Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

22. Der Glücksvogel

Sehr früh war Helmut wach. Daß es draußen tagte, merkte er am Flöten der Amsel, der schwarzen mit dem gelben Schnabel. Er hatte sie oft beobachtet, wie sie gleich einer raschelnden Maus durch Gebüsch über den laubigen Boden schlüpfte, oder bei Sonnenaufgang auf einem hohen Aste ihr lautes Lied anhub; man könnte es noch eher ein Rezitativ nennen.

Die Augen zugekniffen, um womöglich noch etwas Morgenschlummer zu finden, bekam Helmut immer wieder die Amselstrophe zu hören: »Weiber Deern, Weiber Deern! Hört, o hört, ihr Lüt, ihr Lüt, wie schön ich flötatüten tu! immer süsseken mit Gefühl, jawöhl!«

Als die Sonne in rosa blühende Apfelbäume schien, begann das Geschmetter des Buchfinken: »Zieh, zieh, Melodie, mit Trillern verziert.«

Weil solch Lärmen mannigfaltiger Stimmen schließlich den Gast aus den Federn getrieben hatte, zog er den dunkeln Vorhang zurück, und in die Kammer strömte sonniger Tag. Helmut sah mit Vergnügen, daß er an seiner Stube eine Veranda hatte, die in den Rosengarten führte.

Als er mit kalter Waschung den Rest von Müdigkeit abgetan hatte, bemerkte er, daß bei den Rosen Hulda mit der Gießkanne stand. Eine Wonne überkam ihn, sofort begab er sich hinunter.

Strahlend, mit vollem Blick schaute sie ihm entgegen und setzte die Gießkanne weg, um ihm die Hand zu reichen:

»Ein schöner Maimorgen! nur zu wenig Tau ist gefallen. Kommen Sie! Wir frühstücken im Wintergarten. Leider mag der Onkel nicht mitmachen. Ich habe ihm gestern nach einbrechender Nacht ein paar Gedichte vorgelesen. Er hat aufmerksam zugehört, schleppt sich aber noch immer mit seinem Möller-Elend herum. Seltsam, daß in seinem Schicksal offenbar eine Frau eine Rolle spielt, die an ihre Großmutter erinnert.«

»Duplizität der Fälle! Gerharts Vermutung, es liege ein und derselbe Fall vor, ist gar zu abenteuerlich. Wenn Gerhart erst den Charakter und Lebensgang meiner Großmutter erkundet, wird er diese Fährte aufgeben.«

»Wir wollen ihm die Klärung dieser Verhältnisse ruhig überlassen und nicht voreilig ein abschließendes Urteil wagen. Mutter hat diese Nacht so wenig Schlaf gefunden, daß sie jetzt noch etwas ruhen möchte und also nicht an unserem Frühstück teilnimmt.«

Das war einesteils eine angenehme Aussicht – er war ja verliebt. Doch sprach er auch sein aufrichtiges Bedauern aus und fügte verdrossen hinzu: »Sehen Sie, das kommt davon, daß ich nicht wenigstens diese Nacht noch in Berlin geblieben bin, sondern Sie noch gestern abend mit meinem Gespräch beunruhigt habe.«

»Aber nein!« entgegnete Hulda – »im Gegenteil, wir haben Sie mit Sehnsucht erwartet. Sie sind ja unser Trost und bleiben hoffentlich noch recht lange hier.«

Freudig überrascht sah er in ihre strahlenden Augen, und vom Gefühl überwältigt, neigte er sich dankbar über ihre Hand. In seine zärtliche Rührung mischte sich aber ein Anflug von Wehmut. Er bedachte, welcher Abstand ihn von der Geliebten trenne; dieser würde wohl nicht mehr als Freundschaft gestatten.

Hulda, die seine Anwandlung von Trübsinn sah, deutete sie falsch und ließ sich von ihr anstecken, indem sie ihre traurige Lage erwog, als Verlobte eines Gefallenen und Stütze des schwermutsvollen Sonderlings. In ihre Augen traten Tränen.

Der junge Mann dachte: Jetzt schließe sie tröstend in deine Arme! aber es blieb bei dem phantastischen Wunsch und verlegen schritt er an ihrer Seite dahin – zum Frühstück wollten sie gehen.

Dicht vor ihnen schlug ein Buchfink. Hulda blieb stehen und sah seine Munterkeit – wie er hüpfte, und wie die rötliche Brust vom Jubel schwoll. Und Helmut kam es vor, als laute sein Geschmetter: »Bitte, bitte, bitte, lieb ...«

Huldas Lächeln, das sie dem Vöglein schenkte, schien ihm so verständnisvoll, daß er glauben konnte, sie höre dasselbe heraus, und er gedachte des Liedes aus der Jugendzeit: »O du Kindermund, unbewußter Weisheit froh, vogelsprachekund, wie Salomo.«

Im Wintergarten war ein kleiner Frühstückstisch gerichtet. Zerstreut hatte der junge Mann in einem Korbsessel Platz genommen, und sich vom bedienenden Mädchen Kaffee einschenken lassen. Jetzt war sein fragender Blick von einem Holztröglein gefesselt, das gemischte Sämereien enthielt.

