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37. Merkwürdige Schicksale

Möller-Lamettrie, der die Nacht bis zum Tagesgrauen auf der Sternwarte im festen Schlaf gelegen hatte, ging beim ersten Amselpfeifen zur Einsiedelei, um noch im Bett einen Morgenschlaf zu versuchen. Doch er fühlte sich völlig erquickt, und vom Gange durch den Park jugendlich munter.

Der Traum von Julia stand ihm vor der Seele, so klar und lebendig, daß er fast glaubte, er habe das wirklich erlebt. War's Erinnerung an einen Besuch, den er bei Julia vielleicht damals gemacht hatte? Nein, er war niemals in Düren gewesen, obwohl er herzliche Teilnahme für alles hatte, was ihm Julia damals von ihrem Schicksal erzählte.

Da sie und ihr Bruder, nach dessen Geburt sie ihre Mutter verloren hatten, den kränklichen Vater, einen Gymnasiallehrer, auch nur noch wenige Jahre besaßen, so war sie's gewesen, die bereits in früher Jugend Beschirmerin und Erzieherin ihres Bruders hatte sein müssen.

Mit dem Vormund, einem alten, schrullenhaften Professor, hatte sie, als ihre Mündigkeit nahte, eine schwere Meinungsverschiedenheit auszufechten, weil sie zur Bühne gehen wollte, er hingegen immer dafür eingetreten war, sie solle Lehrerin werden.

Ihren Bruder, der ein netter Bursche war, hatte sie damals, als sie die Julia spielte, mit nach Aachen gebracht. Hochgeschossen, sonst kindlich war er damals gewesen. So konnte eine Erinnerung wohl in ihm aufgetaucht sein.

Aber von Düren konnte der Träumende nur phantasiert haben – drum auch war es im Traum eine wundervolle Renaissance-Stadt Italiens, die Geschwister hatten sie Verona genannt.

Die Liebe zu Julia, die in seinem Traum ihre wilde Leidenschaft verloren hatte, hielt als wehmütige Schwärmerei sein Gemüt befangen. Julia erschien ihm als verklärte Gestalt in seinem Traum, von ihrem Busen löste sie eine feurige Rose und neigte sich liebevoll zu ihm: »Ja, ein Feuerbrand warst du, und jetzt ist von dem Feuer wohl nur die Schlacke geblieben.« Dabei lächelte sie wehmütig, und Ignatius Möller fühlte sich beseligt durch ihre holdselige Güte, und alle Schwere seines Schicksals, Schuld und Reue, war wie versunken ...

Diese glückselige Gemütsverfassung hielt den ganzen Morgen hindurch an. Zur gewöhnlichen Zeit begab er sich in den Wintergarten zum Frühstück.

Mit strahlendem Gesicht, aber sogleich den Finger auf den Lippen, empfingen ihn die Damen, bei denen Helmut saß, der bewegungslos blieb, um den Vogel Benedikt nicht zu stören. Munter hüpfte dieser über den Tisch, zwischen den Frühstückstassen hindurch. »Biwäwü!« pfiff das Vöglein, und nachdem es Kuchen gepickt hatte, ließ es vom gewohnten Zweig süße Zwitscherlaute hören.

Entzückt und feuchten Auges beobachtete der Onkel, an die Wand gelehnt, bis Benedikt hinausflog, um sein Weibchen im Brüten abzulösen. »Geflötet hat er uns ganz wunderschön!« schwärmte Hulda, als der Onkel ihre Hand küßte.

»Und Onkel, ein Eilbrief ist soeben für Dich gekommen. Bitte nimm Platz zum Frühstück. Gerhart hat den Brief in Mainz aufgegeben, hoffentlich bringt er keine Verwirrung in unsere Festpläne!« sagte Frau Belling.

»Nein!« entgegnete der Onkel, der die Zeilen überflogen hatte, mit tiefernster Miene – »Verwirrung nicht – immerhin eine schicksalsschwere Kunde. Sie muß uns zum Mitgefühl stimmen gegenüber jener Verzweifelten, die man ans dem Weiher gezogen hat. Gedankenvoll las er den Brief – dann sagte er: »Gerhart schreibt: »Lieber Onkel, von der Aachener Polizei habe ich Schriftstücke erhalten, die meinen vorigen Brief ergänzen. Jenes Mädchen, die man im November 1872 im Frankenberger Weiher gefunden hat, war die dreißigjährige Johanna Schmeetz und bei einem Aachener Tuchmacher in Stellung. Dieser kleine Fabrikant, dessen gütige Frau diese Johanna in ihrer Häuslichkeit beschäftigte, er hatte sie verführt – und verzweifelt darüber, sich gegen ihre mütterliche Freundin so schwer vergangen zu haben, nahm sie sich das Leben. Die Unterlagen zu diesen Angaben bringe ich Dir morgen. Es grüßt alle. Dein Gerhart.«

»Oh!« sagte Hulda tieferschüttert, und Tränen erstickten ihre Stimme.

