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51. Zusammenbruch

Da die Gäste Interesse am Museum und seinen technischen Geheimnissen zeigten, lud Lamettrie sie ein, nach Beendigung des Verlobungsmahles mit ihm eine Eisenbahnfahrt nach Lappland zu machen.

»Lappland« – schwärmte er – »ist meine Liebe! Und obwohl meine Maschinen-Narretei davon träumte, mit mechanischen Mitteln der Natur gleichzukommen, war ich für Natur, den Gegensatz zur Maschine, begeistert und suchte Erholung vom technischen Getriebe in urwüchsiger Wildnis. So weilte ich während des Weltkriegs auf den lofotischen Felseninseln, die an der Grenze des nördlichen Eismeers, westlich von Skandinavien liegen – wie wenn die schroffen Dolomiten in die See gestellt wären. Auch in den nordschwedischen Einöden, durch die das Nomadenvolk der Lappen seine Renntiere treibt, hielt ich mich mit Vorliebe auf ... Davon möcht ich Ihnen eine kleine Probe vorführen. Es ist natürlich nur ein Scherz; versprechen Sie sich nicht etwa 'ne große Sache; es sind im Grunde Spielereien

»Ist das ein Kino-Film?« fragte Herr Direktor Linde.

»Oh! kein Kino!« antwortete Lamettrie – »mit dem Kino gebe mich erst ab, wenn es mir gelungen ist, einen exakt sprechenden herzustellen. Ich hoffe dies noch zu erleben.«

Direktor Linde hatte einen fragenden Blick, und der Onkel fuhr fort: »Erst ein Stück des Lappland-Films ist hergestellt, und ich weiche diesmal von meinem Grundsatze ab, nichts Unfertiges vorzuführen – wer weiß, ob das Bruchstück überhaupt vollendet wird. Doch eben weil ich schwanke, ob ich dies Werk nicht lieber aufgeben soll, möcht ich einen Versuch vor Ihnen wagen. Es könnte ja sein, daß Sie dabei etliche Unterhaltung finden. Ich möchte besonders beobachten, welchen Eindruck auf Sie die Fahrt mit der Eisenbahn macht.«

»Eisenbahn?« fragte Frau Rade erstaunt.

»Ja« – lächelte Lamettrie – »wir benutzen dies Beförderungsmittel. Haben Sie alles vorbereiten lassen, Friedrich? – Nun dann wagen wir die Fahrt.«

Die Gesellschaft begab sich nach dem Museum.

»Kennen Sie die Reise zum Mittelpunkt der Erde von Jules Verne?« fragte Lamettrie. »Daran dürften Sie erinnert werden, wenn wir jetzt in die Erde eindringen – mit dem Fahrstuhl natürlich – um dann die Eisenbahn zu besteigen. Zunächst kommen wir dann aus einem Tunnel wieder an die Oberfläche – und fahren durchs Ruhrgebiet.«

»Wie wäre das möglich?« sagte Frau Belling – »da bin ich aber gespannt.« Und im Fahrstuhl ging's gruppenweise zur Tiefe.

Nachdem die Fahrgäste in einem bereitstehenden Eisenbahnwagen unter Friedrichs Leitung je zu Fünfen in einem Abteil Platz genommen hatten, alle nach vorn sitzend und mit dem Ausblick durch die Scheibe links, winkte Friedrich dem Zugführer: »Abfahrt!«

Und der Zug setzte sich in Bewegung; langsam fuhr er in einen Tunnel, der im ehemaligen Schacht zum Gewölbe hergerichtet war. Dunkelheit und Qualm umhüllte die Fahrgäste, und sie empfanden die Erschütterungen des immer schneller fahrenden Wagens. Nach etwa einer Minute lichtete sich der Tunnel, und man bemerkte, daß man nun durch eine Wiese mit Gebüschen, Bäumen und bekannten Gebäuden fuhr.

