Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Als Helmut hinter Herrn Lamettrie ins Nebenzimmer trat, erhielt er sofort Eindruck von einem mächtigen Oelgemälde, das dem großen Fenster gegenüber die breite Wand einnahm. Es war eine Nachbildung des Feuerbach'schen Gemäldes »Das Gastmahl«. Platon beschreibt die Szene: Im Gespräch über das Wesen der Liebe sitzt der Weise Sokrates mit seinen Jüngern. Kontrast zu seiner beherrschten Art ist der angetrunkene Alkibiades; gestützt auf ein Mädchen schwankt der herein, würdevoll begrüßt vom Gastgeber, der dem Ankömmling, nach der Sitte, den Becher darbringt.
Weil dies Motiv in Helmuts Gedankenwelt von je eine Rolle spielte, wandelte ihn die Versuchung an, stehenzubleiben. Aber Lamettrie ergriff seinen Arm: »Nehmen Sie zu meiner Linken Platz! Und rechts soll Huldchen sitzen, gelt?« Gerhart und Frau Belling schlossen den Kreis um den runden Tisch.
Als Tafelaufsatz inmitten der Gedecke plätscherte ein stäubender Springbrunnen über kristallinisches Gestein und saftiges Blattgewächs. Wundervoll waren die gelben Lilien mit den schwertförmigen Blättern.
Lamettrie machte vor Frau Belling eine leichte Verneigung: »Wenn das Wort Kosmos vom Schmücken herkommt, so ist Dein Werk hier in seiner Art ein Kosmos.«
»Du beschämst mich,« erwiderte sie. »Was eine Hausfrau herrichten kann, ist simpel – einem Geistesmahl gegenüber.«
»Nun denn,« lächelte Lamettrie, »solch geistige Mahlzeit läßt sich fortsetzen. Dem dürfte nichts im Wege stehen, als die Konkurrenz von Seiten der Bratgänse mit Gurkensalat.«
»Wenn die schlimme Konkurrenz nur nicht von Seiten Deines starken Burgunderweins kommt!«
»Ha Burgunder! Den trink ich zum Hummer allerdings lieber als Rheinwein. Doch bitte, jeder nach seinem Geschmack! Rhein, Mosel, Burgunder.«
Während ein Salat von grünen Sprossen und zartem Wurzelwerk herumging, und das Stubenmädchen den Hummer anbot, wartete Friedrich mit dem Getränk auf, je nachdem gewählt wurde. Voller Grandezza ließ er auch den Sektpfropfen knallen. Lamettrie hob sein dunkelrotes Glas und trällerte:
»Dagloni gleia glühlala!
Wir schweben
Ueber dem Leben,
An dem wir kleben!
Mit diesem Satyrlachen eines weisen Trinkliedes eröffne ich unser Symposion!« – »Heil!« jubelte Gerhart, und es klangen die Gläser.
»Ist dem nicht so?« fuhr der alte Materialist fort, »wir schweben in den astralen Regionen des Idealismus, kleben aber gleichzeitig am Staube.« Mit einer Handbewegung, die solchen Gegensatz malen sollte, warf er versehentlich ein Glas um, daß es zerbrach. Ueber das blütenweiße Tafeltuch ergoß sich der Purpur.
»Klinglala Scherben!« lachte der Alte – »und ein ungeheurer Klecks! Sehen Sie, lieber Doktor, dieser Unfall, oder vielmehr Umfall, herbeigeführt durch meine Ungeschicklichkeit, dieser blöde Zufall veranschaulicht uns die Welt strenger Tatsachen gegenüber jenem Vollkommenheitswalten, das Ihnen unmittelbar gewiß erscheint. Von der unschuldsweißen Fläche Ihrer Vollkommenheit grinst uns ein scheußlicher Klecks entgegen, es blutet das Herz Ihres Kosmos.«
Während Friedrich und das Stubenmädchen diese Chaos-Bescherung mit aufgestreutem Salz und übergedeckter Serviette unsichtbar machten, polterte Lamettrie weiter: »Ja Zufall! dieser tückische Kobold! Daß so etwas Brutal-Täppisches überhaupt zur Welt gehört, genügt schon, um den Glauben an ewige Vollkommenheit zu widerlegen ... Halt, Mister Friedrich! Kein Rotweinglas! Zwar den Purpur will ich trinken, aber aus einem andern Glase! Wenn's auch stilwidrig ist! Das Verrückte ist nun mal meine Art. Bin ja selber ein zerschelltes Burgunderglas, das sich vertauschen ließ, mit einem – sagen wir Sektglas. – Ja, so wollen wir's halten, Friedrich!« Und sein Sektglas hielt er dem Diener zum Einschenken hin.