»Ehrgefühl hat sie in den Tod getrieben«, meinte Frau Belling.

»Das kommt davon, wir sind Sklaven unserer Sinne!« waren des Onkels düstere Worte.

»Der Brotherr« – meinte Helmut – »hat seine Stellung mißbraucht.«

»Wer durchschaut das Getriebe solcher Schicksale?« fuhr der Onkel fort – »genug! seinen Opfern wird es zum Verhängnis.«

Lange verharrte man in traurigem Schweigen, dann stöhnte der Alte: »Wer kann so was wiedergutmachen? Wie denn?«

»Nur die rechte Gesinnung!« antwortete Helmut – »Innerlichkeit schafft die bessere Welt, unsere Sehnsucht ist's, die ins Unendliche greift. Unaufhörlich bejaht Goethe reine Lebensfreude und Persönlichkeitsmut:

Willst du Absolution
Deinen Treuen geben,
Wollen wir nach deinem Wink
Unabläßlich streben,
Uns vom Halben zu entwöhnen,
Und im Ganzen, Guten, Schönen,
Resolut zu leben.«

»Hört einmal!« raunte der Onkel mit hohem Ernst – »Julia ist mir diese Nacht erschienen – und hat mir ihre Güte und Liebe offenbart. Wäre doch auch jene Verzweifelte von der Mutterseele angeweht worden, ihr Schicksal würde sich anders gestaltet haben.«

»Ebenso kann Vatertreue Schutzgeist sein«, bemerkte Helmut leise. Dann trat er feierlich vor: »Auch ich möchte kein Geheimnis vor Euch haben. Ich stünde nicht vor Euch, und anders wäre mein Schicksal verlaufen, hätte mich nicht in einem entscheidenden Moment der Geist meines Vaters gewarnt. Höret das Geständnis, das mich schon lange gequält hat!«

Dann nahm er Platz und stützte die Stirn: »Im Krieg war es – und beinah hätt' ich mich zur Heirat verpflichtet gefühlt. Ich quartierte in Brüssel bei einer flämischen Witwe, die liebreizend und gemütvoll war. In uns Deutschen sah sie die berufenen Befreier ihres Volksstammes. Der Krieg stimmt zum Erobern, auch in der Liebe, und die Umstände waren höchst verführerisch ... Da – auf einmal sehe ich meinen verstorbenen Vater feierlich vor mir – und er mahnt: Diese ist dir nicht bestimmt! – Die Tränen stürzten mir hervor. Was ist dir? fragt Frau Blanche erschrocken und sucht mit ihrem Tuch meine Augen zu trocknen. Mein Vater! schluchzte ich – da stand er und schüttelte den Kopf, deutlich hab ich ihn gesehen. Als ich 16 Jahre zählte, starb er, und unvergeßlich ist mir der Abschiedsblick, mit dem er mich ansah.« So berichtete Helmut, und als er sich etwas gesammelt hatte, fuhr er fort: »Da küßte mich die schöne Flämin auf die Stirne und erhob sich entschlossen. Licht flutete in die Dämmerstunde, und vorüber war die Versuchung, der wir vielleicht, ohne den Geist meines Vaters, erlegen wären. Ich bin kein Spiritist, und für Geist könnte ich auch Erinnerung sagen, Und doch! warum stellte das Erinnern sich so plötzlich ein? Mein Vater hatte sich als getreuer Helfer bewährt.«

»Oder Du selbst, Du bist seinem Andenken treu geblieben!« meinte Hulda und küßte ihn auf die Lippen. »Mein Bräutigam bist Du, und nicht wahr, der Geist Deines Vaters hat nichts dagegen, daß wir einander gehören?«

»Nein, Schatz!« antwortete Helmut in tiefer Ergriffenheit. »Er und meine Großmutter segnen unsern Bund.«

»Hättest Du denn die schöne Flämin geheiratet, wenn Dein Vater nicht dazwischen getreten wäre?« fragte der Onkel mit einem durchbohrenden Blick.

»Ja, ich hätte mich gebunden gefühlt«, antwortete ehrlich der junge Mann – »und viel schwerer hätte ich am Verlust zu tragen gehabt, als man sie mitten aus blühendem Leben heraus begrub. Sie war einer Operation erlegen.«

Betroffen blickten alle auf Helmut, Mutter Belling nickte aufseufzend: »Und von solchem Unglück mag der Schutzgeist eine Ahnung gehabt haben.«

»Wäre doch« – sann schwermütig der Onkel – »auch der armen Johanna Schmeetz solch eine Seele beigestanden! Aber an ihrer Familie hatte sie vielleicht keinen Halt.« Tonlos fügte er dann hinzu: »Auch ich bin treulos geworden, weil mir Vaterliebe fehlte. Daß Julia trotzdem nicht verzweifelte, das machten die guten Geister, die sie beseelten und schützend sie umgaben.«


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