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In der ehrwürdigen Vorstadt Clerkenwell – es war einst eine Vorstadt – jenem Theile derselben zu, welcher am nächsten an die Karthause gränzt, und in einer von jenen kühlen, schattigen Straßen, deren noch etliche, weit umher zerstreut, in solchen alten Gegenden der Hauptstadt übrig sind – wo jede Behausung ruhig fort vegetirt, wie ein alter Bürger, der sich von den Geschäften zurückgezogen hat, und in seiner Gebrechlichkeit dahinschlummert, bis es im Laufe der Zeit zusammenstürzt und durch irgend einen übermüthigen jungen Nachtreter ersetzt wird, der in Stuck, Schnörkelwerk und allen Eitelkeiten der modernen Zeit prunken will – in diesem Viertel und in einer solchen Straße finden wir den Schauplatz unseres gegenwärtigen Kapitels.
Obgleich seitdem erst sechsundsechzig Jahre verflossen sind, so war doch damals ein großer Theil des gegenwärtigen Londons noch nicht vorhanden; nicht einmal im Hirne des träumerischsten Spekulanten gab es jener Zeit die langen Straßenreihen, welche jetzt Highgate und Whitechapel mit einander verbinden, die Menge von Palästen in den sumpfigen Niederungen oder die kleinen Städte in den offenen Feldern. Zwar war dieser Stadttheil wie heutzutage in Straßen abgetheilt und reichlich bevölkert, aber er sah doch ganz anders aus. Viele Häuser hatten Gärten und Bäume nach der Straßenseite, und ein Hauch von Frische athmete auf und nieder, den man in unseren Tagen vergeblich suchen würde. In der Nähe befanden sich Felder, durch welche der New-River seinen gewundenen Lauf nahm, und wo es zur Sommerzeit luftige Heuerntefreuden gab. Die Natur war nicht so entfernt, nicht so schwer zugänglich als dermalen, und obgleich es in Clerkenwell einen geschäftigen Handelsverkehr und thätige Juweliere zu Dutzenden gab, so war doch der Ort reinlicher und hatte mehr Meiereien in der Nähe, als mancher moderne Londoner glauben würde. Auch fehlte es nicht an Spaziergängen für Liebende, die in schmutzige Höfe ausgingen, ehe noch die Liebenden dieses Zeitalters geboren waren, oder ehe man noch, wie man zu sagen pflegt, an sie dachte.
In einer von diesen Straßen, der reinlichsten von allen, und zwar auf der schattigen Seite des Weges – denn gute Hausfrauen wissen, daß das Sonnenlicht ihre geschätzten Möbel verdirbt, weßhalb sie stets den Schatten einem lustigen, blendenden Lichte vorziehen – stand das Haus, mit welchem wir es jetzt zu thun haben. Es war ein bescheidenes Gebäude, nicht allzu neumodisch, nicht allzu einfach, nicht zu groß, nicht zu hoch, nicht zu keckstirnig mit weiten, glotzenden Fenstern, sondern ein schüchternes, blankes Häuschen mit einem kegelförmigen Dache, das über den obersten, aus vier kleinen Scheiben bestehenden Fenstern in eine Spitze auslief, ähnlich dem dreieckigen Hute auf dem Kopfe eines ältlichen, einäugigen Herrn. Es war nicht aus Ziegeln oder behauenen Steinen gebaut, sondern aus Holz und Mörtel; eben so wenig hatte man bei dem Entwurf eine langweilige, ermüdende Regelmäßigkeit zur Richtschnur genommen, denn kein Fenster paßte zu dem andern, oder schien auch nur im mindesten andere als egoistische Beziehungen zu haben. Der Laden – denn es hatte einen Laden – befand sich, wie es gewöhnlich der Fall ist, im Erdgeschoß; aber nun hörte jene Aehnlichkeit mit irgend einem andern Laden