Nachdem er getrunken hatte, lehnte er sich in den Sessel zurück, und in wilder Schwärmerei flog sein glühender Blick nach oben, wie eine stürmende Flugmaschine. Aber sinnend verdüsterte sich das Auge, und grimm lächelnd wandte er sich zur Tafelrunde: »Apropos Zufall! da kommt mir 'ne Erinnerung, die ich Euch zum Besten geben möchte. Ein gewisser Lundström, bedeutender Fabrikant in Kopenhagen, hat 'ne Geschäftsreise nach Stockholm vor und will gerade den Frühzug besteigen, als er, von einem Zeitungsverkäufer angerufen, zur Seite blickt und einen Geschäftskonkurrenten bemerkt, der gleichfalls nach Stockholm fahren will. »Fatal!« raunt Lundström seinem Prokuristen zu, der ihn auf den Bahnsteig begleitet hat, um noch rasch etwas durchzusprechen ... »Den Krämer da kann ich nicht ausstehen und mag ihm nicht begegnen. Drum will ich lieber nicht jetzt fahren, sondern erst mit dem Nachtzuge. Kommen Sie! Wir verlassen den Bahnsteig!« ... Daß nun Lundström seinen ursprünglichen Plan änderte, war sein Verderben. Vor Stockholm hatte der Nachtzug einen Zusammenprall mit Güterwagen, und es explodierte der Gasschlauch. Mehrere Wagen standen sofort in Flammen und nebst anderen Reisenden wurde Lundström zu Kohle. Schuld daran war der Umstand, daß der Ahnungslose, als er, wie gesagt, morgens hatte fahren wollen, vom Zeitungsverkäufer angerufen, infolgedessen mit dem unheilvollen Nachtzug gefahren war. Also ein unscheinbarer Zufall.«
Die Zuhörer waren nicht frei von Grauen, und Gerhart bestätigte: »Ueber unser Schicksal entscheidet manchmal etwas Winziges. Alles hat Folgen, und es kann von größter Bedeutung sein, ob wir in einem bestimmten Augenblick nach rechts oder aber nach links schauen, ob wir uns zufällig um eine einzige Minute verspäten, weil wir etwa abgehalten werden, unsere Uhr aufzuziehen ...«
Daß Gerhart stockte, kam von dem stechenden Blick, den ihm Lamettrie zuwarf, indem er lauernd sagte: »Woher – weißt Du das? he?«
» Was denn, Onkel?«
»Nun – das mit der stehengebliebenen Uhr? Wer hat Dir's erzählt?«
»Erzählt? Niemand! Mir kam nur so ein Einfall.«
Stirnrunzelnd erwiderte der Alte: »Mir aber ist ein Fall vorgekommen, daß die stehengebliebene Uhr zum Verhängnis wurde. Das heißt, nicht meine Uhr war's, sondern die eines ungarischen Schauspielers, der eine verwickelte Reise zu machen hatte, um in Westdeutschland eine Gastrolle zu geben. Als er am Abend zuvor in die Tasche gegriffen hatte, um seine Uhr aufzuziehen, war ihm die Hand an einer Stecknadel blutig geritzt worden, und dadurch abgelenkt, hatte er das Aufziehen der Uhr unterlassen. So war's gekommen, daß er die Stunde verschlief und als schlechten Ersatz für den versäumten Schnellzug einen Bummelzug wählen mußte. Im Gewirr der Strecken fand er sich nun nicht mehr zurecht, so daß er das geplante Gastspiel abtelegraphieren mußte.« Nach einem Aufseufzen starrte Lamettrie düster vor sich hin.