»Unser Haus!« rief Hulda überrascht – »die Veranda, der Wintergarten! Was ist denn das? durch unsern Park geht doch keine Eisenbahn! Und diese Landschaft sieht aus – als ob sie gemalt wäre!«

In der Tat sah man beim Ausblick durchs Kupeefenster im Vordergrund Telegraphenstangen mit jenen weißen Porzellanhüllen, über welche die Drähte laufen, sah einen Graben längs der Schienen, Böschung und Hecke. Und allerdings hatten die Telegraphenstangen etwas Befremdliches für schärfere Beobachter. Wenn eine Stange im Blickfeld behalten wurde, während der Zug daran vorbeifuhr, schien sie sich auf ihrer Stelle etwas zu drehen. Hollah! Auf einmal erkannten die Beobachter, daß die Telegraphenstangen nicht körperlich waren, sondern bloß gemalt.

Doch um die Illusion der Anderen nicht zu stören, behielt jeder seine Beobachtung für sich.

»Habe doch im Parke hier von Telegraphenstangen nie etwas bemerkt!« staunte Frau Belling und machte ein verdutztes Gesicht. Der Onkel lächelte verlegen.

»Großartig!« spöttelte Gerhart und warf seinem Freunde einen schelmischen Blick zu – »Wie ein Diorama!« Und leise raunte er: »Wäre bloß nicht die fatale Flächenhaftigkeit der Telegraphenstangen. Die muß ja kitschig wirken.«

Jetzt auf einmal völlige Finsternis – die Fahrt hörte auf – elektrisches Licht erleuchtete den Tunnel – der Zug hielt.

»Dies war eine Probe!« sagte Lamettrie verdrießlich – »eine mißlungene! Es klappt nicht, und zum Teil haben Sie meine Täuschungsversuche durchschaut. Man sollte sich einbilden, im Eisenbahnwagen zu fahren. Zu diesem Zwecke werden die Schienen, auf denen der Wagen steht, zu Erschütterungen und Schwankungen gebracht; berücken sollte Sie derselbe Irrtum, den wir alle Tage erleben, indem wir meinen, die Sonne durchwandre den Himmelsraum, während sie verharrt, unsere Erde aber sich an ihr vorbeidreht ... Die Sache scheitert am verflixten Telegraphenstangen-Motiv. Ich hatte geglaubt, die Fahrgäste würden beim Fahren niemals rückwärts blicken; aber unsere Schlauberger Gerhart und Helmut haben es doch getan – und natürlich gleich bemerkt, daß die Telegraphenstangen wie alle Gegenstände bloß gemalt sind ... Daher die fatale Illusion, daß sich die Stangen auf ihrem Standpunkt drehen. Deshalb habe ich meinen Reisenden bloß auf der einen Seite Sitzgelegenheit gewährt und das Fenster so unbequem angelegt, daß Sie sich nach vorn beugen müßten, wollten sie die Rückseite der Stangen zu sehen. bekommen ... Na, Schwamm über den faulen Zauber! Nun, Friedrich, wenigstens noch schnell ein paar Dioramen von lappländischer Wildnis!« Lamettrie war sehr unzufrieden.

Nach kurzer Verfinsterung hatte man wieder Ausblick in leuchtende Landschaft, und die Erschütterungen des Kupees erweckten die Illusion, als ob man fahre. Oede Moortümpel zogen vorüber – im Vordergrunde Moos und blühendes Beerengesträuch, kriechende Birken und krüppelige Legföhren. Darüber veilchenblauer Himmel und eine rötliche Scheibe.

»Das ist die Mitternachtssonne! so sieht im hohen Norden die Sommersonne um Mitternacht aus – am Himmel steht sie in etlicher Röte, so etwa wie bei uns am späten Winternachmittag ... Einem Auge ähnlich, das von langem Weinen gerötet ist.«

Plötzlich stand Herr Päch im Kupee, bleich und düster. Er war vom Abteil nebenan gekommen. Lamettrie stutzte: »Was gibt's?«

»Verzeihung, Herr Möller! offengestanden, wir könnten hier abbrechen. – Die Herrschaften sind kritisch – und selbst im Niggerland würden wir uns blamieren ...«

»Ja, ich bin überführt, ich muß es eingestehen, ich war bloß zu feige.«

Alles war peinlich verlegen. Indessen ging am Horizonte das Diorama, zogen plumpe Schneeberge hin, finstre Granitmassen. Diese mehrten sich und in wildes Gebirgstal schien der Zug einzufahren. Zwischen gewaltigen Felsblöcken hielt er. Donnernd stürzte ein Wasserfall hernieder, auf den Höhen war Dickicht von Krüppelföhren und verbogenen Birken. Rötlicher Dunst lag um den Gipfel des Berges. In der Ferne schimmerte ein großer See mit Buchten ...