auf. Die Ein- und Ausgehenden gelangten nicht durch eine Treppenflucht dazu, oder konnten gemächlich von der Straße aus eben hineingehen, sondern mußten drei steile Stufen hinunter, wie in einen Keller. Der Fußboden war mit Ziegeln gepflastert, und hierin also jeden andern Keller ähnlich, während statt eines Glas- und Rahmenfensters ein großer, schwarzer, hölzerner Laden fast brusthoch von dem Boden ab angebracht war, welcher bei Tag geöffnet wurde und eben so viel Kälte als Licht, oft aber auch noch mehr, einließ. Hinter diesem Laden war ein getäfeltes Wohnzimmer, welches auf der einen Seite in einen großen gepflasterten Hof, auf der andern aber nach einem um etliche Fuß höher gelegenen, terrassenförmig angelegten Gärtchen hinaussah. Ein Fremder würde geglaubt haben, dieses getäfelte Wohnzimmer sey mit Ausnahme der Thüre, durch die er eingetreten, von der ganzen Welt abgeschnitten und abgeschieden; und in der That bemerkte man, daß die meisten Fremden bei ihrem ersten Besuche außerordentlich gedankenvoll wurden, als stellten sie in ihrem Innern Betrachtungen an, ob die obern Räume wohl anders als durch Leitern und von Außen bestiegen werden könnten. Sie ahnten freilich nicht, daß zwei der anspruchslosesten und unscheinbarsten Thüren, welche der scharfsinnigste Mechaniker auf Erden nothwendig für die Thüren eines Wandschrankes gehalten haben würde, da sie keine Spur von einer Schwelle oder Einfassung zeigten, aus diesem Zimmer nach ein paar Wendeltreppen führten, deren die eine aufwärts, die andere abwärts ging. Diese waren die einzigen Verbindungswege zwischen diesem Zimmer und den andern Theilen des Hauses.
Ungeachtet aller dieser Wunderlichkeiten gab es kein netteres, kein sorgfältiger aufgeräumtes oder pünktlicher geordnetes Haus in Clerkenwell, in London oder in ganz England. Man fand keine reineren Fensterscheiben, keine weißern Fußböden, keine blankeren Kamine, keine glänzenderen Möbel aus altem Mahagoniholz, und überhaupt nirgends so viel Reiben, Scheuern, Putzen und Polieren in der ganzen Straße zusammengenommen. Dieser Punkt wurde jedoch nicht ohne Mühe, Kosten und großen Stimmeaufwand erzweckt, wie die Nachbarn recht gut hörten, wenn die gute Dame des Hauses, die alles überwachte und selbst Handreichung that, an Scheuertagen, welche gewöhnlich vom Montag Morgen bis Samstag Abend währten (einschließlich dieser beiden Tage) zum Rechten sah.
An den Thürpfosten dieser seiner Wohnung gelehnt, stand der Schlosser früh am Morgen nach seinem Zusammentreffen mit dem Verwundeten und blickte trostlos nach dem großen hölzernen Abbilde eines Schlüssels, das, mit lebhaftem Gelb bemalt, welches dem Gold ähneln sollte, vor seinem Hause herunterhing und in einem kläglich knarrenden Tone hin und her pendelte, als wimmere es darüber, daß es nichts aufzuschließen habe. Bisweilen sah er über die Achsel nach einem Laden zurück, welcher von den zahlreichen Merkmalen seines Gewerbes so dunkel und beschmutzt, und in Folge des Rauchs einer kleinen Esse, an welcher sein Lehrling arbeitete, so geschwärzt war, daß ein ungeübtes Auge kaum etwas anderes, als unterschiedliche, ungestalte Werkzeuge, große Bündel rostiger Schlüssel, Bruchstücke von Eisengeräth, hellfarbige Schlösser und ähnliche Dinge erkannt haben würde, welche die Wände zierten und an dem Balken der Decke herunterhingen.
