wenn ich so weit über Land geritten sein sollte, um hier vor dem Tor der Stadt umkehren zu müssen! Nein, ich will euer Rathaus und die Lauben und das Schloß sehen – und auch Eure Schwester Magdalena. Die am liebsten. Grüßt sie nur recht schön von mir.«

Marcus konnte nicht müde werden, nach ihr umzuschauen. Das Herz war ihm recht schwer, wenn er bedachte, daß er morgen schon von ihr Abschied nehmen sollte – wer konnte wissen, auf wie lange. Es war ihm zumut, als könnte er sich auch auf eine Stunde nicht mehr von ihr trennen, und er beeilte sich, recht schnell seinen Auftrag auszurichten, um bald wieder bei ihr zurück zu sein. Doch hatte er sich erst im elterlichen Hause zu melden und dem Vater Bericht zu erstatten. Der ging dann selbst aufs Schloß zum Herrn Bischof. Indessen mußte Marcus sich von Mutter und Schwester über den Verlauf der Reise ausfragen lassen. Es war ihm diesmal gar nicht lieb zu hören, daß Jost vom Wege in der Stadt sei und schon auf ihn gewartet habe. Sich jetzt von dem Freunde in Beschlag nehmen zu lassen, wäre ihm sehr lästig erschienen. Er bat Magdalena, ihm nichts von seiner Ankunft mitzuteilen, wenn sie irgend zu verheimlichen wäre; es sei ihm beschwerlich, sagte er, dem Freunde nicht geradeheraus Rede und Antwort stehen zu können, da wolle er lieber gar nicht mit ihm zusammentreffen. Er mochte sich's selbst nicht eingestehen, daß er Ursula am liebsten vor ihm versteckt hätte. Denn er kannte ihn als dreist bei den Frauen und fürchtete, daß er sich dem einfachen Kinde gegenüber etwas herausnehmen möchte.

Blume blieb recht lange aus. Der Bischof hatte allerhand Vorbereitungen zu treffen gehabt, um für die Waldfrau den Zulaß zum Hochmeister zu erlangen, dessen Zustand sich nach der aufregenden Verhandlung mit Tileman vom Wege sehr verschlechtert hatte. Endlich war's ihm aber doch gelungen, alle Hindernisse zu beseitigen. Er schickte einen Priesterbruder mit, der die Frau abholen und ins Schloß führen sollte. Marcus brachte ihn mit einem Wagen nach dem Dorfe hinaus. Er selbst lenkte auf seines Vaters Wunsch die Pferde; es sollte keiner von den Knechten zum Mitwisser gemacht werden. Das Gefährt hatte nur Raum für zwei Personen, den Priester und Frau Regina. Ursula mußte daher schon aus diesem Grunde zurückbleiben. Aber Marcus versprach ihr, er wolle sie hinterher abholen und nach der Stadt bringen. Er hoffte dann mit ihr allein sein zu können.

Frau Regina hatte sich tief verschleiert. Nicht einmal der Priesterbruder sah ihr Gesicht. Auch wurden unterwegs nur wenige Worte gewechselt. Die Fahrt ging durch die Stadt, immer an der Mauer hin, dann am Sperlingsturm vorbei und durchs Schuhtor bis zum Vorhof der Burg. Hier bat der Priesterbruder die Waldfrau abzusteigen und ihm nach dem Hochschloß zu folgen. Marcus sollte mit dem Fuhrwerk warten, bis sie zurückkämen.

Der Bischof nahm Frau Regina unter den Schloßlauben in Empfang. Er belobte sie ihrer Folgsamkeit wegen und erteilte ihr den Segen, damit das Werk gelinge. »Hochwürdigster Herr Bischof«, sagte sie, »meine Kunst und Wissenschaft ist gar gering, vertrauet ihr mit Maßen. Dem Tod kein Kraut gewachsen ist.«

»Sehet gleichwohl zu«, bat er, »ob Ihr eins wisset, das ihm zuwider ist. Der Tod tritt wohl öfters an unser Lager und streckt auch schon die Hand aus, entweicht aber wieder, wenn der Leib die Seele festhält. Tut zur Stärkung des Leibes Euer Bestes an diesem Kranken.«

Darauf führte er die Frau bei dem Herrn Hochmeister ein, der im Halbschlaf lag und mit jedem Atemzuge schmerzlich ächzte. Er wollte seinen Arm berühren, um ihn zu wecken, aber Regina winkte ihm, es zu unterlassen. Sie stellte sich seitwärts ans Bett, so daß sie dem Kranken ins Gesicht schauen konnte, und sah ihn eine lange Weile unverwandt an, bis er mit einem tiefen Seufzer die Augen aufschlug. »Ach, ach –«, sagte er leise, »mir träumte von der Sankt-Annen-Kapelle. Ist's schon soweit?«

Als er dann Regina bemerkte, fragte er: »Wer ist das?« Der Bischof beugte sich über ihn und flüsterte ihm zu: »Die Waldfrau, nach der Ihr auf meinen Rat verlangtet. Gestattet, daß sie Euren Zustand untersucht, damit sie Euch das Tränklein bereite.«

Der Hochmeister nickte. »Es ist kein Tränklein mehr das rechte«, sagte er freundlich, »als das mich sanft hinüberschlummern macht in die Ewigkeit. Meine Schmerzen sind sehr groß. Habt aber Dank für Euer Kommen.«

»Gnädigster Herr«, antwortete Regina, »ich bin ein schwaches Werkzeug in der Hand Gottes – sein Wille muß geschehen.«

»Amen, amen«, flüsterte der Kranke.

