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26. Geständnisse

»Die Heimlichkeit halte ich nicht länger aus, wenigstens nicht vor meiner Mutter. Als Backfisch hab ich mit ihr meine kleinen Liebeleien durchgehechelt. Und als ich ihr meine Liebe zu meinem Werner nicht gleich gestanden hatte, sah sie dies als einen Mangel an Vertrauen an. Soll ich mir diesen Vorwurf machen lassen?«

»Um alles nicht!« erwiderte Helmut. »Nur den Onkel wollen wir nicht aufregen.«

»Aber Mutter kann es ja vor ihm einstweilen geheim halten.«

»Wissen's Zweie, so weiß es die Welt«, lächelte er – »doch gut! Wagen wir's.«

So traten sie, Arm in Arm der ernst blickenden Frau Belling entgegen, die eben schon darauf sann, wie sie ihren Vorwurf zart einkleiden solle.

Die Freimütigkeit ihrer Tochter kam ihr zuvor: Ehe sie sich dessen versah, hatte sie einen Kuß weg, und strahlend nahm Hulda ihren Helmut bei der Hand: »Vor Dir haben wir keine Heimlichkeit – wir wollen einander heiraten!«

Verehrungsvoll neigte sich Helmut zum Handkusse, aber die Freude überwältigte sie – Frau Bellings Lippen drückten sich auf seine gebräunte Wange, und ihre Tochter hielt sie umschlungen. Die stumme Rührung ging in lachende Fröhlichkeit über; dann wurden die drei wieder ernst: »Nur vor dem Onkel möchten wir's noch heimlich halten. Wer weiß denn, ob es ihn nicht aufregt.«

»Ja, es könnte sein, daß er jetzt noch angegriffen ist. Zwar hat er mir gestanden, er habe heute wie Paulus sein Damaskus erlebt. Von der Maschine habe er sich zur Natur bekehrt. Aber kann man trauen? Gewissensqualen macht er sich noch immer wegen jener Schauspielerin – und für Huldchen fürchtet er nur das Eine: das Schicksal könne ihr, die schon so Schweres erlebt, neue Enttäuschungen bringen.«

»Dazu wird es hoffentlich nie kommen.«

»Onkel hat natürlich nichts Bestimmtes im Auge – von Helmuts Bewerbung konnte er ja nichts ahnen – und dabei, denke ich, lassen wir ihn auch vorerst; Gerharts Rückkunft warten wir wenigstens ab ... Heute Mittag will Onkel mit uns speisen, da werden wir ja sehen ... Aber Kinder, den Verlobungsschmaus müssen wir für ein Weilchen noch verschieben.«

»Verlobungsschmaus? Aber Mutter! Und was die Enttäuschungen betrifft, so wüßte ich nur eine, die mich hätte niederschmettern können, nämlich die Sorge, die ich gestern und vorgestern noch hatte, war die: Helmut könnte bereits gebunden sein, oder ich könnte ihm zu alt sein. Siehst Du, Mutter, das wäre für mich eine furchtbare Enttäuschung gewesen.«

Nochmals gab es stumme Umarmung und allseitige Ergriffenheit. Frau Belling meinte weich: »Nun, Kinder, geht lieber in den Wintergarten, damit Euch der Onkel nicht etwa bei einer Zärtlichkeit ertappt, die ihm die Augen öffnen würde.«

Mit frohem Stolze entgegnete Hulda: »Ich erzähle Helmut von Werner und zeige ihm seine Briefe aus dem Felde.«

»Bitte, Schatz, und seine Photographien.«

Es war nichts Außergewöhnliches, was Helmut zu hören bekam, und wie es kaum anders denkbar, vergoß Hulda bei den Erinnerungen manche Träne, während in Helmut die Teilnahme des Kriegskameraden lebendig wurde, und ihr gemeinsames Lieben ihn ergriff.

Als der Gong zur Tafel rief, gingen die Verlobten, die sich jetzt mit kühler Höflichkeit zu begegnen hatten, zum Empfangsraum. Sie trafen Frau Belling noch ohne den Onkel. Aber bald erschien er und herzlich begrüßte man einander.

Das Mittagsmahl, zu dem man gleich Platz nahm, war einfach, obwohl auch diesmal verschiedene Weine angeboten wurden.

Auf Frau Bellings Wunsch durfte auch der übliche Sekt nicht fehlen. Mit bedeutsamen Blicken stießen die drei Wissenden auf gute Kameradschaft an.

Der Onkel, der zu merken schien, daß hier ein geheimes Einvernehmen walte, sagte zu Helmut: »Lasset auch den Alten dazu gehören! Prosit!«

Nur wenig vom Sekt hatte er genommen, und Sprudelwasser ließ er sich dazu einschenken, indem er Hulda anlächelte: »In der Mitten liegt holdes Bescheiden. Der Alte muß endlich mal von seinen Genußgewohnheiten loskommen