Nach einer langen und geduldigen Betrachtung des goldenen Schlüssels und vieler der eben genannten Rückblicke trat Gabriel in die Straße und schaute verstohlen nach den obern Fenstern. Eines derselben wurde in diesem Augenblick zufällig geöffnet und ein schelmisches Gesicht begegnete seinem Blicke – ein Gesicht, das von dem lieblichsten Paar funkelnder Augen erhellt wurde, auf die nur je ein Schlosser schaute: das Gesicht eines hübschen, lachenden Mädchens, mit Grübchen auf Kinn und Wangen, frisch und gesund – die wahre Verkörperung des Frohsinns und blühender Schönheit.
»Bst!« flüsterte sie, indem sie sich vorwärts beugte und schlau nach dem untern Fenster deutete. »Die Mutter schläft noch.«
»Noch, meine Liebe?« entgegnete der Schlosser in demselben Tone. »Du sprichst, als ob sie die ganze Nacht geschlafen hätte, während sie doch kaum eine halbe Stunde im Bette liegt. Gott sey Dank dafür. Der Schlaf ist ein Segen, ohne Zweifel.«
Die letztern Worte murmelte er nur vor sich hin.
»Aber wie grausam war es von Euch, uns bis zum Morgen hinzuhalten, und nicht einmal zu sagen, wo Ihr wäret, oder es uns wissen zu lassen!« sagte das Mädchen.
»Ach, Dolly, Dolly!« entgegnete der Schlosser, lächelnd den Kopf schüttelnd, »wie grausam war es von dir, gleich nach deinem Bette hinaufzulaufen! Komm zum Frühstück herunter, du Tollkopf, aber leise, daß du deine Mutter nicht aufweckst. Sie muß müde seyn, gewiß – ich bin es auch!«
Die letztern Worte für sich hinsprechend und das Kopfnicken seiner Töchter erwiedernd, trat er, noch immer das Lächeln, das sie geweckt hatte, auf seinem Gesichte, in die Werkstatt, wo ihm zuerst die Löschpapiermütze seines Lehrlings in's Auge fiel, der, um der Beobachtung zu entgehen, geduckt von dem Fenster nach seinem früheren Platze zurückschlich, wo er, kaum angelangt, sogleich lustig zu hämmern begann.
»Wieder gehorcht, Simon?« sagte Gabriel zu sich selbst. »Das ist schlimm. Was im Namen aller Wunder hofft er denn von dem Mädchen zu hören, daß ich ihn immer auf der Lauer ertappe, wenn sie spricht – sonst nie! Eine schlimme Gewohnheit, Sim; eine schleichende, hinterlistige Weise. Ja, hämmere nur drauf los; du wirst mir dieß nicht aus dem Kopf hämmern, und wenn du bis zu deiner letzten Stunde fortarbeitetest!«
So sprechend und mit einem ernsten Kopfschütteln ging er in die Werkstatt und trat vor den Gegenstand dieser Bemerkungen hin.
»Für jetzt genug damit,« sagte der Schlosser. »Höre einmal auf mit deinem verwünschten Geklapper. Das Frühstück ist fertig.«
»Sir,« entgegnete Sim, der mit bewunderungswürdiger Höflichkeit aufsah und eine eigenthümlich kleine Kopfverbeugung machte, die gerade bis an den Hals reichte, »ich werde augenblicklich zu Diensten seyn.«
»Vermuthlich,« murmelte Gabriel, »ist dieß aus ›des Lehrlings Blumenstrauß,‹ ›des Lehrlings Lustgärtlein,‹ ›des Lehrlings Liederheft,‹ ›des Lehrlings Wegweiser zum Galgen‹ oder einem sonstigen erbaulichen Schriftlein. Nun geht er, um sich schön zu machen – das ist mir ein köstlicher Schlosser.«
Ohne zu ahnen, daß ihm sein Meister aus einem Winkel der Wohnstube zusah, warf Sim die Löschpapiermütze weg, verließ seinen Platz mit zwei außerordentlichen Sägen, die zwischen einem Schlittschuhlauf und einem Menuetpas die Mitte hielten, eilte nach einem Waschbecken an dem andern Ende der Werkstatt, und entfernte von Gesicht und Händen alle Spuren seiner früheren Arbeit – die ganze Zeit über mit ungemeiner Gravität denselben Pas wiederholend. Sobald dieß geschehen war, holte er aus einem verborgenen Winkel das Fragment eines Spiegels, unter dessen Beihülfe er sein Haar ordnete und die Ueberzeugung gewann, daß ein kleiner Blutschwör noch immer an derselben Stelle seiner Nase saß. Nach Beendigung seiner Toilette stellte er das Spiegelbruchstück auf eine niedrige Bank und blickte mit der größtmöglichen Selbstgefälligkeit über die Schulter zurück, um so viel von seinen Beinen zu betrachten, als dieses kleine Möbel zurückzustrahlen vermochte.