Sie nahm seine Hand und beobachtete lange den Pulsschlag. Auch hob sie die Decke von seinen Füßen, die sie geschwollen fand. Sie ließ sich die Zunge zeigen und untersuchte genau die Absonderungen des Körpers. Dann kniete sie neben dem Lager nieder und legte das Ohr auf des Kranken Brust und Leib. Nun stellte sie an ihn allerhand Fragen, deren viele er aus dem Munde seiner Ärzte nie gehört hatte, und hieß ihn seine Antwort nochmals bedenken, wenn sie unsicher oder sonstigen Erfahrungen widersprechend schien. Der Meister gewann rasch zu ihr Vertrauen. »Daß ich Euch früher hier bei mir gehabt hätte!« bemerkte er seufzend. »Jetzt ist's wohl zu spät.«

Er suchte dabei von ihren Augen abzulesen, ob doch noch Hoffnung sei. Aber sie veränderte den Gesichtsausdruck nicht, sondern bewahrte ihre Ruhe. »Gnädigster Herr«, entgegnete sie, »Euer Leiden ist mir wohl bekannt und hat auch Euren Ärzten füglich nicht unbekannt geblieben sein können. Haben sie etwas verfehlt, da es noch einzudämmen war, so mag ich deshalb mit ihnen nicht rechten; will mich auch dessen nicht überheben, als ob ich selbst zu rechter Zeit wirksamer hätte eingreifen und so raschen Fortschritt hätte aufhalten können. Jetzt freilich ...«

Sie stockte und wendete sich mit einem bekümmerten Blick dem Bischof zu, der seitwärts in der Fensternische stand und sie gespannt beobachtete. »Verzaget nicht und versucht Eure Heilmittel«, sagte er, »das Gute kommt nie zu spät.«

Frau Regina bewegte die Hand sanft abwehrend. »Ich kann nur wenig tun, hochwürdiger Herr«, entgegnete sie, »die Schmerzen des Kranken zu mildern. Dazu sollt Ihr mich bereit finden. Ich will Euch die Kräuter zu einem Bade schicken, das wiederholt werden kann, wenn es gute Wirkung äußert. Lasset den Bader das Wasser so heiß nehmen, daß seine Hand es noch eben ertragen kann, wenn er sie darin ein Paternoster lang hält. Schlagt dann den Leib in ein Leinentuch ein, das durch kaltes Wasser gezogen ist, und umhüllt ihn mit wollenen Decken. Ich hoffe, der hohe Herr wird danach in einen sanften Schlaf verfallen und viel Schweiß treiben, nach mehreren Stunden aber gestärkt erwachen.«

»Aus dem heißen Wasser in ein naßkaltes Leinentuch –?« fragte der Bischof kopfschüttelnd. »Man sollte meinen, davon mußte ein Gesunder den Tod haben.«

»Ihr irrt«, antwortete die Frau lächelnd, »und könntet Euch leicht selbst durch einen Versuch überzeugen. Hätte der Gesunde aber auch wenig Nutzen davon, so könnte doch der Kranke von dem gleichen Mittel eine große Wohltat verspüren. Ohne Schaden wird es auch ihm sein.« Sie wendete sich wieder zum Hochmeister. »Ich will Ew. Gnaden auch ein Elixier geben, das die Lebensgeister erfrischt und zu besserem Widerstand gegen den körperlichen Schmerz rüstet. Lasset davon einige Tropfen in Euren Trinkbecher gießen, doch nicht mehr als zehn, und trinket davon, wenn Euch eine Schwäche anwandelt.« Sie zog ein kleines Kristallfläschchen aus ihrer Umhängetasche vor und legte es auf das Bett.

Der Bischof nahm es in die Hand und hielt es prüfend gegen das Fensterlicht. »Es ist gar wenig darin«, bemerkte er.

»Das wenige wird zureichen«, antwortete sie, »wenn es tropfenweise gebraucht wird, wie die Vorschrift lautet. Auch kann ich mit mehrerem nicht dienen. Die Sammlung der Materialien und die Zubereitung erfordert vieler Jahre Geduld, denn die Natur hat nur den wenigsten ihrer Erzeugnisse so köstliche Säfte mitgegeben und diese wenigen in kaum spürbarem Maße; auch gelingt der Extrakt nur zu den richtigen Mond- und Sternzeiten – das geringste Versehen vereitelt alle Bemühungen. Noch keinem anderen Kranken teilte ich so viel von diesem erquickenden Elixier zu. Mag es meinem gnädigsten Herrn wohl bekommen!«

Sie spülte den Becher des Hochmeisters aus, füllte ihn halb mit Wasser und halb mit Wein, öffnete den Verschluß des Fläschchens, goß daraus drei Tropfen in die Mischung und ließ den Kranken davon trinken. Ein wundervoller Geruch, wie von Veilchen und Rosen, verbreitete sich rasch durch das ganze Gemach. Bischof Franziskus zog ihn mit begieriger Nase schnuppernd ein und rief entzückt: »Ah – ah! Das ist wahrlich der feinste Duft, an dem ich mich noch jemals gelabt habe. Nun will ich gern glauben, daß Euer Elixier Wunder tut.«

Frau Regina schüttelte den Kopf. »Nicht Wunder, ehrwürdiger Herr – leider nicht Wunder, Gott müßte ihm denn im besonderen Falle solche Kraft verleihen. Versprecht Euch von dem Mittel nicht mehr, als ich gerühmt habe. Es hat keine heilende, nur eine belebende Wirkung für vorübergehende Zeit.«

»Es tut sehr wohl«, sagte der Hochmeister, »und wird mich in diesen letzten Lebenstagen noch oft erquicken. Ich glaube Euch recht zu verstehen, werte Frau: Ihr vermögt keine Hoffnung auf Genesung zu geben. Ich bitt Euch, sagt mir hierin die ganze Wahrheit. Ich bin auf sie gefaßt und möchte mich in aller Ruhe zum Tode vorbereiten und meine letzten Pflichten erfüllen können.«

