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In Grübelei versunken, schwieg die Tischgesellschaft. Dann wandte sich Burger an Hulda: »Sie sprachen von Vorsehung. Das Wort bezeichnet ein Sehen, ist aber bildlich. Auf Bilder und Gleichnisse sind wir eben stets angewiesen, wo es gilt, die Art des Unendlichen und Ewigen einigermaßen auszudrücken. Vorsehung nennt man das Schicksal, insofern es dem Vorhersehen und Planen der Menschen ähnlich, nur ihm unendlich überlegen ist.«
»Auch das Wort Glück«, bemerkte der Germanist Gerhart, »hat bildliche Natur. Kommt nämlich her vom althochdeutschen Luckan, Locken. Was den Menschen lockt, hält er für sein Glück. Widriges Verhängnis bezeichnet er scheltend als teuflisches Pech. Der sogenannte Zufall ist nichts als eine Redensart der Unwissenheit, das Achselzucken mangelhaften Einblicks in den Zusammenhang der Dinge. In Wahrheit waltet stets und allenthalben, wenn auch heimlich, jene Ordnung, die ich mit Burger Kosmos nenne. Irgendein Geschick zu tadeln oder zu loben, ist engpersönliche Wertung.«
»Un wat dem eenen sien Uhl ist, dat is dem annern sien Nachtigal«, bemerkte Frau Belling.
»Stimmt!« rief Lamettrie und ließ sich von Friedrich Sprudelwasser einschenken. »Das sieht man besonders am Hasardspiel. Was da einer gewinnt, hat der andrere verloren. Und zwar durch Zufall. Die Roulette ist eine Maschine, um Experimente mit dem Zufall zu machen. Es waltet allerdings ein heimliches Gesetz im Zufall, und das, Herr Burger, ist Wasser auf Ihre Kosmosmühle. Drum muß ich, um gerecht zu sein, mich darüber äußern ... Aber versehen Sie Ihren Teller und Ihr Glas, lieber Burger, und wenn Sie sich bei der Mahlzeit nicht stören lassen, geb ich gern zum Besten, was ich in Spa und Monte Carlo erlebt habe. Wenn das Glücksrad kreist, bleibt es bekanntlich auf Rot oder Schwarz stehen, und weil diese Farben in der Roulette regelmäßig abwechseln, ist die Chance, Rot oder Schwarz zu treffen, gleich groß. Nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung müssen unter tausend Drehungen der Roulette nahezu fünfhundert auf Rot auslaufen, die anderen auf Schwarz. Das ist das eine Gesetz im Zufall. Das andere könnte man das Gesetz der Abwechslung nennen. Solches Abwechseln ist natürlich nicht derart zu verstehen, als ob auf Rot jedesmal Schwarz und dann wieder Rot folgen müßte; wenn das mal in langer Reihe vorkäme, würde man starr darüber sein und würde rufen: eine solche Regelmäßigkeit ist ja unerhört, die ist Zufall. Und dennoch! Eine gewisse Regelmäßigkeit waltet auch in der Abwechslung. Zum Beispiel, wenn sich Rot vier- oder fünfmal hinter einander ergeben hat, ist große Aussicht, daß jetzt Schwarz, und bald wieder Schwarz kommen wird.«
»Das ist sonnenklar!« rief Gerhart, »und darauf müßte sich doch ein System bauen lassen.«
Kühl erwiderte Lamettrie: »Und zwar ein System, das logisch, nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung, einwandfrei stimmt. Aber – nun gib acht, Gerhart! Versteifst Du Dich auf Dein System, so müßtest Du einen fabelhaften Geldbeutel haben, um den Nücken und Tücken des Zufalls gewachsen zu sein, all den Möglichkeiten, die im Rahmen des Systems ihre Geltung behaupten. Jahrelang müßtest Du Tag und Nacht am Spieltisch hocken, müßtest wohl hunderttausend Spiele nach Deiner Tabelle spielen, um mit einiger Zuverlässigkeit die Schwankungen zwischen Rot und Schwarz ausnutzen zu können ... Was mich betrifft, so hat sich mein System anfangs bewährt. Aus den sieben Goldstücken, mit denen ich am Spieltisch begann, wurden in der ersten Nacht zweiundneunzig. Obwohl ich dann dreizehn verlor, hatte ich bald über dreihundert gewonnen. Nun aber, als man mir viel Geld auf Halbpart gepumpt hatte, verlor ich auf einmal alles und hatte dann noch Schulden.«
»Es ist also vernünftig, sich überhaupt nicht auf Glücksspiel einzulassen«, sagte Frau Belling.