»Sie wundern sich, was das soll«, lächelte Hulda, »es ist das Frühstück, mit dem unser Liebling, der vor vier Wochen zugeflogen ist, jeden Morgen bewirtet wird. Wir nennen ihn unsern Glücksvogel. Onkel Lamettrie hat ihn so getauft – nach dem Rufe »Benedikt« – den er von Zeit zu Zeit hören läßt.«

»Ist es ein Starmatz, oder sonst ein abgerichteter Vogel?«

»Starmatz, das nicht! Sondern eine Grasmücke, für die der Volksmund den Namen Kardinälchen oder Schwarzkäppchen hat, weil der grau und hell Gefiederte auf weißem Köpfchen eine schwarze Kappe wie eine Tonsur trägt. Ob es auf Abrichtung beruht, daß er den Laut Benedikt hervorbringt, oder ob sein natürlicher Lockruf so lautet, das wußte der Onkel nicht zu sagen. Aber das Eine steht fest, diese Vogelart ist sehr gelehrig. Unser Gärtner meinte, das Tierchen werde den Namen von Benediktinern im Klostergarten gelernt haben. Genug, wir finden das Vöglein allerliebst – und weil Benedikt der Gesegnete bedeutet, paßt für ihn der Name Glücksvogel. Gleich wird er merken, daß wir hier sind, und wird herein fliegen, das Schiebfenster ist für ihn offen. Er frißt dann etwas von den Sämereien und den Datteln, die ihm der Onkel zum Knabbern hinlegt.«

Helmut wollte sich noch weiter erkundigen, aber husch! der kleine Frühstücksgast war da. Lustig hüpfend grüßte er mit einem deutlichen »Benedikt!« Die goldbraunen Aeuglein blickten neugierig auf das Paar, dann auf den Futternapf, dem das Tierchen hurtig zuflog. Von den Datteln pickte es einige Bröcklein, die im schwarzen Schnäblein verschwanden, dann flog es auf, setzte sich auf einen Blütenzweig und dankte mit seinem Morgenlied. Flötenartig waren die Laute, auch Lerchentrillern ähnlich, nur leise und innig.

»Solchen Gesang« – sagte Helmut begeistert, – »habe ich noch nie gehört. Den könnte man fast noch mehr lieben als das Schlagen der Nachtigall.«

»Es ist eben unser Glücksvogel!«

»Hoffentlich bringt er auch Glück!« meinte Helmut und sah in Huldas strahlende Augen.

Sie nickte sinnend: »Ja, wenn es kommt, wie im Märchen!«

»Welches Märchen meinen Sie denn?«

»Das vom verrosteten Ritter. Kennen Sie das nicht. Dann hören Sie! Die Seite, wo das Herz sitzt, war ihm verrostet. Es war eine Strafe des Himmels, weil er seine Liebste verlassen hatte. Seitdem mußte sie in der Welt umherirren, und in der Fremde gab sie einem Kinde das Leben. Der Ritter aber glaubte nicht anders, als daß sie in ihrer Verzweiflung aus dem Leben gegangen wäre, und zu dem Gram über seine Schuld, kam sein Unglück mit dem schlimmen Rost. Um seine Schande vor den Menschen zu verbergen, trug er auf der linken Hand stets einen Handschuh.«

»Und wurde er dann schließlich geheilt und von wem?«

»Seine Schicksale habe ich nicht mehr genau im Gedächtnis. Genug, auf ruhelosen Irrfahrten begegnete er einem Gärtnermädchen, die von seinem Schicksal tief ergriffen wurde. Weinend sank sie auf die Knie vor einem Marienbild, und flehte für ihn. Da wurde ihr die Antwort: »Du selbst kannst ihn erlösen, wenn du nicht rastest, bis du die Menschen gefunden hast, die ihm grollen, und wenn es dir gelingt, Verzeihung für ihn zu erbetteln.«

»Und wie geht das Märchen aus?« fragte Helmut.

Beide schwiegen. Da machte sich wieder das Vöglein bemerkbar mit seinem Lockruf: »Benedikt!«

Nach einer Pause meinte der junge Mann: »Ich hoffe, das Gärtnermädchen hat ihn noch erlöst.«

»Allein hätte sie es nicht vermocht. Und einer, der ihr helfen konnte, gehörte selbst zu den Menschen, die dem unglücklichen Ritter seine Schmach nicht vergessen mochten.«

Helmut horchte auf, faßte Mut und sagte: »Nun weiß ich, wie das Märchen weiter gehen sollte. Der Eine, der helfen konnte, hegte für das Gärtnermädchen eine heimliche Liebe, und ...«

Beklommen hauchte sie: »Warum mußte denn seine Liebe heimlich bleiben?«

»Weil er ein armer Schlucker war, der ihr nichts bieten konnte.«

»Aber die Liebe ist doch alles!«

»Benedikt«, so hörte man wieder des Vögleins Ruf. Und der Bann war gebrochen: Seine Arme schlang Helmut um die Geliebte, den Kopf an seine Brust gelehnt, schaute sie ihm glückselig in die Augen.


 << zurück weiter >>