Sagen aus Mecklenburg-Vorpommern
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Die Unterirdischen und der böse Knabe

In Tilsit lebten einst zwei Knaben, die Freundschaft geschlossen hatten, obgleich der eine von gutem, der andere von bösem Charakter war. Sie spielten miteinander oder durchstreiften die Gegend, immer hoffend, etwas Merkwürdiges, gar Schauriges zu erleben. Einmal kamen sie zum Fuß des Tilsatisberges, auf dem einst die Burg des Königs Tilsatis gestanden hatte, von der aber nicht einmal Ruinen übrig geblieben waren. Doch wollten die Gerüchte nicht verstummen, daß Tilsatis und die Seinen gar nicht gestorben waren, sondern im Innern des Berges weiterlebten. Am Fuße des Berges nun öffnete sich inmitten von wüstem Gestrüpp ein Spalt, dessen Tiefe noch niemand ergründet hatte, ja, dem sogar die Ziegenhirten ängstlich aus dem Weg gingen. Und just diesen Spalt entdeckten auf einem ihrer Streifzüge die beiden Knaben. Sie hatten von ihm gehört und ein gewisses Schaudern packte sie, als sie in die Dunkelheit des Schachtes hinabstarrten. Sie konnten nicht den Schimmer eines Lichts gewahr werden, und nichts schien sich da unten auch zu regen. Kein Laut drang aus der Tiefe. Da überkam's den bösen Knaben mit unheimlicher Lust, er konnte nicht anders und stieß seinen Gefährten in die Tiefe. Als ihm zu Bewußtsein kam, was er angerichtet hatte, stürzte er in panischer Angst davon. Zu Hause erzählte er seinen Eltern, sein Kamerad wäre in einem Teich ertrunken. Schnell verbreitete sich die Kunde vom Tod des Knaben, und eine Menge von Leuten begann nach der Leiche zu suchen. Man stakte den Teich ab, der nicht weit von Tilsatisberg, mit Röhricht bestanden, ein Paradies der Wasservögel war. Auf einmal flogen zwei Fischreiher auf, zogen langsam gegen den Berg hin und begannen einen Punkt zu umkreisen. Das lockte dann die Menschen, deren Suche vergeblich geblieben war, zum Hang des Berges, und da öffnete sich plötzlich ein Spalt, und aus ihm trat der verloren geglaubte Knabe hervor, einen Topf in der Hand. Der gute Knabe ließ seine Eltern und ihre Begleiter, die ihn freudig umdrängten, im Glauben, er sei ertrunken, um seinen Kameraden vor Strafe zu bewahren. Er sagte, daß er nach seinem Sturz ohnmächtig geworden und erst auf einem weichen Lager in einer Höhle erwacht sei. Ein Mädchen mit einer goldenen Krone habe ihm Milch gereicht, und da habe er sich an die uralte Mär von der Milchprinzessin erinnert und gewußt, daß er im Innern des Tilsatisberges sei. Erquickt und gestärkt habe er sich vom Lager erhoben und sei dann von der Milchprinzessin durch viele unterirdische Kammern geführt worden, die Kammer der Sonne, die Kammer des Monds, die Kammer der Sterne. Der ganze Himmel sei hineingezaubert in die unterirdischen Gewölbe, und er habe nahe, ganz nahe, ihn sehen können. Ausrufe des Erstaunens und der Bewunderung unterbrachen ihn, doch er fuhr fort: »Die Prinzessin führte mich nun aus den Gewölben des unterirdischen Himmels heraus in einen Saal, in dem nichts weiter zu sehen war wie der Topf, den ich da in Händen halte. Ich möge ihn als Belohnung für mein freundliches Wesen behalten, sagte die Prinzessin und ermahnte mich, die Scherben ja nicht wegzuwerfen, wenn der Topf einmal zerbrechen sollte. Ich nahm den Topf also an mich, und in diesem Augenblick öffnete sich eine Türe. Ich sah das Licht des Tages hereinfluten, schritt weiter und bin nun wieder glücklich bei euch.«

Nun erst fanden die Eltern Gelegenheit ihren Sohn zu umarmen und ans Herz zu drücken. Bei dieser stürmischen Begrüßung entglitt dem Knaben der Topf, er fiel zu Boden und zerbrach in viele Stücke. »O weh«, sagte er, »nun muß ich die Scherben auflesen, so wie mir das die Prinzessin aufgetragen hat. «

Und wie er nun die Scherben aufnahm und seine Eltern ihm dabei halfen, hielt jeder ein Stück Gold in Händen.

Da beschloß der böse Knabe, der sich an der Suche beteiligt hatte, auch sein Glück im Berg zu versuchen. Er schlich sich heimlich zum finsteren Spalt und stürzte sich in die Tiefe. Ohne ohnmächtig zu werden und ohne Schaden zu nehmen, landete er am Grunde des Schachtes. Aber statt der Milchprinzessin erwartete ihn dort ein mürrischer Greis. Er führte ihn durch Kammern, angefüllt mit Totenschädeln und züngelnden Schlangen. Nach langer Wanderung gelangten sie in einen großen Saal, in dessen Mitte auf einem Dreifuß eine Hexe mit flammendem roten Haar thronte. »Die Memelhexe«, schrie er entsetzt auf und schwor, seiner Untat an dem Freund eingedenk, sich bessern zu wollen. Dann fiel er in Ohnmacht und fand sich schließlich im wilden Gestrüpp am Fuß des Tilsatisberges wieder.

 


 


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