Sagen aus Mecklenburg-Vorpommern
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Völkerfreundschaft über Gräber hinweg

In Raghit bei Gumbinnen lebten Deutsche und Litauer in Freundschaft. Aber dem Gesetz gefiel das nicht – es ist schon lange her –, und es wurden eigene Schulen für die deutschen und eigene für die litauischen Kinder errichtet, ja selbst die Toten der beiden Völker trennte man, mochten sie im Leben auch noch so gute Freunde gewesen sein. Es gab in Raghit einen deutschen und einen litauischen Friedhof. Zwischen beiden lag ein kahles Stück Land und darüber, so raunte man sich zu, flögen die Toten hinweg, wenn sie in stürmischen Nächten einander besuchten. Denn die Beschränkungen, die ihnen irdischer Starrsinn auferlegt hatte, verloren ihre Gültigkeit gegenüber Gräbern.

Daß dieses Gerücht auf Wahrheit beruhte, erfuhr ein Handwerksmeister, der sich just in diesem Streifen Brachland ein Haus bauen wollte. Bis zum Richtfest ging alles gut, aber nachdem er ein Dach aufgesetzt hatte, fand er dieses am Morgen nach einer stürmischen Nacht in seine Teile zersplittert weithin verstreut auf dem Boden. Daraufhin zimmerte er ein neues Dach und legte sich, als es fertig war, auf die Lauer. Und wirklich, da konnte er sehen wie sich auf dem deutschen Friedhof die Gräber öffneten, weiße Gestalten daraus emporstiegen und hinüberflogen zu den Gräbern der Litauer. Nach einer Zeit kehrten sie wieder auf dem gleichen Weg zurück, wobei einige von ihnen das Dach, das sie beim Fluge hinderte, einfach wegrissen. Einige Nächte darauf kamen die litauischen Toten zu ihren verstorbenen deutschen Freunden zum Gegenbesuch. Der Handwerksmeister ließ sich nicht dazu überreden, die Gräber mit schweren Steindeckeln zu verschließen. Freundschaften, die über den Tod hinaus währen und stärker sind als das Gesetz der Lebenden, die soll man nicht stören, sagte er.

 


 


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