Lamettrie nickte. »Doch angenommen, jemand könnte mit seinem Spielsystem im Laufe der Jahre Goldhaufen zusammenkratzen, so würde er dabei zum Narren werden, falls er das nicht schon von vornherein war. Wer sonst brächte es fertig, sich jahrelang stumpfsinnig der Mechanik zu unterwerfen. Das ist ja schlimmer als die Gebetsmühlen in Tibet.«
»Allerdings«, sagte Gerhart – »und das entscheidet endgültig. Aber was mich an Deiner Auffassung noch besonders interessiert, ist, daß Du zugibst, in der Mechanik sei etwas Abstumpfendes. Das trifft zwar selbstverständlich nicht den schöpferischen Mechaniker, wie Du einer bist, aber wenn das Leben der Menschen von Mechanik so abhängig ist, wie die moderne Zivilisation, und sich ihr geradezu versklavt, so ist das eine furchtbare Gefahr. Du als Amerikaner freilich ...«
Unwirsch unterbrach ihn Lamettrie: »Weiß schon! jetzt warnt der deutsche Michel vor dem Amerikanismus. Nun denn, mit ihrer mechanisch organisierten Macht beherrschen die United States den Erdkreis. Immerhin, was meine Gesinnung betrifft, solltest Du eigentlich wissen, daß ich durchaus nicht eingeschworen bin auf Yankee-Wirtschaft. Und gerade mit Bezug auf deutsches Volkstum gebe ich gerne zu, daß Tüchtigkeiten der Persönlichkeit mehr bedeuten als Siege des Mechanismus.«
»Darauf lief auch das Gespräch von heut Morgen hinaus«, sagte Gerhart, »während wir unser Eisenwerk besichtigten ... Aber holla, Helmut, da fällt mir ein, Du hast ja einen Brief aus Amerika erhalten, und den wolltest Du doch vorlesen.«
»Nicht gerade, daß ich es wollte«, versetzte Helmut, »Du hast es vorgeschlagen.«
»Na ja, weil's ein zeitgemäßer Plauderstoff ist.«
»Gut, lieber Burger, lesen Sie uns vor! Wer ist denn der Briefschreiber?«
»Sein Vetter, Fritz Burger!« platzte Gerhart heraus.
»Fritz heißt er nicht, sondern Hans. Nennen wir ihn kurz den Vetter Hans.«
»Name ist Nebensache«, sagte Lamettrie, »aber wer ist dieser Vetter Hans? Vermutlich ein geborener Deutscher? Wie lange ist er drüben?«
»Noch kein Jahr.«
»Und will schon ein Urteil fällen über amerikanische Verhältnisse? Es ist wohl das Urteil eines deutschen Gemütsmenschen? Wo hat Vetter Hans denn vordem gelebt?«
»In Tübingen und Stuttgart.«
»Im Ländle, haha!« lachte der Amerikaner, »dann natürlich! Wie kann man auch so komisch sein, es anderswo schön zu finden als in sei'm Häusle! sagte die Schnecke und zog sich zurück.«
»Nun, so ganz eng ist mein Vetter grade nicht!«
»Um so besser! also hören wir, was er schreibt!«
Indessen erhob sich Frau Belling: »Ich möchte vorschlagen, daß wir uns zunächst etwas an die frische Luft begeben und im Garten ergehen. Derweilen wird hier abgeräumt. Dann nehmen wir in der Diele den Kaffee, und dabei könnte ja vorgelesen werden.«
»All right!« nickte Lamettrie. »Die Pause wäre mir auch deshalb willkommen, weil ich mit Mister Friedrich mal auf die Sternwarte gehen möchte, um das Wetter zu beobachten. Welchen Polo-Grad haben Sie zuletzt notiert, Friedrich?«
»Siebzehn vier, Und das war ne Viertelstunde vor dem Essen. Jetzt haben wir gewiß über achtzehn.«
»Sind Sie abkömmlich, Friedrich?«
»Freilich ist er's«, antwortete Frau Belling. »Geht nur! wie lange habt Ihr etwa zu tun?«
»Keine halbe Stunde!«
»Sagen wir also um drei Uhr Kaffee auf der Diele!«
Lamettrie verneigte sich kurz und ging mit seinem Faktotum.
Erläuternd sagte Gerhart zu Helmut: »Der sogenannte Polo ist ein Apparat, den Onkel erfunden hat, um die elektrische Spannung der Wetterdünste zu messen. Das kommende Gewitter interessiert ihn.«
»Uh, das Gewitter!« seufzte Hulda, »das macht ihm jedesmal zu schaffen. Weißt Du, Mutter, im August, als das Wetter den Hagel und Sturm brachte, damals hat er seinen Anfall bekommen. Und heute scheint es bei ihm auch nicht geheuer zu sein.«
»Kommt mir auch so vor«, meinte besorgt Frau Belling und wandte sich an ihren Neffen: »Was hatte er denn mit Dir? Er war so merkwürdig gereizt. Weshalb denn?«
»Kannst Du noch fragen? Weil er ein armer Narr ist! Mir platzt auch mal die Geduld, Uff! gehen wir an die frische Luft! Höchste Zeit, daß dies verdrehte Getriebe mal aufhört!«