»Gnädiger Herr«, antwortete Frau Regina leise und zögernd, »wenn Ihr so fragt, so darf ich Euch nicht vorenthalten, daß freilich nach menschlichem Wissen Eure Tage knapp gezählt sind. Gott kann aber ein Wunder geschehen lassen, das all unsere Weisheit zuschanden macht.«

Des Hochmeisters Kinn sank auf die Brust. »Für solche Gnade bin ich ihm viel zu gering«, flüsterte er. »Ich weiß nun, was not tut, und dank Euch, werte Frau, für Euer offenes Wort, Euer Bad mag mich zum letzten stärken.« Er wendete sich mit den Augen dem Bischof zu. »Berufet zu morgen in der Frühe meinen Gebietigerrat hierher an mein Sterbelager, damit ich Abschied nehme. Um weltliche Dinge soll sich dann mein Herz nicht mehr kümmern. Lebt wohl!«

Er schloß die Augen und kehrte das Gesicht der Wand zu. Bischof Franziskus winkte Frau Regina und geleitete sie hinaus. Er war sichtlich sehr niedergeschlagen. »Könnt Ihr nicht irren?« fragte er im Kreuzgange.

»In diesem nicht«, entgegnete sie mit festem Ton. »Er überlebt den nächsten Tag schwerlich. Es war meine Pflicht, ihn vorzubereiten, damit nichts versäumt werde. Die Kräuter schick ich Euch durch den Priesterbruder, wenn er mit mir kommen darf.«

Die Anordnung war bald getroffen. Frau Regina und der Priester bestiegen den Wagen, und Marcus lenkte das Fuhrwerk auf demselben Wege, den er vorhin eingeschlagen hatte, aus der Stadt hinaus, ungeduldig, Ursula recht bald wiederzusehen.

Zu derselben Zeit aber, als er an der Mauer entlang dem Tor zu fuhr, schlenderte Ursula durch die breite Marktstraße am Rathaus vorbei. Sie hatte es allzu langweilig gefunden, draußen zu warten, und beschlossen, der Mutter entgegenzugehen. So war sie, von ihrem treuen Raben begleitet, bis ans Stadttor gelangt. Dort wollte sie umkehren, aber nun trieb doch die Neugier zur Besichtigung der an schweren Ketten hängenden Zugbrücke, des unter dem Torbogen vorlugenden Gatters und des Gewölbes dahinter an. Von dort warf sie einen Blick auf die Straße. Der Torwächter war eben in sein Häuschen getreten und hielt sie nicht auf. Eine kurze Strecke weiter lag eine Herberge der Handwerker, an dem bunt bemalten Schild über der Tür kenntlich. Das mußte sie in der Nähe sehen. Wenige Schritte davon streckte sich ein Arm aus der Mauer vor; die Hand hielt einen großen eisernen Schlüssel mit zackigem Bart – eines Schlossers Zeichen. Dann hatte ein Schuhmacher an langer Stange seine Waren ausgehängt, Schuhe mit Bandschleifen und Pantoffeln von farbigem Leder mit einer Stickerei von Goldfäden. Dann verbreiterte sich das Gäßchen, an der Ecke ragte das Vordach der Schmiede auf zwei Stützen weit hinaus.

Die Gesellen waren, wie die laut tönenden Hammerschläge anzeigten, fleißig bei der Arbeit. Durch die breit offene Bogentür konnte man ihnen zuschauen, wie sie im roten Schein des auf dem Herde flackernden Feuers auf dem Amboß ein Hufeisen formten, das sicher für den Schimmel bestimmt war, dessen Halfter draußen in einem der starken Ringe hing. Schräg gegenüber lärmte ein Böttcher, der Reifen auf ein großes Bierfaß schlug. Ein Brauer hatte einen Steinkrug mit blankem Zinndeckel am Türpfosten aufgehängt und durch den Henkel einen Tannenzweig gesteckt, die Nachbarn aufmerksam zu machen, daß heute hier der Ausschank sei. An manchem Hause zeigte sich ein kleines Kapellchen angebracht: die Mutter Gottes unter dem Baldachin wollte als eine Nachbildung des Marienbildes am Schloß gelten. So war überall etwas zu sehen und zu bewundern. Und nun erst das Rathaus mit seinem hohen, gotischen Giebel, der offenen Gerichtslaube und den Steinfiguren der Türbrüstung! Ursula vergaß ganz das Umkehren. Langsam, immer rechts und links blickend, durchwanderte sie die ganze Stadt. Wer ihr begegnete, blieb nach einigen Schritten stehen und musterte die Fremde in ihrer sonderbaren Tracht mit dem schwarzen Vogel, den sie auf der Hand trug. Aber sie achtete nicht weiter darauf, als daß sie jeden freundlich grüßte.