»Kennen Sie«, wandte er sich an Helmut, »die Geschichte von der Altweibermühle? Zum Mühlknappen kam eine fidele Alte, nun mahl er mich um! ich bezahle gleich ... Zu zahlen braucht sie nichts! Nur diesen Zettel bitt' ich zu unterschreiben! – Es war ein Formular: Ich werde auf meinen eigenen Wunsch jung gemahlen, aber so, daß alle meine früheren Dummheiten endgültig abgelegt sind und sich niemals wiederholen. – Die Alte stutzte, ihr Gesicht wurde immer bedenklicher: Von solcher Verpflichtung hab ich nichts gewußt. Was? Ich soll die alten Dummheiten endgültig lassen? Da will ich doch lieber aufs Jungwerden verzichten. Wenn man keine Dummheiten mehr machen darf, was hat man dann vom Leben? Ach nein! Da geh ich lieber so nach Haus und sitze noch ein Weilchen auf dem Altenteil meiner Dummheiten ... Das Weiblein kannte das Leben; es durchschaute, was seinen Reiz ausmacht ... Jedem Neugeborenen wird vom Schicksal ein Patengeschenk in die Wiege gelegt: eine Anweisung auf allerlei Dummheiten, die es später begierig begeht. Nicht bloß unsere Fehler, auch unsere Tugenden sind oft mit Dummheiten vermischt, und man kann daher fast behaupten: Dummheit bildet die Triebkraft unseres Lebens ... Sie sehen mich groß an, Herr Burger? Na, ich verüble es keinem, wenn ihm meine Philosophie der Altweiber-Mühle ein bißchen windschief erscheint.«

»Wir nehmen sie auch nicht feierlich – wir sind erfreut über Ihre gute Laune«, – erwiderte Helmut – »über die humoristische Milde, mit der Sie heule die Gebrechen der Menschheit beurteilen, indem Sie diese als angeborene Engen, ja als Patengeschenke bezeichnen.«

»Oder als Ausbrüche von Narrheiten«, schaltete der Onkel ein.

Helmut war in der Stimmung, Onkels Uebertreibungen zu beschönigen: »Nun, was die Dummheit als Triebkraft betrifft, so gebe ich zu, der Idealist, der sich selber so nennt, verrät hierdurch eine unkritische Enge.«

»Burger, Sie verstehen es, liebenswürdig meine einfältige Aeußerung umzudeuten, und daraus etwas zu machen, das nicht gar so närrisch klingt. Burger, Sie sind mein Freund! Ich will noch einmal ein wenig über die Schnur hauen, nämlich mit dem Sekt. Lassen Sie mich mit Ihnen ein Schmollis trinken, falls Sie solche Rückfälle in den Studententaumel nicht zu den Dummheiten rechnen.«

»Ich bin hocherfreut!« Helmut war aufgesprungen.

»Auch ich nämlich«, deklamierte der Alte, »bin in Arkadien geboren, hab in Bonn studiert, sogar beinahe den Doktor gemacht, was unter meinen Dummheiten sogar eine schlau gemeinte, wenn auch verhängnisvolle, war.«

Friedrich hatte mit brausendem Schaum alle Gläser gefüllt, weil auch die beiden Damen entzückt ausriefen: »Wir sind auch dabei! Es soll ein Schmollis zu Vieren werden!«

Jetzt war der Alte, obwohl übermütig gestimmt, doch etwas verblüfft und kleinlaut. Um so ausgelassener waren die Anderen, hatten sie doch für ihre angestrebte Intimität unverhofft eine günstige Gelegenheit gefunden und die Form, die allen paßte, ohne daß der Onkel deshalb die Verlobung erfuhr.

Mit dem süß prickelnden Feuertrank hatte man das Du geweiht, das zwischen Helmut und der Familie walten sollte, zu der er jetzt gehörte.

»Wo steckt eigentlich Gerhart?« fragte der Onkel etwas mißtrauisch. »Ihr habt geradezu krampfhaft von ihm geschwiegen!«

»Verreist!« erwiderte Frau Belling, weil die Andern stumm blieben.

»Geschäftlich?« wandte sich der Onkel an Hulda.

»Nein, privat«, erwiderte sie einfach.

»Und um was handelt es sich? Darf ich das nicht wissen?«

Sie zögerte ein wenig und sagte dann: »Du mußt bedenken, Onkel, daß Du doch dieser Tage eine Gemütsbewegung hattest, die uns recht bedenklich vorkam.«

Er blickte düster vor sich hin: »Ja, ich weiß, ich weiß natürlich; und da will er mir nun einen Spezialarzt holen, aber der hat hier nichts zu suchen.«

»Das wissen wir ja.«

»Nun also!« fuhr der Alte mürrisch fort, »und was dann? Aha! ich errate. Er will meine Vergangenheit herausschnüffeln. Die Mühe hätte er sich ersparen können. Ich selber sehe ein, daß ich Euch meine Geständnisse schulde. Und schon seit dem Brief des Vetters aus Amerika versichere ich Euch: ich bin Ignatius Möller, geboren in Cöln 1847, der seit dem entsetzlichen Unglück des Jahres 1872 von der fixen Idee beherrscht wurde, er sei der Philosoph Lamettrie

Die Tischgesellschaft blickte aufmerksam und schwieg.

Friedrich stand steif und schlug die Augen nieder.

Der Alte sah ihn an und fuhr nach einer Pause fort: »Ja, ja, mein guter Mister, jetzt also ist das Möller-Elend keine Schrulle mehr! Aber Möller wird nun auch nicht mehr in unfruchtbarer Reue verharren, sondern seine Schuld an den Lebenden, soweit das überhaupt möglich ist, wiedergutmachen. Der nachgeäffte Lamettrie ist endgültig abgetan. O pfui über meinen Selbstbetrug!« fuhr er fort und ließ die dunkeln Augen rollen. »Pfui über die feige Flucht aus meinem echten Ich! Fünf Jahrzehnt hindurch hat sie mich im Banne gehalten.«

Der zerknirschte Greis richtete seine hohe Gestalt empor, blickte wehmütig ringsum und holte tief Atem: »Nun aber will ich frei sein. Hinweg mit den Gespenstern! Die doch nichts bessern können. Ein neues Leben soll beginnen. Mein besseres Selbst – ich fühl's – es regt sich! – Schon indem ich mich danach sehne


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