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31. Wiedergeburt

»Onkelchen, Väterchen!« rief Hulda, die zur Einsiedelei hastete. Außer sich vor Freude schwenkte sie einen Brief: »Diesen Eilbrief erhielt Mutter von Gerhart aus Aachen, frohe Botschaft!«

Und mit stockendem Atem las sie den Wortlaut: »Onkel ist durch schwermütige Einbildung irregeführt; der Polizeidirektor von Aachen hat mir bescheinigt, was ich in Abschrift beigebe: Das Mädchen, das man November 1872 aus dem Frankenberger Weiher zog, war keineswegs die Schauspielerin Erlenbach. Diese hat ihren Vertrag mit dem hiesigen Stadttheater Ultimo 72 beendet und ist von hier verzogen. Wohin, wird dieser Tage festgestellt. Zur amtlichen Auskunft füge ich in Eile den Ausdruck meiner innigen Freude hinzu und die besten Wünsche für alle. Hoffentlich ist der Onkel wohl, und weilt Helmut wieder in Eurem Kreise. Ich habe voraussichtlich noch einige Tage zu tun. Euer Gerhart.«

Wortlos riß der Onkel den Brief aus Huldas Hand und suchte geweiteten Auges den Wortlaut zu prüfen – aber die Buchstaben tanzten ihm vor den Augen, und ein Zittern machte ihn unfähig, sich auf den Füßen zu halten. Blaß wurde er, dann dunkelrot – von neuem griff er zum Brief, und wie er jetzt gelesen und abermals gelesen hatte, sank er zusammenbrechend auf beide Knie, Tränen rollten aus den starrenden Augen, und es kam ein Geflüster: »Ist es denn möglich? Ich habe sie – nicht in den Tod getrieben?«

»Nein, Onkelchen!« versicherte Hulda, indem sie bald lachte, bald weinte: »Siehst Du! Ich habe es immer gesagt, Du bist ein Schwarzseher, hast Dir das Schaurige nur eingebildet

» Habe ich das? Ach ja!« sagte er – wie ein Kind, das aus einem Angsttraum erwacht ist und seine Gespenster nicht mehr sieht.

Nun umarmte er Hulda und schaute mit verwandelten Augen in die Welt. Dann mußte er sich setzen: »Bin müde! Bitte, lasset mich allein! Ich bedarf der Ruhe.«

Helmut umarmte den Erlösten, und dieser drückte ihn zärtlich an sich.

Als der junge Mann mit seiner Braut draußen war im Sonnenschein und ihr ins leuchtende Auge schaute, umfing er sie stürmisch und sie gaben sich Kuß auf Kuß, so beglücke sie diese Wendung des Schicksals. Auf einmal stand lächelnd neben ihnen Frau Belling, und nun hing die Tochter am Halse der Mutter. Dann berichtete man, wie günstig Helmuts Unterredung den Onkel beeinflußt habe, und daß Gerharts Nachrichten dem Verstörten wohl völlige Befreiung bringen dürften.

Inzwischen rang der Alte in seiner Einsiedelei, sich zu sammeln. Wieder las er und dachte nach. Helmut war's, der ihm den Sinn zur Beschaulichkeit gewandt hatte. Es tat ihm wohl, daß sein Ich einem unendlich Erhabenen als Glied eingefügt sei – nach Helmuts Ueberzeugung.

Verwundert blickte der Sonderling ringsum, und wie er sich allein fand, legte er die Hand an seine Stirn. Dann, nach Abriegelung der Außentür, stieg er die Treppe zur Kammer empor, warf sich, bekleidet wie er war, auf sein hartes Bett und seufzte tief. Lauschend empfand er die Einsamkeit, die ihn bisher selbstquälerisch gestimmt hatte, als eine Wohltat. Einmal kam es ihm vor, als höre er das sanfte »Biwäwü« vor seiner Fensterluke flöten – dann fühlte er sich wie Faust, der nach Margaretens grauenvollem Ende am Busen der Natur Ruhe sucht und auf blumigem Rasen von Elfen eingeschläfert wird. Ah! Und diese bedeuten die zarten, wunderbaren Kräfte der Lebenserneuerung, die uns allen eine Tatsache sind,

»ob er heilig, ob er böse,
jammert sie der Unglücksmann.«

Bald verrieten die langen Atemzüge, daß auch diesem anderen Faust aus dem Kosmos die Heilung quelle.

Nachdem er so ein paar Stunden lang geschlafen hatte, wurde er wach und vernahm, wie Mailuft säuselte, wie die segelnde Schwalbe jauchzte: »Mir wie dir – für und für – ewige Zier!«

Schüchtern schlich ein Lächeln über sein verhärmtes Antlitz, die alte Rüstigkeit fühlte er wiederhergestellt, und er machte sich auf, seinem Wirkenstrieb zu folgen.

Zum Erdgeschoß hinuntergestiegen, wo auf dem Tisch noch immer Gerharts Brief lag, überflog er noch einmal die Zeilen des Polizeidirektors, sammelte seine Gedanken, und indem sein Auge auf dem Bilde Julias haften blieb, erinnerte er sich, wie sieghaft und doch demütig sie ihn angelächelt hatte, als er am Tage nach der Shakespeare-Vorstellung einen gemeinsamen Gang durch Aachen vorschlug; wie sie dann vom Rathaus und dem Marktbrunnen, der das Standbild des großen Karl trägt, zum jüngsten Schoßkinde der alten Kaiserstadt kamen, zum Polytechnikum. »Kein Geometrieloser« – so stand auf Griechisch beim, Treppenaufgang – »soll hier eingehen.« Ja, aus der Mathematik hervor wuchs der vielverzweigte Technik-Baum, aus dem Sinnen eines Pythagoras und Euklid. Und in der Neuzeit kam dazu, was Leibniz und Newton erfanden: die Unendlichkeitsrechnung.

