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In der Balkenstube saßen sie abends beisammen – Lamettrie, Mister Friedrich und der Forstmeister mit der Familie Schellmann. Vom altväterischen Ledersessel sah der Amerikaner empor zu den dunkelbraunen Balken, über welche die Decke genagelt war: »Wie alt mag dies Haus sein?«
»Nu!« versetzte die Försterin – »über der Haustür steht die Jahreszahl 1687 und der Spruch:
Die Tür geht uf – die Tür geht zu –
Genade Gott uns ewige Ruh!
Hier innen aber ist mit glühenden Feuerhaken in das Holz gebrannt: »Undank ist der Welt Lohn!«
»Weisheit armer Waldmenschen« – meinte Lamettrie – »die unter ihrem Dach in Ruhe gelassen sein wollen.«
Schläfrig takte die Kastenuhr, der Försterhund lag mit Mohrchen auf seiner Decke am Ofen und seufzte mit wehmütigem Behagen. Es war noch September und das Wetter mild, doch abends in der Balkenstube konnte man schon etwas Heizung vertragen.
»Das ist hier fast wie droben in den Bauden. Da heizen sie auch im Sommer« – bemerkte Frau Schellmann – »im hohen Gebirge hat seit alter Zeit jedes Waldhaus eine Balkenstube, ganz aus Fichtenstämmen gefügt, mit Moos und Pech luftdicht gemacht, um die Fensterrahmen ist noch ein Mooskranz gelegt, damit nicht Sturm, Regen und Schnee hineindringen, drum ist's in solch einer Balkenstube bei schlimmstem Wetter ganz mollig. Sieh auch mal den prächtigen Ofen an! man kann sich bequem dahinter legen, da ist Raum für Wolldecken, die sengen nicht an, nur mit warmen Steinen kommt man in Berührung. Kacheln waren in alten Zeiten wegen ihrer Kostspieligkeit noch nicht üblich.«
»Auch – wie ich sehe – keine messingene Ofentürchen vor der Wärmenische« sagte Lamettrie – »sonderbar spielt der Zufall, daß solche Ofentüre mich in jungen Jahren beim Sinnieren über den Maschinenmenschen zu einer Erfindung angeregt hat.«
»Wie war denn das, Großonkla? Erzähl mal!« bat Friedel, der auf einer Fußbank vor seinem greisen Freunde Lamettrie kauerte.
Um das Kind, das vom Begräbnis noch verschüchtert war, seiner Schweigsamkeit zu entreißen, begann Lamettrie zu berichten: »Die Messingtür am elterlichen Kachelofen seh' ich noch vor mir, blank geputzt, und höre, wie der Bühnenkollege meines Vaters einen Tanz von Chopin vorspielt, von dessen einem Ton die Messingscheibe in leises Klirren und Zittern geriet. Dies fiel mir auf – und den Klavierspieler ersuchte ich, durch Wiederholung der betreffenden Stelle herauszufinden, für welchen Ton die Blechplatte empfänglich sei. Als ich dies wußte, war mir im Geiste meine Erfindung gegenwärtig. Es handelte sich um Uebertragungen von Schallschwingungen auf empfängliche Platten oder schwingende Stäbe. Wenn beispielsweise eine Stimmgabel schwingt, kann von ihren Tönen eine zweite Stimmgabel angesteckt werden. Hieraus entsprang mir der Gedanke, auf mechanischem Wege könne ein Befehl des Menschen eine Bewegung mit der Zuverlässigkeit des Naturgesetzes auslösen. Nicht wahr, Schwager, Du verstehst, welche Anziehung auf mich allerlei Phantasien von einem Maschinenmenschen damals ausübten? Ich war Student, und wie ein Prometheus geladen mit himmelstürmenden Plänen.«
Der Forstmeister grunzte Beistimmung und paffte eifrig: »Ein Maschinenmensch ist ja im Grunde jede Maschine! Ob Dampfkessel, Kolben, Räder grade mit einer menschenähnlichen Gestalt verbunden sind, ist Nebensache – eine spielerische Beigabe, nichts Wesentliches.«
»Gewiß!« nickte Lamettrie. »Und wenn ich mich vom Maschinen- Menschen abgekehrt habe, bin ich nicht von der Maschine überhaupt abgekommen, nur von den Verblendungen und Versklavungen, zu denen heutzutage der rauschartige Übermut unsere Technik verführt.«
»Du denkst also nicht so, wie einst die Weber im schlesischen Gebirge« – nahm Frau Schellmann das Wort – »Großmutter gelt? Deine Eltern erzählten, daß die Weber im Gebirge ihre Webstühle zertrümmert haben, aus Wut über die Mechanik ...«
»Das ist ein unsinniger Versuch, das Rad der Zeit rückwärts zu drehen. Solange noch die Gesinnung der Menschheit von Mißtrauen heimgesucht wird und von jener ansteckenden Massenfurcht vor dem Notgespenst, so lange hat der Friede zwischen den Volksklassen und Staaten eben keinen Wurzelboden. Die Maschine kann die Arbeiter versklaven, wenn nämlich nicht wir die Maschine besitzen, sondern wenn sie uns besitzt. Der Mensch muß erst lernen, in Wahrheit Herr seiner Werkzeuge zu werden, muß all seine Organisationen mit Seele durchdringen, dann erst wird uns die Maschine zum Segen. Vorläufig entfremdet sie uns der Natur und erniedrigt den Menschen, der sie bedienen muß, zum stumpfen Werkzeug. O welch ein Heil könnte von der Technik kommen, wenn sie ganz im Dienste höchsten Lebens stände!«