Sim, unter welcher Bezeichnung er in der Schlosserfamilie bekannt war, oder Herr Simon Tappertit, wie er sich selbst nannte und an Sonn- und Feiertagen außer dem Hause von allen Leuten genannt sein wollte, war ein altmodisches, schmalwangiges, glatthaariges, scharfnasiges, kleinäugiges Bürschlein, wenig über fünf Fuß hoch und in seinem Sinne vollkommen überzeugt, daß er über Mittelgröße sey, allerdings etwas schlank, was er nicht in Abrede ziehen wollte. Gegen seine Figur, die nicht übel gebildet war, aber doch unter die ganz mageren gehörte, hegte er die größte Bewunderung; und über seine Beine, welche in kurzen Hosen wahre Cabinetsstücke von Kleinheit waren, gerieth er nicht selten in ein Entzücken, das an Enthusiasmus gränzte. Er unterhielt auch einige unbestimmte, majestätische Begriffe von der Gewalt seines Auges, obgleich dieselbe auch von seinen vertrautesten Freunden nie ganz ergründet wurde. In der That wußte man auch von ihm, daß er sogar weit genug gegangen war, sich zu rühmen, daß er die hochmüthigste Schönheit durch einen einfachen Prozeß, den er »beäugeln« nannte, zu Paaren zu treiben und zu bewältigen vermöge. Wir müssen jedoch beifügen, daß er weder von dieser Eigenschaft, noch von einer anderen, welcher er sich berühmte, daß er nämlich in Folge derselben Gabe die störrigsten und sogar toll gewordenen Thiere zu bändigen vermöge, je einen Beweis lieferte, der nur halbwegs als maßgebend und befriedigend hätte betrachtet werden können.
Aus diesen Vordersätzen kann man folgern, daß in Herrn Appetits kleinem Körper eine ehrgeizige und hochstrebende Seele eingeschlossen war. Wie gewisse Flüssigkeiten, die in zu engen Gesäßen aufbewahrt werden, brausen, gähren und gegen ihre Gefangenschaft schäumend aufwallen, so schäumte auch die geistige Wesenheit oder die Seele des Herrn Tappertit bisweilen in jenem köstlichen Gefäße, seinem Körper, bis sie sich endlich mit großem Dampf und Gesprudel gewaltsam Luft machte und alles vor sich niederwarf. Er pflegte bei solchen Anlässen den Ausdruck zu gebrauchen, daß ihm die Seele zu Kopf gestiegen sey, und in dieser neuen Art von Berauschung wandelten ihn manche Sparren und Unfälle an, die er oft nur mit Mühe vor seinem würdigen Meister zu verbergen vermochte.