Die Zuhörer waren gespannt, wie's nun weiter gekommen sei. »Na und?« fragte Gerhart, als Lamettrie noch immer schwieg. »Sagtest Du nicht, Dir sei der Fall verhängnisvoll geworden? Inwiefern denn Dir?«
Die Antwort lautete zerstreut und verlegen: »Ja so! Daß es so kam, ist allerdings für mein ganzes Leben – wie soll ich sagen ... nun ja, verhängnisvoll geworden. Ein unseliges Glück ist daraus hervorgegangen.«
»Unseliges Glück?«
»Näheres darüber will ich lieber verschweigen. Auch ich wünsche mir, wie jener alte Grieche, die Kunst des Vergessens.« Mißtrauisch rollten die Augen des Sonderlings, der im Plaudern ein Kapitel aus seinem Leben berührt hatte, doch offenbar Scheu hegte, sich darüber auszulassen.
Das Peinliche des Verstummens empfand Helmut und wollte darüber hinweghelfen. »Sie kennen wohl Schopenhauers Studie über die scheinbare Absichtlichkeit im Schicksal des Einzelnen. Ja, so etwas kommt jedem vor, der sich klar macht, woher die entscheidenden Wendungen seines Lebens gekommen sind. Oft aus winzigen Zufälligkeiten, und die sehen dann aus, wie fein berechnete Hebel oder Rädchen einer Schicksals maschinerie.«
»Sehen Sie!« triumphierte der Mechanist – »da gleiten Sie nun in mein Fahrwasser. Schopenhauers Darlegung ist mir bekannt, und recht hat er im Sinne Ihres Ausdrucks Schicksalsmaschinerie – sonst ist dieser Denker mir zu mystisch. Denn obwohl er nicht an Vorsehung glaubt, schwebt ihm doch etwas vor, wie ein Planen innerhalb des All-Triebes, der das Leben der Geschöpfe aus sich hervorbringt und leitet. Es ist kein Berechnen und Konstruieren nach der engen Menschenart. Es umfaßt zwar die Sphäre der Endlichkeit, geht aber, wie alles Schöpferische und Leitende, darüber hinaus, ist also ein Ueberbewußtes.« »Das wäre ja Vorsehung«, meinte Hulda, »bloß daß die Philosophen dafür gelehrte Umschreibungen brauchen.«
»Vorsehung«, – bemerkte Gerhart – »ist theologisch ausgedrückt: der Herrgott regiert seine Schöpfung. Philosophen nehmen selten Beziehung auf biblische Vorstellungsweise.«
»Als ungelehrtes Menschenkind« – meinte Frau Belling – »bleibe ich gern bei der biblischen Weisheit, daß ohne seinen Willen kein Haar von unserem Haupte fällt. Wie solch ein fallendes Haar ist das Zufällige in unserem Leben fast immer unauffällig, aber bedeutsam!«
»Solche sogenannten Zufälligkeiten« – sagte Helmut – »sind Fäden, besser Nerven, Adern, Organe unseres Schicksals, das eine Lebenseinheit bildet. Jede Winzigkeit, die uns berührt, kann eine wichtige Wendung unseres Gesamtschicksals herbeiführen. Wer weiß zum Beispiel, ob Herrn Lamettries umgefallenes Rotweinglas nicht irgend etwas anrichtet, das ...«
» Hat es ja schon!« spöttelte Lamettrie, »soll es noch mehr anrichten? Ist nur gut, daß wir an den süßen Schlußakt der Futterei gelangt sind ...«
»Gewiß!« lächelte Frau Belling und nickte dem Stubenmädchen zu: »Bringen Sie die Erdbeeren!«