So gelangte sie bis zur Laufbrücke am Dietrichsturm, wagte sich nun aber doch nicht hinüber, sondern setzte sich auf die Stufen, um ein wenig auszuruhen. Sie plauderte mit ihrem Raben, indem sie ihn streichelte: »Ja, ja, mein Alter, so klug du sonst bist, hier kannst du mir doch nicht den Weg weisen. Wenn du einmal auf das hohe Dach fliegen und ausspähen wolltest, wo die Mutter geblieben ist; hätte ich nur deine Flügel, ich wüßt's bald! Der Wagen kann hier nicht gefahren sein. Wer zeigt uns den Weg an? Gehen wir lieber nicht weiter. Wir werden verirren und am Ende gar nicht mehr aus der Stadt herausfinden. Das Schloß freilich sähest du innen gewiß gern, wirst dich aber doch gedulden müssen, bis Freund Marcus uns einführt. Er hat's versprochen und hält Wort. Wenn er uns so in der Nähe wüßte, er käme sicher, uns abzuholen. Nun ahnt er nichts von unserer Heimlichkeit und kehrt wohl gar vor uns zurück. Nein, das darf nicht geschehen. Komm! Wir wollen eiligst nach Hause laufen.«

Sie hatte gar nicht bemerkt, daß sie aufmerksam von einem jungen Manne beobachtet wurde, der ihr gefolgt war und nun seitwärts an der Grabenmauer stand, keinen Blick von der sonderbaren Erscheinung abwendend. Es war Jost vom Wege. Er hatte eben des Bürgermeisters Haus verlassen, ein wenig geärgert, daß man ihm über Marcus keine sichere Auskunft schien geben zu wollen. Nun gedachte er nach der Vorburg zu gehen, um des Büchsenmeisters Sohn aufzusuchen, der ihm wohlbekannt war. Die fremde Gestalt fiel ihm sogleich in die Augen. So aufgelöst trug keine Marienburgerin das Haar; so ließ keine den weiten Mantel von der linken Schulter fallen, um ihn, unter dem Arm fest angezogen, mit dem Zipfel über die rechte zu werfen; eine Pelzkappe von diesem Schnitt, mit Adlerfedern besteckt, war hier nicht gebräuchlich, kleidete aber gut. Und was für ein Vogel war das, den sie wie einen Falken auf der Hand trug, mitunter auffliegen ließ und gleich wieder an sich lockte? Er ging ihr in kurzer Entfernung nach und hielt sich zur Seite, um auch von dem Gesicht etwas erhaschen Zu können. Das war nun ganz nach Wunsch gelungen, als sie sich auf die Treppe zur Laufbrücke setzte. Welche wundersame Schönheit ohne Regelmäßigkeit der Form! Noch nie glaubte er eine so leuchtende Stirn, ein so sprechendes Auge, ein so zierliches Näschen, einen so lieblichen Mund gesehen zu haben. Eine lange Weile war er ganz in Anschauen versunken geblieben.

Als sie sich nun aber erheben wollte, meinte er keine Zeit verlieren zu dürfen, mit ihr anzubinden. Sie mußte eine Fahrende sein, die vermutlich mit einer Gauklerbande hierhergekommen war, um im Schloß ihre Künste zu zeigen, eine Seiltänzerin vielleicht oder die Besitzerin eines Wundertieres. Ein kleines Abenteuer möchte da leichter Gewinn sein. Er trat deshalb auf sie zu, zog die Kappe ab und sagte: »Ihr scheint fremd hier, mein schönes Fräulein. Erlaubt, daß ich mich in Euren Dienst stelle.«

Ursula blickte erschreckt auf und musterte den Dreisten rasch von Kopf zu Füßen. »Wohl bin ich hier fremd«, entgegnete sie kühl abweisend, »aber Eures Dienstes bedarf ich nicht. Wartet ab, bis ich ihn erbitte.«

»Warum wollt Ihr so stolz ablehnen, was ich Euch aus gutem Herzen entgegenbringe?« fragte er, ohne sich beirren zu lassen. »Ich bin auch nicht ein Bürgersohn dieser Stadt, weiß aber da und im Schloß gut Bescheid und könnte Euch gewiß nützlich sein. Von woher kommt Ihr?«

Der freundliche Ton dieser Ansprache und die noch immer ehrerbietige Haltung stimmten sie vertrausamer. »Wir kommen aus dem Walde«, antwortete sie ein wenig zögernd, »und kennen hier niemand.«

Er lächelte. »Aus dem Walde! Das ist eine Auskunft, die mich wenig klüger machen kann. Es gibt viel Wälder in aller Herren Länder.«

»Aus unserm Walde dann«, ergänzte sie, ihn verwundert anblickend, wie ihm diese Antwort nicht genügen könne.

»Aber welcher Wald ist der Eure?« fragte er dreist weiter. »Ich kann es unmöglich wissen.«

Sie zuckte die Achseln. »Der Wald, in dem wir wohnen. Wie kann es ein anderer sein?«

»Das schöne Fräulein will seinen Scherz mit mir treiben«, bemerkte Jost, mit den Augen blinzelnd und sein feines Bärtchen zupfend. »Ich weiß wohl, was für Leute im Wald wohnen, wennschon ich ein Städter bin, habe aber noch nie eines Köhlers oder Beutners Kind gesehen, das Euch geglichen hätte. Freilich glüht Euer Haar wie feurige Kohle und ist Eure Stimme süß wie Honigseim. Und man erzählt den Kindern auch, daß Feen im Walde hausen. Zu denen müßt ich Euch zählen. So erführ' ich denn gar zu gern, wo der Wald gelegen ist, der Euch herbergt.«

Ursula wendete sich scheu ab. »Eine Waldfee hab' ich noch nie gesehen«, sagte sie ganz ernst, »und glaub auch nicht, daß sie schon irgendein Mensch gesehen hat, obgleich die Märchen davon erzählen. Wie sie spricht, weiß ich nicht; das rote Haar aber möget Ihr eher einer Hexe vorwerfen –«

Jost vertrat ihr den Weg. »Wie könnt Ihr mich so mißverstehen«, rief er. »So herrliches Haar sah ich noch nie bei einem Weibe, blond mit solchem Goldschimmer! Verglich ich es mit der feurigen Kohle, so geschah's, weil eben, da ich zu Euch sprach, die Sonne hinter dem Turm vorblitzte und einen leuchtenden Schein darauf warf. Bemerkt selbst, wie sogar Eures Vogels schwarzes Gefieder davon rötlich angeglüht ist. Es ist deshalb Euer eigener ungerechter Vorwurf, daß ich Euch etwas vorwerfe, das doch Eure Schönheit ist. Nehmt ihn freundlich zurück und gebt mir offenen Bescheid auf meine offene Frage. Von welchem Wald sprecht Ihr?«

