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29. Der Traum

Zu Hulda zog es den Greis, ihre heimliche Verlobung hatte ihn stürmischer bewegt, als er den hochgeschätzten Bräutigam merken ließ. Wie er durch die Beete seiner Lieblingsblume, der weißen Lilie schritt, übermannte ihn das schmerzliche Bewußtsein, Hulda, sein Kind, werde nun ganz einem Andern gehören, und ihm nie mehr das sein können, was sie bisher war. Obwohl er ihr gerade diesen Andern gewünscht hatte, vergaß er sein Alter und trauerte über das, was ihm nun vermeintlich geschmälert werden mußte. Sie, die bisher kein Geheimnis vor ihm hatte, ihre wichtigste Lebensentscheidung hatte sie getroffen, ohne ihn ins Vertrauen zu ziehen.

Als er Hulda bei den Rosen traf, trat er feierlich auf sie zu und gab ihr einen Kuß auf die Stirn, indem er wehmütigen Blickes raunte: »Zur Verlobung alles Gute! Bleibe mein Kind!« Aufschluchzend wandte er sich straks und ging in der Richtung seiner Einsiedelei.

Erschrocken stand Hulda und blickte ihm nach. Dann plötzlich kam ihr ein Verständnis – sie eilte ihm nach und hing sich an seinen Arm. »Onkelchen, ich danke Dir! Aber weshalb bist Du so traurig und wortkarg?«

»Wortkarg?« dumpf kam es zurück – »Du selbst bist wortkarg gewesen, hast mir nicht anvertraut, daß sich Dein Herz ihm zugeneigt hat.«

»Und billigst Du es nicht?«

»Doch! Ich habe Dir diesen Mann im Stillen gewünscht.«

Sie drückte zärtlich seinen Arm: »Nun also!«

»Aber« – raunte er weiter – »daß Du Deinem Vater nichts von ihm gesagt hast, betrübt mich – um so mehr, als ich Euer Vertrauen auch wirklich nicht verdiene – ich habe Dir ja so lange von meinem Vorleben, von Julia geschwiegen; das war mein Unrecht.«

»Onkel, komm doch über die Sache hinweg!«

»Ich kann nicht!« stöhnte er, ihre Hand erfassend. Dann flüsterte er: »Komm, ich zeige Dir noch ein Bild und erzähle Dir jetzt von ihr.«

Tiefbetrübt ging Hulda an seiner Seite und wagte nicht, ihm dreinzureden. Sie kamen zur Einsiedelei, die er aufschloß. So waren sie denn wieder im Raum der Unseligkeit. Aus dem Stahlfach, das in die Wand eingelassen war, holte der Alte das Bild der Schauspielerin, auch ein paar kleine Gelegenheitssphotographien, die er auf den Tisch warf.

Mit einer Handbewegung lud er Hulda ein, auf der Bank Platz zu nehmen, und begann mit leiser Stimme: »In ihrer Julia-Rolle hat sie sich photographieren lassen für mich – der ich im Theater ihr Partner Romeo war.«

»Du im Theater? Bist Du denn mal Schauspieler gewesen?«

»Nicht von Beruf, aber mein Vater, der an einer Bühne Inspizient war, hatte mich mit der Theaterwelt vertraut gemacht und mein Talent entwickelt. Wie nun jener Bühnenstern aus Budapest abtelegraphierte, kam der Theaterdirektor sofort zu mir nach Bonn, wo ich studierte, und bat mich flehentlich, ihm aus der Verlegenheit zu helfen. Ich solle die Romeo-Rolle spielen, die ich in einem Dilettantenverein ja glänzend gegeben hätte. Ich sträubte mich mit dem Hinweis auf meine Professoren. Er entgegnete, jeder Zuschauer werde mich für den Gast aus Budapest halten; von dessen Absage solle nichts verlauten. Der Theaterzettel werde den Romeodarsteller nicht mit Namen bezeichnen, sondern mit drei Sternen, und man werde glauben, damit sei der in den Zeitungen angekündigte Gast gemeint. Zudem werde mich ein Bart und das Kostüm ganz unkenntlich machen. Auch die Juliadarstellerin, die zunächst ungenannt bleiben wolle, werde mit drei Sternen bezeichnet. Sie sei für mich eine würdige Partnerin, obwohl bisher gar nicht bekannt. Er habe sie entdeckt, und wolle sie nach gelungener Aufführung gleich engagieren. So wurden meine Bedenken überwunden, und meine Neigung fürs Theater entschied, daß ich den Antrag annahm. Ich fuhr also mit dem Direktor nach Aachen und ging sofort zur Probe ins Theater. Die Julia spielte mit so viel natürlicher Leidenschaft, daß der Direktor strahlte. Unsere Vorstellung konnte viermal stattfinden. Daß dann für uns das Scheiden gekommen war, wollte mir nicht passen. Schon bei der ersten Begegnung machte sie mir einen tiefen Eindruck, und das Zusammenspiel mit ihr entfachte meine ganze Leidenschaft. Noch nie hatte ein weibliches Wesen solche Gefühle in mir erweckt, und es blieb nicht verborgen, daß auch sie Feuer gefangen hatte. So ließ sie sich vor unserem Abschied gerne noch zu einer Landpartie überreden.«

