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48. Das Meer der Liebe

»Auch über ihre sittliche Weltanschauung« – fuhr Gerhart fort – »gibt ihr Tagebuch Aufschluß. Gott, schreibt sie, ist die Liebe. Er ist in der Tat nichts als Lieben, Güte, Wohltun, nach der Art einer Mutter und eines echten Vaters. Denkt man dabei an eine übernatürliche Persönlichkeit, von der solches Lieben ausgeht, oder hält man sich ohne begriffliche Vorstellungen an Tatsachen, wie Menschenliebe, Idealismus und die fast allen Lebewesen eigene Hingabe an Ihresgleichen – das ist im Grunde Nebensache. Solches Geschehen ist einfach da – überflüssig, für solche Ströme noch die Quelle zu suchen. Weshalb denken sich Kirchenchristen das göttliche Wesen als eine Person? Stilles, gleichmäßiges Genügen, eine tätige Ruhe und eine nie rastende, nie hastende Tätigkeit, einen Frieden, der nicht feiert, sondern immer wohltuend wirkt und darin seinem inneren Gesetz folgt – so möchte ich mir Gottes Seligkeit denken! Sehnsucht hat man nach einem Gott, von dem es heißt: Er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen wie über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte.

Was ist unter Allmacht der Liebe zu verstehen? Im All die zahllosen Formen und Regungen der Güte und des Wohltuns, die sich an Lebewesen offenbaren, nicht bloß an Menschen, sondern auch an Tieren und in der Pflanzenwelt. Sie schließen sich für unser Begreifen zu einem Meer der Liebe zusammen. Sei du eine Welle in diesem Ozean, und finde darin dein Genügen! Dann hast du am Ewigkeitsleben Anteil und kannst sprechen: Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde! Gott denke ich mir nicht als Schöpfer und Beherrscher der Natur, sondern lauter Güte und Liebe ist er. Und in wem dieser Gott lebt, der hat in sich Seligkeit, wie auch sein äußeres Leben sich gestalten mag. So ist das Himmelreich in dir; wähne nicht, daß es dich erst in einer jenseitigen Welt begnaden kann!

Die Kraft zu lieben kommt dir aus der Allgottheit. Durch ihre Liebe bist du umgewandelt worden, und täglich wirst du erneuert, wirst zum Bilde Gottes, dessen bist du so gewiß wie deines eigenen Seins; denn dein Sein ist nicht zu trennen von der Liebe Gottes, und anderen Lebenswegen der Menschen. Daß die Liebe Gottes ewig ist und du ewig in ihr lebendig sein kannst, das siehst du klar. Wohlan, woran zweifelst du noch? O Seele, verbanne deine eigene Schwachheit! Weil alle diese Lehren abweichen in Vielem von dem, was du selbst in deiner Jugend gelernt hast, weil du nur allmählich, unter tausend bangen Fragen und schweren Kämpfen dich hindurchgerungen hast zur Wahrheit, darum willst du diese Wahrheit immer noch nicht als solche ganz und ohne Rückhalt umfassen. Weil du so allein bist mit deiner Erkenntnis und dem Worte Gottes an dich, darum taucht der Zweifel in dir auf.

Blicke hin auf die Menschen, die unter sich übereinstimmen; siehst du nicht, daß sie einig sind mit dir in einem Teil, daß du aber von ihnen abweichst in einem anderen? Und siehst du nicht auch, daß deine Abweichung von ihnen wahr und recht sein kann? Nach ihrer Redeweise ist Gott die Liebe! Das ist er auch wirklich! Aber wie haben sie Gott als die Liebe gedacht? Entweder haben sie aus der Liebe die Vollkommenheit gemacht, welche alles kann, alles in sich trägt, Gutes und Böses, Liebe und Haß; und so haben sie aus einem Gott der Liebe einen Gott gemacht, der Liebe und Unliebe ist, und nur um Gott als Schöpfer und Regenten zu behalten, haben sie den wahren Gott verdorben und verkehrt. Oder sie denken Gott als eine große Kraft, als einen Trieb, sich auszugestalten in der Welt, oder wie einen Künstler, welcher den Weltgedanken in sich trägt, und den es drängt, ihn außer sich, in eigner Wirklichkeit der Welt auszuführen. Beides ist nicht die Liebe, wie Gott sie ist, beides ist der Trieb, wie er in den Dingen der Natur sich zeigt und Gutes wie Böses daselbst auswirkt.

Die Liebe muß fragen: ist es gut, das zu tun, wozu mein natürliches Verlangen mich führet? so fraget menschliches Lieben, weil's nicht reine Güte ist. So kann Gott nicht fragen; denn er ist lauter Liebe, nichts als Liebe, als solche Liebe kennest du ihn. Und weißt du nicht, wie die großen Weisen es machen und die Frommen? Sie sagen, die Welt und alles in ihr muß gut sein, denn es ist von Gott, und Gott ist nichts als Güte und Liebe; aber dabei gestehen die Weisen, sie vermöchten nicht, die Welt selbst ihren großen Zügen nach, als das Werk solcher Liebe zu erkennen. So schließen sie mit Entsagung; und die Frommen sprechen: alle eure Zweifel werfet auf den Herrn; was jetzt dunkel ist, wird einst Licht werden, die Weisheit Gottes wird sich herrlich enthüllen am Ende der Tage, in der Ewigkeit.