»Ich vermag Euch darüber nichts anderes zu sagen, Junker«, antwortete Ursula beängstigt, »als daß er sehr weit von hier und sehr groß ist. Ich wohne dort mit meiner Mutter, die man die Waldfrau nennt. Wir tun kein Unrecht und hoffen deshalb, auch hier unangefochten zu bleiben.«

Jost schien, nach dem Ausdruck seines Gesichts zu schließen, nun erst recht Zweifel zu hegen. Er verbeugte sich aber dankend und sagte: »Wer sollte Euch hier anfechten wollen? Jedenfalls würde er's sofort mit mir zu tun haben. Gebt Euch in meinen Schutz, und Ihr sollt darin gut aufgehoben sein.«

»Ich bedarf keines Schutzes als dessen meiner Mutter«, entgegnete sie scharf abweisend. »Gebt mir den Weg frei, Junker.«

»Ihr scheint hier auf jemand zu warten.«

»Auf meine Mutter, die ins Schloß gegangen ist«

»Ins Schloß? Was mag sie dort wollen?«

»Das kümmert Euch nicht.«

»Es war ihr wohl unbekannt geblieben, daß der Herr Hochmeister sehr krank ist und die edle Ritterschaft zur Zeit an Vergnüglichkeiten nicht denken darf.«

»Gerade wegen der Krankheit des Herrn Hochmeisters kamen wir her, und was Ihr von Vergnüglichkeiten sprecht, versteh ich nicht. Nochmals – laßt mich gehen, Junker!«

»Ihr werdet nicht umsonst hier angereist sein wollen, schönes Kind. Könnt Ihr den Rittern und ihren Gästen jetzt nicht Kurzweil schaffen, so ist es doch billig, daß sie Euch für den freundlichen Willen durch ein stattliches Viatikum entschädigen. Erlaubt, daß ich im Schloß für Euch spreche, da ich dort gute Freunde habe, die dem Säckelmeister nahestehen. Es soll Euch nicht gereuen.«

Er trat dicht an Ursula heran und bot ihr mit einer zierlichen Bewegung den Arm. Sie aber zog eiligst die Schulter zurück und suchte ausbiegend an ihm vorüber zu entkommen. »Wir brauchen des Säckelmeisters Gabe nicht«, rief sie erzürnt, »sind keine Bettler und spenden eher selbst Almosen an die Armen.«

»So freut es mich, daß Eure Kunst Euch reichlich nährt«, sagte er, indem er ihr mit raschen Schritten folgte und ihre Hand zu fassen suchte. »Laßt mich auch etwas davon sehen. Worauf versteht sich Euer Vogel? Oder wenn hier auf der Straße nicht der rechte Ort ist – nehmt mich mit in Eure Herberge. Ich will dem Wirt schon so die Hand drücken, daß er uns ungestört läßt.«

Ursula blieb stehen und sah ihn aus ihren großen Augen zornig an. »Ihr seid ein Unverschämter«, zischte sie, »geht Eure Wege, oder mein Vogel ...« Sie erhob drohend die Hand, auf der er saß.

Jost ließ sich nicht abschrecken. Ihre Schönheit hatte ihn ganz verzaubert. Er wußte kaum noch, was er sagte und tat. »Ich muß wissen, wer Ihr seid«, rief er, und in seinen Blicken loderte dabei das Feuer der Leidenschaft hell auf, »nicht eher geh ich von Eurer Seite. Gott mag wissen, wann wir einander wieder treffen, nachdem wir diese Gelegenheit versäumt. Ich fühl's aber, daß ich Euch nur zu sehen brauchte, um für Zeit und Ewigkeit an Euch gebunden zu sein. Flieht also nicht vor mir, sondern schenkt mir Euer ganzes Vertrauen, das zu verdienen mein eifrigstes Bestreben sein wird. Folgt mir nach Thorn. Es ist eine große und reiche Stadt, allen Fahrenden ein ersehntes Ziel. Mein Vater ist der angesehensten Bürger einer, und sein Sohn kann Euch dort gut empfehlen. Die Goldgulden sollen Euch in den Schoß regnen! Glaubt mir, durch mich könnt Ihr Euer Glück machen.«

Er überzeugte sich durch einen schnellen Blick nach rechts und links, daß kein Mensch in der Nähe war, drängte sich an sie und wollte ihren Leib umfassen. Ursula aber schlug seinen Arm zurück und schrie: »Marcus – Marcus!« Er stutzte. »Ah! Meint Ihr des Bürgermeisters Sohn? Mit dem nehm ich's noch allemal auf. Aber luftig wär's, wenn ich so hinter seine Schliche käme. Der Duckmäuser!« Er lachte derb, lief hinter ihr her und suchte sie zu haschen. Schon berührte er ihren Arm, als plötzlich der Rabe sein Gefieder sträubte, aufflog und gegen ihn mit Schnabel und Krallen einen Angriff unternahm. Er wehrte ihn mit den Händen ab, aber das wütende Tier riß ihm die Kappe ab und hackte gegen seine Stirn und Augen.

»Ruft den Teufel zurück«, rief er, »oder es geht Euch schlecht.« Er zog seinen Mantel herum und bedeckte damit Kopf und Gesicht.