Helmut hatte sich lächelnd erhoben: »Ja, mein guter Herr Päch – wir müssen ganz wahr unsere Ueberzeugung vertreten, auch wenn wir dadurch Anstoß erregen beim Vorgesetzten. Aber warum sollte der keine ehrliche Kritik vertragen?«

Fassungslos schwieg Päch – seine Lippen bebten.

Möller-Lamettrie aber grollte: »Hast recht, Helmut! Zum Kuckuck mit diesem faulen Zauber, der gequält wirkt, weil nicht mal die Technik klappt. Friedrich, sofort abbrechen!«

Das Diorama stand still – dann war's gänzlich verschwunden.

Aus dem Zuge, dessen Rütteln nun aufgehört hatte, nachdem man wieder zur Ausgangsstelle gekommen war – stieg Möller-Lamettrie und hatte wieder seine Haltung: »Uff! Entschuldigen Sie, daß ich Sie jetzt verlasse, meine Herrschaften! Ich möchte mich sammeln nach dieser Blamage! Friedrich und Herr Päch werden Sie wieder aus dem Schacht bringen ... Ach ja, mein lieber Peter Schlemihl, warum begingen Sie die Ungeschicklichkeit, mich ungewarnt in solche Albernheit hineintaumeln zu lassen! Aber nein, daß Sie nicht rücksichtslos kritisierten, habe ich mir selber zuzuschreiben – warum auch bin ich so selbstgefällig, daß Sie mit Ihrem Urteil nicht früher schon herausrückten?«

Päch stand bei diesen Worten betreten, nickte dann und verbeugte sich linkisch vor Lamettrie.

Dieser schritt zum Fahrstuhl, wehrte den herzuspringenden Friedrich ab und drückte den Knopf zur Auffahrt.

»Ein gründlicher Katzenjammer nach dem Maschinenrausch! Herbstlaub taumelt um mich hernieder ... Ich ahne, daß mein Leben zu Ende geht.« Hoffentlich vergönnt mir das Schicksal, noch etwas zu taugen! Gnade hat es mir erwiesen – und die möcht ich doch halbwegs zu verdienen suchen.«

Plötzlich griff Lamettrie, da er auf Pächs verzerrtem Gesicht Tränen sah, sich stutzig an die Stirn: »Aber mein guter Peter Schlemihl! So habe ichs nicht gemeint! Entschuldigen Sie, daß ich Sie angeschnauzt habe! das war ungerecht; ich selber bin ja an dem Reinfall schuld! Aber ich war ganz außer mir vor lauter Ratlosigkeit; das gänzliche Versagen meiner Technik bringt mich an den Rand der Verzweiflung. Bitte, seien Sie nicht böse über mein unwirsches Wesen, sondern üben Sie Nachsicht gegenüber einem alten Manne, der sich verrannt, der sich selber überlebt hat! Raten Sie mir, mein lieber Päch, wie etwa ließe sich meine Stümperei korrigieren, halbwegs wenigstens?«

Päch wischte sich nun die Augen, die hatten nun einen warmen Blick, dann aber gerieten sie in ein düsteres Grübeln, er schüttelte den Kopf und antwortete achselzuckend: »Unmöglich, Herr Lamettrie! Wir stehen an den Grenzen der Technik, ja an starren, ewigen Grenzen. Alles Körperliche nämlich – bedenken Sie doch – hat drei Dimensionen, Ihre Raumdarstellung aber kommt über zwei nicht hinaus. Nur gutmütig-unkritische Zuschauer können übersehen, wie Ihre auf Streifen gemalte Gegenstände, wenn sie vorbeigeglitten sind, keine Hinterfront haben und den fatalen Schein nicht loswerden, als ob sie sich auf ihrer Stelle drehten. So was läßt sich eben nicht korrigieren! Der Nachen unserer Technik muß scheitern an jenen gewaltigen Klippen, die das Weltgebäude allem menschlichen Machwerk entgegensetzt. Herr Lamettrie! Diese mißlungene Spielerei belieben Sie gänzlich aufzugeben.« Päch war bleich, und man sah, daß er sich dieses Geständnis herausquälte, aber er sprach entschieden, ermuntert vom achtungsvollen Blick Helmuts.


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