Unter anderen Grillen, mit welchen sich Sim Tappertit unablässig letzte und regalirte (Grillen, welche wie die Leber des Prometheus so oft wieder nachwuchsen, als sie aufgezehrt wurden), hatte er auch eine ungemein große Meinung von seinem Stande, wie denn auch das Dienstmädchen oft Zeuge war, wenn er offen sein Bedauern ausdrückte, daß die Lehrlinge nicht mehr Keulen führen dürften, um die Bürger zu Paaren zu treiben – denn so lautete sein kräftiger Ausdruck. Deßgleichen ging auch das Gerede, er habe sich geäußert, daß in früheren Tagen der ganzen Körperschaft ein Brandmal durch die Hinrichtung des Georg Barnwell aufgedrückt worden sey, die man sich nicht so feige hätte gefallen lassen sollen, denn es wäre am Ort gewesen, von der Gesetzgebung seine Loslassung zu verlangen – anfangs gemäßigt, dann aber im Nothfalle mit Waffengewalt – um mit ihm zu verfahren, wie es der Weisheit genannter Gemeinschaft gut däuchte. Solche Gedanken führten ihn immer zu der Betrachtung, zu welch' einem glorreichen Verbande sich die Lehrlinge noch vereinigen könnten, wenn ein tüchtiger Führer an ihre Spitze träte; und dann ließ er, zum Schrecken seiner Zuhörer, dunkle Hindeutungen fallen auf gewisse waghälsige Burschen seiner Bekanntschaft und auf einen gewissen Löwenherz, der bereit wäre, ihr Hauptmann zu werden, und, einmal im Zuge, selbst den Lordmayor auf seinem Throne zittern machen würde.
Was Kleidung und persönliche Ausstattung betraf, so zeigte sich in Tappertit ein nicht weniger abenteuerlicher und unternehmender Charakter. Er war ohne allen Zweifel gesehen worden, wie er an Sonntag Abenden an der Straßenecke Manschetten von der feinsten Qualität auszog und sie, ehe er heimkehrte, sorgfältig in seine Taschen steckte; und eben so notorisch war es, daß er an großen Feiertagen unter dem Schutze eines freundlichen Thürpfosten seine einfachen stählernen Knieschnallen gegen ein paar andere mit funkelnden falschen Brillanten vertauschte und an demselben Orte letztere ganz gemächlich fest machte. Rechnet man noch hinzu, daß er gerade zwanzig Jahre, seinem Aussehen nach aber viel älter, und in seiner Einbildung wenigstens zweihundert Jahre alt war; daß er nichts dagegen einzuwenden hatte, wenn man ihn wegen seiner Bewunderung für die Tochter seines Meisters neckte; und daß er sogar, als er in einer gewissen Winkelkneipe aufgefordert wurde, die Gesundheit der Dame, welche er mit seiner Liebe beehrte, auszubringen, mit vielen Winken und Seitenblicken als Gegenstand seines Toastes ein schönes Wesen vorschlug, deren Taufname, wie er sagte, mit einem D begänne; – bringt man all dieses in Rechnung, so weiß man von Sim Tappertit, der inzwischen dem Schlosser zum Frühstück gefolgt ist, gerade genug, als man zu wissen braucht, um seine Bekanntschaft zu machen.
Es war ein substantielles Mahl, denn außer dem gewöhnlichen Theegeräth krachte der Tisch unter der Last eines hübschen Rinderbratens, eines Schinkens erster Größe und etlicher Thürme von gebutterten Yorkshirer Kuchen, die in der verlockendsten Ordnung, Schichte auf Schichte gelegt waren. Da stand auch ein mächtiger brauner Thonkrug, der an Gestalt einem alten Herrn, und namentlich dem Schlosser, nicht unähnlich sah, wie denn auch der weiße Schaum auf dessen kahlem Haupte, der ohne Zweifel auf das köstlichste selbstgebraute Ale hindeutete, ganz der Perücke des Meisters entsprach. Aber besser als das liebliche Hausgebräu oder der Yorkshirer Kuchen, oder der Schinken, oder der Rinderbraten, oder irgend etwas, was Erde, Luft oder Wasser zu Speis' und Trank bieten konnten, saß, über alles präsidierend, des Schlossers rosige Tochter da, in Vergleich mit deren dunkeln Augen selbst der Rinderbraten nur unbedeutend und das Malzgebräu zu gar nichts wurde.