Die Erinnerung bewegte den alten Mann so heftig, daß er sich setzen mußte, und eine Pause machte. »Ja, Landpartie! Das war die Wende unseres Schicksals« – fuhr er düster fort. »In der Nacht zuvor lag ich schlaflos, bis gegen Morgen mich lähmende Mattigkeit in einen Traum versenkte, der für mein Leben prophetisch war.«

»Weiße Lilien sah ich, köstliche Früchte schmauste ich mit Julia, und sie umarmend fühlte ich in den Adern ein Feuer, daß ich ausrief: Koste es was es wolle, bleibe! liebe mich! – Dann auf einmal sah ich von den Bäumen welke Blätter taumeln, Herbstwind stöhnte und es rauschte bang das falbe Schilfrohr eines Weihers. Und wie ich in die düstere Flut starre, was sehe ich? Ein marmorblasses Antlitz unter Wasser – ein Mädchenkörper von schaurig süßen Formen – meine Julia – oh ertrunken!« Er schrie das Wort heraus. Die entsetzte Hulda umarmte und streichelte ihn.

Dankbar blickte er sie an; allmählich wurde er ruhiger und erzählte weiter: »Mit Herzklopfen und in Angst gebadet, erwachte ich und fühlte mich vom sonnigen Septembermorgen umschmeichelt, und meine Julia war nicht ertrunken. Mit ihr hatte ich eine Wanderung nach dem Neutralgebiet Moresnet verabredet. Glückselig, daß sie atmete, und fröhlich mir am Arme hing, wollte ich mit ihr ins selige Land der Liebe und Jugend ziehen. In einem Kiefernwäldchen war der Punkt, wo vier Länder zusammentreffen. In ausgelassener Stimmung warf ich mich auf den Boden, so daß ich das eine Bein in Belgien, das andere in Holland hatte – meinen rechten Arm im Preußischen, den andern im Neutralland. Und ich deklamierte: Romeos Herz liegt neutral, weder den Montagues gehört es, noch den Capulets, sondern seiner Julia! – mit meiner Rechten beschwör ich's. Trällernd gingen wir in ein Gartenlokal, wo wir unter Obstbäumen frühstückten. An der Straße war eine Bude, wo diese Photographie des Paares entstanden ist.«

Hulda sah die Schauspielerin, wie sie in hellem Sommerkleide neben einem schlanken Manne stand. Das vorwiegend ernste Antlitz, das in Heiterkeit und Güte strahlte, wirkte etwas verlegen. Der übermütige Jüngling war elegant gekleidet und von auffallender Schönheit.

»Erkennst Du noch etwas von Deinem Onkel?« sprach er schwermütig, und zweifelnd forschte sie im felsenhaft durchfurchten Greisengesicht.

»Vor einem halben Jahrhundert war's,« sprach er matt.

»In einem Gasthause wollten wir die Nacht zubringen und abends Abschied nehmen, so war ihr Wunsch, ohne Begleiter wollte sie in aller Frühe zum Aachener Bahnhof fahren.

Schlaflos lag ich in meinem Gasthausbett, gequält von den Gedanken, daß ich sie niemehr wiedersehen sollte. Und doch war sie nur durch eine dünne Zimmerwand von mir getrennt. Sicherlich litt auch sie, und mit Grollen fragte ich mich: Wer sind die Mächte, die solche Pein über uns verhängen? Alles in mir lehnte sich gegen sie auf, und was mein Traum mir gezeigt hatte, war unser unabwendbares Schicksal.«

Die Verklärung, die über sein Gesicht huschte, wich sofort wieder einer verzweiflungsvollen Düsterkeit, und er stöhnte: »Ja, der Traum – war Ahnung! Es kam jenes unselige Ende ...«

Schaudernd schwieg Hulda. Doch wie der gebeugte Greis still vor sich hinweinte, kam ihr der tröstliche Gedanke, den sie aber nicht aussprach: Weinende Männer sind gut. Schließlich fand sie die Frage: »Und Ihr habt Euch nicht wiedergesehen?«

Er blickte wie einer, der aus Versunkenheit zu sich kommt. »Ach, – Du weißt es ja noch nicht wie es nun kam. Wiedergesehen haben wir uns, unsere Vorsätze waren natürlich vergessen. Wir blieben noch ein paar Tage zusammen und schwelgten in Seligkeit – und als die Trennungsstunde schlug, versprach ich ihr, zu ihrem ersten Auftreten wieder nach Aachen zu kommen. Wir wechselten dann eine Reihe von Briefen, und ich erfuhr, daß sie zunächst nur in kleineren Rollen ohne Namensnennung auftreten werde, mich daher bitte, erst im November zu der Nora-Aufführung zu kommen. Diese Rolle brachte ihr großen Erfolg. Bald darauf aber entschied es sich, daß sie ihre Bühnenlaufbahn aufgeben wollte.

Warum? Dies zu beantworten, fehlt mir heute die Kraft. Laß mich jetzt, bitte, allein! Ich möchte diese Nacht wieder in der Einsiedelei bleiben!«


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