Ursula war nach der Stadt zu gelaufen und hatte schon einen weiten Vorsprung gewonnen. Sie befahl dem Vogel abzulassen und setzte ihren Weg mit geringerer Eile fort. Bald gelangte sie wieder auf die belebtere Marktstraße. Den ersten, dem sie begegnete, fragte sie, welches des Bürgermeisters Haus sei, und erhielt Auskunft. Dorthin lenkte sie nun unter den Lauben hin die Schritte. Der treue Rabe holte sie bald wieder ein.

Jost hatte die Verfolgung nicht aufgegeben, obgleich seine Stirn blutete. »Hexe«, rief er ihr nach, »schönes Hexlein, du entgehst mir doch nicht!« Er wollte sie wenigstens so lange im Auge behalten, bis er wüßte, wo sie bliebe. Da sie nun aber in des Bürgermeisters Haus eintrat, scheute er sich doch, ihr zu folgen. Was sollte Magdalene von ihm denken. Er ging vorüber und setzte sich in der dritten oder vierten Laube auf eine Bank, die schöne Fremde abzuwarten. Nun erst recht wollte er sein Abenteuer haben.

Eine reichliche halbe Stunde mochte vergangen sein, als sich von der Schloßseite her ein Wagen rasch näherte. Die Pferde zogen so kräftig an, daß der Straßenkot hoch aufschlug und die Räder nur so über die Steine hüpften. Jost erkannte in dem Lenker der Rosse seinen Freund Marcus und stand auf, ihm entgegenzugehen. Der aber sah ihn nicht gern. Sein Gesicht war erhitzt, und die Augen blickten unruhig um. Er hatte Frau Regina nach dem Dorf zurückgebracht, dort aber Ursula nicht angetroffen und zu seiner Verwunderung von den Bauersleuten erfahren, man habe das Mädchen in der Richtung nach der Stadt fortgehen sehen. Was wollte sie dort so allein? Kaum konnte er's erwarten, bis Frau Regina die Kräuter aus ihrem Mantelsack vorgesucht, geordnet und dem Priesterbruder übergehen hatte. Sie selbst war erschrocken, als sie hörte, daß Ursula sich entfernt habe, und bat Marcus, ihr sogleich in der Stadt nachzuforschen. Einer solchen Ermahnung bedurfte er gar nicht. Aber er hatte doch den Priesterbruder erst wieder bis zum Schuhtor fahren müssen, ehe er freie Hand behielt. Nun kam ihm noch Jost in die Quere. »Sieht man dich endlich?« rief dieser ihm zu. »Was hast du denn für Heimlichkeiten getrieben während dieser letzten Tage, seit ich hier bin? Man soll ja gar nicht wissen, wo du gesteckt hast.«

»So werden's wohl meine Heimlichkeiten nicht sein«, antwortete Marcus, indem er absprang und die Leine kurzgezogen um die Wagenleiter schlengte. Er reichte ihm eilig die Hand wie einer, dem's daran liegt, sich nicht aufhalten zu lassen.

Jost hielt sie aber fest. »Ich bin doch ein wenig dahinter gekommen«, schmunzelte er. »Sieh, sieh! Stille Wasser sind tief. Was hast du dir denn da für ein Schätzchen mitgebracht?«

»Ich weiß nicht, von wem du sprichst«, sagte Marcus errötend.

»Von der kleinen Hexe mit dem goldroten Haar spreche ich, die einen gar streitbaren Beschützer an der Hand hat. Der Schnabel ist seine Lanze, und er hat mir da ein Loch in die Stirn gerannt, daß die Wunde noch blutet. – Hahaha!«

Marcus erschrak. »Ursula –«, stieß er unwillkürlich vor.

»Ursula heißt sie – so, so? Dein Name entfuhr ihr auch so unversehens, das brachte mich auf die Spur.«

»Was denkst du dir? Ich weiß nicht ...«

»Schon gut, schon gut! Dein Geschmack ist nicht übel. Hätte das fahrende Fräulein auch nicht auf der Landstraße stehenlassen.«

Marcus wurde unwillig. »Ich mag mich nicht hänseln lassen«, sagte er. »Wenn dir aber ein Mädchen in fremdartiger Tracht begegnet ist, das einen Raben bei sich hatte –«

»Gewiß! An der Laufbrücke.«

»So leb für jetzt wohl. Ich muß eiligst –«

»Aber so höre doch! Ich sprach das hübsche Ding an und wollte ihm in guter Absicht raten. Es verstand mich aber unrecht, hetzte den schwarzen Vogel auf mich und entfloh mir –«

»Jost –!«

»– da hinein in deines Vaters Haus. Er mag sich über den Besuch verwundert haben, wenn er nicht schon unterrichtet war.«

»Du gehst ganz irre«, versicherte Marcus, der nun doch wenigstens beruhigt war, daß Ursula sich in bestem Schutz befand. »Ich kann dir jetzt nicht sagen ... Aber vertraue meinem Wort: das Mädchen ist nicht, wofür du es halten magst.« Er ging mit hastigen Schritten an ihm vorbei nach der Tür. »Ich muß jetzt ins Haus, Lieber – warte nicht auf mich – heut nicht. Wenn du sie erschreckt hast ...«

Er trat ein und schloß eilig die Tür hinter sich. Jost hörte, daß er den Riegel vorschob, und lachte hell auf. Er wär ihm ohnedies nicht nachgegangen. Die sonderbare Fremde, die so plötzlich und heftig seine Leidenschaft erregt hatte, neben Magdalene zu sehen, vielleicht sich von ihr anklagen lassen zu müssen, war ihm ein peinlicher Gedanke. Doch hätte er gern gewußt, was Marcus da so heimlich betrieb. Er nahm sich vor, noch eine Weile unter den Lauben auf und ab zu gehen und aufzupassen, was weiter geschehen werde. Marcus konnte doch das Fuhrwerk nicht auf der Straße stehenlassen.