Und was sagst du? und erkennst es nunmehr als göttliche Wahrheit? Du sagst, Gott ist die Liebe, aber eben weil er durch und durch Liebe ist, ist er nicht Schöpfer, nicht Regent. Die Liebe, als die wir Gott kennen, verbietet uns, ihn als Schöpfer zu denken, als welchen wir ihn nie erkennen und nie erkannt haben. Alle Beweise, daß Gott Schöpfer und Weltursache sei, haben sie sich nicht längst als null und nichtig herausgestellt? Aber daß Gott die Liebe ist, das ist in den Herzen lebendig und Jedermann kann sich davon Gewißheit verschaffen. Diese Liebe, welche Gott ist, sie führt nicht zur Annahme, daß er die Welt geschaffen habe, sondern sie macht es unmöglich, dies auch nur einzubilden.

Also was ist es, daß du verzagst über deine Gedanken, da sie doch hier die Gedanken Gottes selber sind? Du kennst, was man fälschlich zusammenzuzwingen gemeint hat; du sonderst, was nie vereint war, was kein Verstand der Verständigen, keine Frömmigkeit der Frommen je zum Frieden brachte. Du sprichst aus, was Millionen dunkel vorschwebte, für das sie nur das rechte Wort nicht fanden. Darum scheue dich nicht, sprich dich aus, aber ganz und vollständig! Alles, was dich erfüllt über Religion, das trage unter die Menschen; was du so lange im stillen Herzen geborgen, das verkündige auf den Straßen! Es ist Wahrheit, leicht faßliche, klare Wahrheit.«

Gerhart schloß feierlich das Tagebuch und sagte noch: »So lernte diese Seele ihr höchstes Wesen erleben. Dasselbe suchte sie auch in Versen auszudrücken, die sich an Tersteegens Andacht frei anschließen und in der Vertonung die bekannte Choralmelodie aufnehmen. Der Verstorbenen zum Gedenken wird sie uns Hulda singen.«

Sanft setzte die Orgel ein, dann erhob Helmut die Geige, und Hulda sang zu ihrer Harfe:

»Ich bete an die Macht der Liebe –
Wo ist ein Herz, das sie nicht fühlt?
Ergib dich deinem Edeltriebe,
Und all dein Schmachten wird gekühlt.
Mensch, lerne, dich ans Weltall schenken
Und in das Liebesmeer versenken.«

Tief ergriffen verharrte die kleine Gemeinde in Schweigen, und schüchterne Blicke streiften den einstigen Maschinenmenschen.

Dieser saß versunken – aber seine Gefühle wichen von denen ab, die das verlobte Paar beseelten. Wohl war auch er von einem Geloben erfüllt: Hinfort sollten seine Tage dem Andenken an Julia gehören und durchaus der tätigen Menschenliebe. Doch war in seinem Sinnen auch ein tiefes Weh darüber, daß er versäumt habe, seiner Geliebten beizustehen und für sein Kind zu sorgen.

»Onkel Lamettrie!« sagte Gerhart, der sich dem Greis genähert hatte, »verzeih, wenn ich Dich aufgeregt habe! Aber diese Erregung war doch wohl auch eine freudige, nicht wahr? Wir alle sind ergriffen von dem, was wir von Deiner Julia gehört haben, von der Größe ihres Charakters.«

»Gewiß, mein guter Gerhart! Und um keine Welt möcht' ich dies glückselig-schmerzliche Erleben missen. Die Nachsicht, die Julia auch für mich hat, ist überwältigend. Bedenket doch!« – so wandte er sich an Helmut und Hulda, die teilnehmend herzugetreten waren, und die Tränen kamen ihm in die Augen – »bedenket, daß sie sich aus meinem Leben entfernte, um mich zu schonen und mir Konflikte zu ersparen. Ich aber, der ihr kindliches Vertrauen gar nicht verdiente, ich Heuchler, ließ sie bei dem Glauben, ich wolle Priester werden, und war doch nur ein Streber. Die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit hatte mir der Versucher gezeigt, und dieser Versuchung war ich erlegen. Immerhin, damals, als Julia im Sprechzimmer des Arztes war, befiel mich Reue, und ich faßte den Entschluß, sie zu heiraten. Nur hatte ich ihr noch nichts davon gesagt, vielmehr ihr nur Aufregung gezeigt, die sie für Furcht vor den Folgen hielt. Solches Mißverstehen war schuld, daß sie mir sagen ließ, nie werde ich sie wiedersehen – was mein verstörtes Gewissen dahin deutete, daß sie aus dem Leben scheiden wolle ... Unselige Verblendung! Ein täuschender Dämon ergriff von mir Besitz, und als er sich einmal eingenistet hatte, trieb er's immer toller: Ich verlor alle Selbstprüfung und Zucht. So vermag eine einzige schlimme Anwandlung, eine falsche Vorstellung, wenn sie sich einmal festgesetzt hat, unser Selbst zu zerstören und unser Schicksal zu verderben ... Drum verachtet nicht Exerzitien des Charakters. Habet Verständnis selbst für die Mönchsgeißel des Paters Ambrosius! Mir bleibt sie ein ernstes Mahnzeichen.«

Und der Alte führte sein Taschentuch an die Augen.


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