Der Forstmeister paffte aus seiner Pfeife wie eine Lokomotive, die nun auf Bahnen des neuen Fortschritts laufen möchte. Dann fragte er mit einem ernsten Blick seiner buschigen Augen: »Was verstehst Du unter höchstem Leben?«
Lamettrie besann sich, um zu antworten: »Julias Tagebuch und Helmut haben mich dazu angeregt, die Menschheit als eine lebendige Gliedergestalt, mit Abstufungen anzusehen, so daß die Unterstufen von höheren Werten überwölbt werden – von Vernünftigkeit, Güte, Liebe.«
Der Forstmeister sah schief aus zwinkernden Augen: »Liebe? klingt das nicht wie weichselige Redensart? Wer sich nach Liebe und Güte orientiert, ist oft zu schwach, um Vernunft und Ordnung streng durchzuführen. Im Verwaltungsdienst und im Geschäftsleben gilt kühle Sachlichkeit, Ordnung und Gerechtigkeit.«
»Gut, Schwager, Sachlichkeit und Gerechtigkeit im Dienst gehört eben auch zu dem, was Du liebst. Liebe erstreckt sich nicht bloß auf das Verhalten zu einzelnen Menschen, sondern auch auf Verhältnisse, die dem wahren Heile dienen.«
Der Forstmeister und Friedrich schwiegen ehrerbietig, Friedels Großmutter nickte sinnend, der Knabe schaute geweiteten Auges.
»Ja!« fuhr Lamettrie mit Innigkeit fort – »wäre die Menschheit von Liebe durchdrungen, so würde sie sich nicht mehr bekämpfen und zersplittern in Christen, Juden, Heiden.«
»Heiden!« stutzte Frau Schellmann – »ich habe mich bei meiner Konfirmation zum Christentum bekannt, was haben wir mit dem Glauben der Heiden zu tun?«
»Das sind doch unsere Mitmenschen, die mit uns zusammen arbeiten, da müssen wir uns doch mit ihnen verständigen, auch überliefern sie uns aus ältesten Zeiten Schätze der Weisheit.«
»Nu ja, unsere Missionare möchten sie zum Glauben an unsern Heiland bekehren – und der bringt ihnen die Seligkeit! Was haben die Heiden uns dagegen zu bieten?« meinte die Witwe des Försters Schellmann.
»Heiden« – erwiderte Lamettrie – »das klingt so verächtlich überlegen. So nannten unsere Stadtbewohner, als sie längst Christen waren, die in den Heiden hausenden Jäger, Hirten und Ackersleute, bei denen das Christentum noch nicht eingeführt war. Aber die Anhänger des bäuerlichen Donnergottes, des Jagdgottes Wotan, des Lenzgottes Baldur können mit ihren Vorstellungen dieselbe Andacht verbinden wie die Christen mit den ihrigen. Nur daß sich die Ideale der Völker und Zeiten entwickeln. Christus verkörpert das allerhöchste Sehnen der Menschen, die Sehnsucht nach jener Liebe, durch welche die Welt zum Reich Gottes umgewandelt werden könnte.«
»Halt ein, Schwager!« rief der Forstmeister – »zu schön ist Dein Traum, um je in Erfüllung zu geh'n.«
»Weshalb denn könnte er's nicht?« fragte Lamettrie mit sanftem Lächeln. »Ihr werdet einwenden, Jahrmillionen ist die Menschheit wild und wüst gewesen, und so wird's durch Jahrmillionen weitergehen. Aber warum sollte sich das Menschengeschlecht nicht veredeln? Vorbilder wie Christus, Buddha, Franz von Assisi und von meinen Amerikanern der prophetische Walt Whitman zeigen uns, zu welcher Höhe die Menschheit gelangen könnte, wenn sie ihre Innerlichkeit ganz aufs Ewige richten würde. Und was Einzelmenschen möglich ist, sollte das nicht auch der Menschheit einigermaßen gelingen können? Vor allem müßten Not und Furcht vor Lieblosigkeit aus der Welt geschafft werden.«
Alle achteten nun auf die Förstersfrau, die ihr Tuch vor die Augen hielt und leise schluchzte: »Wie schön könnte die Welt sein, wenn es soweit wäre, hätte ich nicht auf so schreckliche Weise meinen Mann verloren!« Als Friedel seine Mutter weinen sah, kamen auch ihm die Tränen. Großmutter suchte das Kind zu beschwichtigen.
Lamettrie legte seine Hand auf das Haupt der Witwe: »Dein Weh hat recht. Doch Trost wird Dir aus dem Leid quellen, eine neue Sonne wird den Erdbewohnern scheinen, wenn auf der Welt die Güte regiert.«
Da wird den Menschen auch die Technik zum Segen werden. Wenn die Maschine den Menschen entlastet und ihm zur Freiheit hilft, dann erst ist er der Herr des Werkzeugs.