Ursula hatte sich dem Bürgermeister zu erkennen gegeben und war von ihm sogleich seiner Frau und Tochter zugeführt worden. Sie hatte, noch ganz verschüchtert, erzählt, in welche Ungelegenheit sie ihre allzu dreiste Neugier gebracht hätte. Magdalene zerbrach sich den Kopf, wer der unartige Mensch gewesen sein könnte, der sie so erschreckte. Auf Jost hätte sie zuletzt geraten. Sie war voll Freude, Ursula zu sehen, von der ihr Marcus, wennschon nur flüchtig, die reizendste Beschreibung gemacht. Im ersten Augenblick stutzte sie ein wenig, da es ihr zu des Bruders einfachem Sinn nicht zu passen schien, daß er an einer so phantastischen Erscheinung Gefallen fand. Aber nach den ersten Wechselreden schon war sie mit ihm ganz einverstanden. Während die Mutter Früchte und Honig aus der Speisekammer herbeiholte, dem Gast einen Imbiß anzubieten, führte Magdalene das fremde Mädchen nach dem lauschigen Winkelchen am erwärmten Kachelofen, wo die Eckbank mit einem weichen Polster belegt war, umfaßte sie und sagte: »Ich will mir's von Eurer Mutter erbitten, daß sie Euch ein paar Tage bei mir läßt. Wir haben einander so viel zu erzählen und werden gewiß rasch Freundinnen werden. Wär's Euch lieb?«

Ursula küßte sie sehr glücklich und antwortete: »Mir wär's lieb. Aber Ihr müßtet dann auch zu mir in den Wald kommen – nicht jetzt, wo der Winter vor der Tür steht und bald seinen großen Schneesack ausschüttet, aber nächsten Mai, wenn die Bäume wieder grün werden und die Vögel singen und die Bienen ausschwärmen ... dann ist's schön bei uns und möcht' ich mit keinem Stadtfräulein tauschen. Einen rechten Wald kennt Ihr wohl noch gar nicht? Viele Meilen sind wir zuletzt geritten und haben am Weg nur einzelne verkümmerte Bäume gesehen.«

»O doch!« versicherte Magdalene »Wir haben ein paarmal den Vater nach der Stadt Elbing begleiten dürfen. Nicht weit davon hebt sich das Land, und die Höhen sind weithin mit prächtigem Eichen-, Linden- und Buchenwald bewachsen. Wir sind eines Tages tief hineingeritten, bis wir von einem Berge über den Wipfeln das Haff liegen sahen und dahinter den schmalen Sandstreifen der Nehrung und noch weiter dahinter das blaugraue Meer bis zum Himmel hinauf. Dort wurde ein Zelt aufgeschlagen, und wir vergnügten uns bis zum Abend. Ein Buchwald war in der Nähe, darin ging man wie in einem Kirchendom. Der Förster erzählte, weiterhin komme der Baum nicht fort, die Grenze seines Wuchses sei hier wie abgeschnitten. Das war mir wundersam zu hören. Habt Ihr auch Buchen in eurem Walde?«

»Nicht von solcher Art«, entgegnete Ursula, »sondern in kurzen, krummen und knorrigen Stämmen mit tief ansetzenden Ästen und spärlichem Laub. Ich seh's gern, wenn die Sonne das Geäst durchschimmert und mit allerhand farbigen Lichtern auf den trockenen Blättern vom vorigen Herbst spielt. Aber unsere Eichen sollt Ihr bewundern und die hohen Tannen mit ihrem dichten Nadelbehang und die alten Kiefern auf den sandigen Höhen, die im Abendrot wie goldene Säulen glänzen – so etwas Schönes gibt's doch nicht mehr auf der Welt!«

»Ich würde vor den wilden Tieren Furcht haben«, meinte die Städterin.

Ursula lachte. »Von denen ist im Sommer wenig zu besorgen. Die Wölfe sind nach Litauen abgezogen, und die etwa doch zurückgeblieben sein sollten, haben keinen Hunger. Ein Bär läßt sich bei uns gar selten einmal blicken, und die Wildschweine halten sich in ihrem Revier, greifen auch den Menschen nicht ohne Not an. Auch ist unser Hof wohl bewahrt und keine Gefahr ...«

Jetzt öffnete sich die Tür, und Marcus trat in Hast ein, im Zimmer umspähend. Ursula sprang sogleich auf und eilte ihm entgegen. Sie faßte seine Hände und sagte: »Ihr werdet mich schelten. Aber die Verführung war zu groß. Und Ihr seht auch, daß mir nichts geschehen ist. Verzeiht deshalb, daß ich Euch nicht erwartete.«

»Eure Mutter ist in Sorge um Euch«, antwortete er, ihres Anblicks froh. »Nun ich Euch hier in bester Sicherheit weiß, erlaubt, daß ich sogleich nach dem Dorf zurückfahre, ihr dies zu melden. Ich führe Euch dann in unsere Stadtkirche und ins Schloß, damit Ihr sehen möget, was Marienburg Merkwürdiges bietet.«

»Nein, nein«, lehnte sie ab, »mir ist die Lust gänzlich vergangen. Ich merke wohl, daß alle Leute mich verwundert angaffen, als gehörte ich gar nicht zu ihnen, und ich weiß nicht, wofür man mich halten mag. Ich möchte nicht noch einmal unartig angesprochen werden. Euch auch nicht meinethalben in Verlegenheit bringen. Laßt mich daher ohne Verweilen zu meiner Mutter zurückkehren.«

Magdalene erhob Einspruch. »Wir haben einander nur so kurze Zeit gehabt ...«

Ursula umarmte sie. »Das ist mir wahrlich leid; aber ich hoffe, wir kommen wieder zusammen und trennen uns dann nicht so bald. Es ist mir schon eine große Freude, daß ich Euch nun von Angesicht gesehen habe. Wie oft werd' ich von Euch träumen!«