Väter sollten ihre Töchter nie küssen, wenn junge Männer dabei sind. Es ist zu stark. Auch das, was ein Mensch zu ertragen vermag, hat seine Gränzen. So dachte Sim Tappertit, als Gabriel jene rosigen Lippen an die seinigen drückte – jene Lippen, die Tag für Tag Simon so nahe und doch so ferne lagen. Er hatte alle Achtung vor seinem Meister, aber er wünschte, daß ihn der Yorkshirer Kuchen ersticken möchte.
»Vater,« sagte des Schlossers Töchterlein, als dieser Gruß vorüber war und sie auf ihren Sitzen am Tische Platz genommen hatten, »was muß ich da von der letzten Nacht hören?«
»Alles wahr, meine Liebe; so wahr als das Evangelium, Doll.«
»Der junge Herr Chester wurde also beraubt und lag verwundet in der Straße, als ihr herauf kann?«
»Ja – Herr Eduard. Und neben ihm Barnaby, der aus Leibeskräften um Hülfe rief. Es war gut, daß es so ging; denn der Weg ist einsam, die Stunde war spät, die Nacht kalt und der arme Barnaby aus Furcht und Schrecken noch unverständiger, als sonst, so daß der junge Herr in kurzer Zeit hätte des Todes seyn müssen.«
»Schon der Gedanke daran entsetzt mich!« rief die Tochter mit einem Schauder. »Wie habt Ihr ihn denn erkannt?«
»Wie ich ihn erkannte?« entgegnete der Schlosser. »Ich kannte ihn nicht – wie hätte ich sollen? Ich habe zwar oft von ihm sprechen hören, aber ihn nie gesehen. Ich brachte ihn zu Frau Rudge, und sobald sie seiner ansichtig wurde, kam die Wahrheit heraus.«
»Aber Miß Emma, Vater – wenn ihr diese Kunde, und wie es gewöhnlich geht, noch vergrößert zu Ohren kommt, so wird sie den Verstand verlieren.«
»Ei, da sehe man wieder, was ein Mensch wegen seiner Gutmüthigkeit zu leiden hat,« sagte der Schlosser. »Miß Emma war mit ihrem Onkel auf dem Maskenballe in Carlisle House, wohin sie, wie mir die Leute in dem Kaninchenhag sagten, nur sehr ungern ging. Was kann nun dein Dummkopf von Vater, nachdem er sich mit Frau Rudge berathen, anderes thun, als auch hingehen, während er zu Bette seyn sollte, seinen Freund, den Thürsteher, in's Interesse zu ziehen, in einen Domino zu schlüpfen und sich unter die Masken zu mengen.«
»Ja, das sieht ihm gleich!« rief Dolly, indem sie ihren schönen Arm um seinen Hals legte und ihm einen begeisterten Kuß gab.
»So, sieht es ihm gleich?« entgegnete Gabriel mit affectirter Grämlichkeit, wahrscheinlich aber erfreut über die Rolle, die er dabei gespielt, und über das Lob, das ihm seine Tochter darüber ertheilt hatte. »Auch deine Mutter sagte, es sieht ihm ganz gleich. Wie dem aber seyn mag, er mischte sich in das Gedränge, wurde tüchtig herumgestoßen, und ich versichere dir, von dem Gequiecke, ›kennst du mich?‹ und ›o, ich weiß wohl, wer du bist!‹ und was dergleichen Unsinn mehr ist, klingen ihm noch die Ohren. Uebrigens dürfte er bis auf diese Stunde herumlaufen, hätte er nicht in einem Nebencabinet eine junge Dame gefunden, die wegen der Wärme des Orts und weil sie allein war, ihre Maske abgenommen hatte.«
»Und das war sie?« sagte seine Tochter hastig.
»Und das war sie,« wiederholte der Schlosser. »Ich hatte ihr den Vorfall kaum zugeflüstert – so fachte, Doll, und mit fast so viel Geschicklichkeit, als du selbst hättest anwenden können – als sie einen Schrei ausstößt und in Ohnmacht fällt.«
»Was thatet Ihr – was folgte zunächst?« fragte seine Tochter.