Von Unendlichkeit hatte Helmut gesprochen, ein Wort, das als Samenkorn einer modernen Entdeckungstechnik zur Geltung gelangen würde. So grübelte der Alte, und was seinem Geiste den Flug verstattete hinaus übers Reich der Schwere, war Helmuts Aufschau zu jener Region, die über das Unwesen des engen Ich und seiner unseligen Geschicke erhaben hinweggeht, immer klarer, immer freier ...

Aber auch was der Mathematiker mit dem Unendlichkeitszeichen, mit der wagerechten Brille meint ∞ Unendlichkeitszeichen, ist grenzenlos ...

Aha! Er will sagen, o sei ebenso wie ∞ Unendlichkeitszeichen das Grenzenlose, das Ungroße. Und weiter will er sagen, folglich besteht zwischen beiden, zwischen dem Unendlichen und der Null, gewissermaßen eine Selbheit.

Wie aber wäre das denkbar? Waltet zwischen dem Unendlichen und der Null nicht vielmehr ein Gegensatz? Ja und nein! Gegensatz und zugleich Selbheit. So etwa, wie Hell und Dunkel, die beide dem Licht angehören; Heiß und Kalt, die doch Wärmegrade sind, positive und negative Elektrizität, Nordpol und Südpol, die einander gegenüberstehen und gleichwohl innige Gemeinschaft haben.

Unendlich und Null sind Gegensätze, und es bewahrheitet sich hier jenes Zusammenfallen der Gegensätze, das mittelalterliche Mystik behauptet. Und auf einmal war dem Grübler noch etwas Anderes klar: Daß man die Unendlichkeit polar fassen muß, um alsbald zu begreifen, daß sie Allmacht bedeutet und alle Endlichkeit vermöge ihrer Polarverschmelzung hervorbringt. Symbolisch ließe sich das durch die Formel ausdrücken ∞ x 0 = e, wobei e alles mögliche Endliche bedeutet. Allmacht bedeutet die unbegrenzte Fülle von Möglichkeiten – ein unaufhörliches Walten und Schaffen. Wie auch immer das Ergebnis von ∞ x 0 ausfallen mag, stets ist es eine Größe, der man Ganzheit zuschreibt, also gleich Eins setzen darf. Gleichbedeutend sind die Formeln ∞ x 0 = e und ∞ 0 = 1. Und ergibt sich hieraus nicht die anerkannte Formel 0 = 1 geteilt durch ∞? Null bedeutet also in unserer Rechnung endlose Teilung, unaufhörliche Abnahme, und ihr Gegenpol ist die unaufhörliche Zunahme, durch ∞ bezeichnet. Nicht starr also gilt es, die Unendlichkeit zu fassen, sondern als Funktion, die niemals aufhört – nach beiden entgegengesetzten Richtungen.

»O Ewigkeit, du Donnerwort!« murmelte er, und erhabenes Rollen glaubte er zu hören – da flammte ihm innen ein gewaltiger Blitz, und von einem Ende des Himmels bis zum andern sah er das ganze Nachtgewölk – so kams ihm vor – hell erleuchtet, so daß plötzlich ein Gewimmel von Wolkenbergen und heimlichen Schlüften offenbar wurde. Zugleich erklang es wunderbar – ein Kosmos-Sang, eine Harmonie der Sphären ... oh! was war das? Ewigkeitsschau?

Von einer doppelten Unendlichkeit lautete die seltsame Rede Helmuts, von einer vollkommenen und einer nichtigen. Was wäre denn das: Nichtige Unendlichkeit? Meinte nicht Helmut, die »Null« wär's? weil sie ohne Ende sei. Letzteres stimmt, sie hat ja keinerlei Größen.

Diese philosophisch deutbare Rechnung bestätigte dem Greis die uralte Weisheit des Herakleitos, daß die zahllosen Gegensätze des Weltalls im Ewigen zusammenfallen. Ein polarer Gegensatz besteht nur für unseren Standpunkt, überall setzen wir Grenzen, in Zeit und Raum ein Zweierlei: Wir unterscheiden Tod und Leben, aber beide sind eins. Der Ewige ist Nacht und Tag, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Sättigung und Hunger. Alles fließt, alles wird aus allem, es gibt nichts Bleibendes. Wenn man die Schöpfung derart auffaßt, als sei sie auf einmal fertig aus der Hand eines Schöpfers hervorgegangen, – so sind das Irrungen, die aus dem falschen Begriff einer abgeschlossenen Unendlichkeit hervorwachsen. Schaffen ist kein zeitlicher, kein begrenzter Vorgang, sondern unendliches Funktionieren.

Jeden Tag, ja jeden Augenblick waltet diese Funktion. An meinem Schicksal ist das offenbar ... O Unendlichkeit, Ewigkeit, mein Gebet hast du nicht nötig. Aber ich, dein Geschöpf, sehne mich, bewußtes Glied zu sein jenes unendlichen Lebens, das uns in sich weben läßt. Unzählige Masken hat es – Ordnung heißt es, Naturgesetz, Logik, Sinn des Ganzen – aber auch Harmonie und heilige Liebe.


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