Frau Blume bestand darauf, daß sie erst einen Imbiß einnehme; unbewirtet dürfe kein Gast aus ihrem Hause gehen. Die Magd trug schon allerhand Speise und Getränke auf. Ursula nahm ein weniges davon, um nicht unhöflich zu scheinen. »Es schmeckt Euch so in der Eile nicht«, sagte die Bürgermeisterin; »da wollen wir denn anders Rat schaffen.« Sie holte einen viereckigen Korb von Bastgeflecht herbei, den man eine Lischke nannte, füllte ihn mit Gebäck, Obst und Rauchfleisch, stellte ein Töpfchen mit frischer Butter und eine Steinkruke mit Johannisbeerwein dazu, schob den Deckel darüber und hing den Strick Marcus um den Hals. »Das überbringe Frau Regina mit einem schönen Gruß«, befahl sie. »Es mag zugleich als Wegekost dienen. Hat sie selbst eine Lischke, so schaffe mir die meine zurück. Es ist aber auch an ihr nichts gelegen.«

Ursula dankte. »Der Wagen steht vor der Tür«, bemerkte Marcus. »Wenn es Euch gefällt, können wir sogleich aufsteigen.« Sie verabschiedete sich von der Bürgermeisterin, indem sie ihr wiederholt die Hand küßte. »Behaltet mich in nicht zu unfreundlichem Andenken, werte Frau«, bat sie plötzlich ganz wehmütig gestimmt.

»Ich wüßte etwas«, rief Magdalene, »das uns noch eine Weile zusammenhalten könnte. Wenn die Mutter erlauben wollte, daß ich Euch auf's Dorf begleite –«

»Ach, das erlaubt die gute Frau gewiß«, fiel Ursula ein. »Bitte, bitte –! Marcus ist ja mit uns.«

Die Genehmigung wurde erteilt. »Aber vergeßt nicht, daß es jetzt im November schon früh dunkel und der Weg schlecht ist.«

Magdalene warf schnell einen Mantel um und zog die Kapotte über den Kopf, so daß von dem rosigen Gesichtchen wenig erkennbar blieb. Marcus half den beiden Mädchen auf den Wagen, wobei sie den angebundenen Querbaum benutzten. Ursulas Hand hielt er so lange als möglich in der seinen.

Als sie eine kurze Strecke gefahren waren, bemerkte Ursula unter den Lauben einen Menschen, der sich hinter dem Pfeiler schien verstecken zu wollen. »Der war's!« rief sie. Der Rabe auf ihrer Schulter wurde unruhig.

Magdalene blickte zurück und sah nun ganz deutlich die Gestalt, die bis unter den Bogen vorgetreten war. »Der –?« fragte sie erschreckt. »Jost vom Wege –?«

»Ich weiß seinen Namen nicht«, antwortete Ursula, »aber er war's gewiß. Seht nur, wie der Vogel die Federn sträubt, als wollte er ihm am liebsten noch einmal zu Leibe. Jost vom Wege – das behält sich leicht.«

»Des Herrn Tileman vom Wege aus Thorn einziger Sohn.«

»Ja, nach Thorn lud er mich ein.«

»Lud er Euch ein ... Was dachte er sich nur dabei?«

Marcus, der das Gespräch mit angehört hatte, wendete den Kopf zurück und sagte: »Ich hab' ihn gesprochen. Er glaubte, daß Ursula zu fahrendem Volk gehöre, und ich durfte ihm doch die Wahrheit nicht sagen.« Zur Beruhigung seiner Schwester setzte er hinzu: »Es war wohl gutgemeint.«

Magdalene verhielt sich aber doch eine Weile schweigend. Es gefiel ihr nicht, daß Jost sich gleich an das fremde Mädchen gehängt hatte, am wenigsten, wenn er sie für eine Fahrende hielt. Gegen den scharfen Wind zog sie die Kapotte noch fester vors Gesicht. Er soll mir's büßen! dachte sie. Dann aber war ihr Unmut auch schon überwunden. Als sie in die Nähe des Dorfes kamen, plauderte sie wieder munter mit Ursula, die ihren Raben auf die Hand genommen hatte und ihn zur Kurzweil ihrer Begleiterin allerhand lächerliche Kunststücke machen ließ.

Frau Regina, die sich ungehalten zeigen wollte, wurde von den Mädchen leicht besänftigt. Auf Magdalene machte die Frau mit dem streng-schönen Gesicht und der stolzen Haltung einen tiefen Eindruck. Sie mußte ihr nur immer in die dunklen, wie verschleierten Augen sehen, als wäre in der Tiefe irgend etwas Ungeahntes zu entdecken. Ihre Freundlichkeit ließ aber das Gefühl von Scheu nicht aufkommen. Marcus benutzte die Gelegenheit, wo er ein paar Worte mit ihr allein sprechen konnte, um sie zu fragen, wie sie den Herrn Hochmeister gefunden habe. »Schlecht«, antwortete sie, »schlecht. Es geht rasch zu Ende.«

Der Aufenthalt in der rauchigen Bauernstube war wenig angenehm. Doch blieben sie mehrere Stunden dort beisammen. Die beiden Mädchen wurden ganz vertraut miteinander. Marcus saß neben Ursula und streichelte ihren Raben, der ihn sichtlich als einen guten Freund schätzte. Endlich mahnte Magdalene doch zum Aufbruch. »Ich geb' Euch morgen früh das Geleit«, sagte Marcus zu Frau Regina, »und brauche daher noch nicht Abschied zu nehmen.«

Sie nickte. Ursula reichte ihm die Hand. »Verspätet nur nicht!«


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