»Je nun, die Masken kamen schaarenweise, mit allgemeinem Lärm und Geheul, herauf und ich schätzte mich glücklich, nur wieder loszukommen, das ist Alles,« versetzte der Schlosser. »Was mir blühte, als ich nach Haus kam, kannst du dir denken, wenn du es nicht gehört hast. Ach! wohl ist es ein armes Herz, das sich nie freuen darf. – Gib den Toby herüber, meine Liebe.«
Dieser Toby war der braune Krug, dessen schon Erwähnung geschehen ist. Die wohlwollende Stirne des würdigen alten Herrn an seine Lippe setzend, erlabte sich der Schlosser, der inzwischen grausame Verheerungen unter den Eßwaaren angestellt hatte, so lange an dessen Inhalt und erhob das Gefäß allmälig so weit in die Luft, daß endlich Toby mit dem Kopf auf des Meisters Nase stand; dann schnalzte er mit den Lippen und stellte ihn mit zärtlichem Widerstreben auf den Tisch.
Obgleich Sim Tappertit keinen Theil an dieser Unterhaltung genommen hatte, da keine Sylbe an ihn gerichtet worden war, so ermangelte er doch nicht, solche stumme Merkmale seiner Verwunderung an den Tag zu legen, als ihm mit einer günstigen Entfaltung seines Augenspiels am meisten verträglich schien. Da er jedoch in der nun folgenden Pause eine besonders günstige Gelegenheit zu ersehen glaubte, das Geschütz seiner Blicke gegen die Schlosserstochter spielen zu lassen, die ihm, wie er gar nicht zweifelte, in stummer Bewunderung zusah, so begann er sein Gesicht und besonders seine Augen in so außerordentliche, gräßliche und unvergleichliche Fratzen zu verzerren, daß Gabriel, welcher zufällig nach ihm hinschaute, vor Erstaunen ganz außer sich gerieth.
»Ei, was zum Teufel geht mit dem Jungen vor?« rief der Schlosser. »Will er ersticken?«
»Wer?« fragte Sim etwas geringschätzig.
»Wer? Je nun, Du,« entgegnete sein Meister. »Was soll das heißen, daß du so schreckliche Gesichter über deinem Frühstück schneidest?«
»Gesichter sind eine Geschmacksache, Sir,« sagte Herr Tappertit etwas verblüfft – um so mehr, als er auch des Schlossers Tochter lächeln sah.
»Sim,« erwiederte Gabriel mit einem herzlichen Lachen, »sey kein Narr, denn ich möchte dich lieber bei Verstand sehen. Diese jungen Bursche,« fügte er an seine Tochter gewandt bei, »treiben immer etwas Thörichtes, so oder so. Da gab es gestern Abend wieder einen Streit zwischen Joe Willet und dem alten John – obgleich ich nicht sagen kann, daß Joe sonderlich Schuld daran war. Er wird eines Morgens fort seyn, ausgeflogen wie eine wilde Gans, um sein Glück zu suchen. – Ei, was hast du denn, Doll? Jetzt schneidest du Gesichter. Die Mädels sind doch um kein Haar besser, als die Jungen.«
»Es kömmt vom Thee,« sagte Dolly, abwechselnd roth und blaß werdend, was ohne Zweifel in einem Bischen Verbrennen seinen Grund hatte, »er ist so gar heiß.«
Herr Tappertit machte ungeheuer große Augen nach einem Viertels Laib Brod auf dem Tisch und athmete schwer auf.
»Sonst nichts?« erwiederte der Schlosser. »Thu' etwas mehr Milch dazu. Ja, der Joe thut mir leid, denn er ist so ein gar ordentlicher Bursche, und man muß ihn immer lieber haben, je öfter man ihn sieht. Aber gib Acht, er nimmt Reißaus. Hat er mir's doch selbst gesagt!«
»Wirklich?« rief Dolly mit schwacher Stimme. »Wirk-lich?«
»Brennt dich der Thee noch im Halse, meine Liebe?« fragte der Schlosser.
Aber ehe ihm die Tochter antworten konnte, wurde sie von einem schauerlichen Husten befallen, und der Husten war so arg, daß ihr die hellen Thränen in die Augen schossen, als er endlich aufhörte. Der gute Schlosser klopfte sie eben auf den Rücken und wandte ähnliche sanfte Kräftigungsmittel an, als eine Botschaft von Frau Varden anlangte, welche allen, denen daran gelegen, zu wissen machte, daß sie sich nach der Aufregung und der Angst der letzten Nacht zu unwohl fühle, um aufzustehen, weßhalb sie augenblicklich mit dem kleinen schwarzen Theetopf voll stark gemischten Thee's, einem Paar runder, gebutterter Röstschnitten, einem mäßig großen Teller mit dünn geschnittenem Rinderbraten und Schinken, und der protestantischen Hausandacht in zwei Octavbänden bedient zu werden wünsche. Wie einige andere Damen, die vor Alters auf diesem Erdballe geblüht hatten, war Frau Varden immer am andächtigsten, wenn sie am übelgelauntesten war; denn so oft es zwischen ihr und ihrem Gatten zu ungewöhnlichen Differenzen kam, stand immer die protestantische Hausandacht hoch in Gnaden.
Durch die Erfahrung belehrt, was solche Forderungen zu bedeuten hatten, brach das Triumvirat auf: Dolly um nachzusehen, daß Alles in gehöriger Eile vollzogen werde – Gabriel, um in seiner kleinen Chaise irgend ein Geschäft außer dem Hause zu bereinigen – und Sim, um an seine Tagesobliegenheit in der Werkstatt zu gehen, wohin er die großen Augen mitnahm, obgleich der Laib auf dem Tische liegen blieb.
In der That vergrößerten sich die Augen des Letzteren mehr und mehr und wurden eigentlich gigantisch, als er sich die Schürze umgebunden hatte. Erst als er einigemal mit gekreuzten Armen und den längsten Schritten, die er nehmen konnte, auf und ab gegangen war, bei welcher Gelegenheit er Alles, was ihm in den Weg kam, mit den Füßen zur Seite stieß, begann sich seine Lippe zu kräuseln. Endlich überflog ein düsterer Hohn seine Züge, und er lächelte, während er mit der Miene der höchsten Verachtung das einsylbige Wörtchen »Joe!« ausstieß.
»Ich habe sie beäugelt, während er von dem Kerl sprach,« sagte er, »und das war natürlich der Grund ihrer Verwirrung. Joe!«
Dann ging er wieder mit schnelleren und wo möglich noch längeren Schritten als zuvor auf und nieder, bisweilen Halt machend, um einen Blick auf seine Beine zu werfen, oder einen Stoß mit denselben zu führen und ein abermaliges »Joe!« hervorzudrängen. Nach Abfluß einer Viertelstunde ungefähr nahm er jedoch seine Löschpapiermütze wieder auf und versuchte zu arbeiten. Nein, es wollte nicht gehen.
»So will ich heute nichts thun, als schleifen,« sagte Herr Tappertit, seine Mütze wieder fortschleudernd. »Ich will alle Werkzeuge schleifen. Dieses Mahlen sagt meiner gegenwärtigen Stimmung am besten zu. Joe!«
Hurr-r-r-r! Der Schleifstein war bald in Bewegung und die Funken flogen in dichten Schauern davon. Dieß war eine Beschäftigung für seinen erhitzten Geist.
Hurr-r-r-r-r-r-r!
»Das gibt etwas,« sagte Herr Tappertit, indem er, gleichsam triumphirend, inne hielt und die heiße Stirne mit seinem Aermel abwischte. »Das gibt etwas. Hoffentlich ist es kein Menschenblut.«
Hurr-r-r-r-r-r-r-r!