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Eine Reihe von Gemälden., welche das nächtliche Treiben in den Straßen von London, wie es sich in der verhältnißmäßig noch gar nicht alten Periode unserer Geschichte gestaltete, darstellen wollte, würde dem Auge ein so ganz anderes Bild geben, als wir es heutzutage sehen, daß es dem Beschauer schwer fallen dürfte, seine bekannten Spaziergänge in dem Aeußeren, das sie vor wenig mehr als einem halben Jahrhundert hatten, wieder zu erkennen.
Die Straßen waren sammt und sonders, von der breitesten und besten bis zur schmalsten und unbesuchtesten, sehr dunkel. Die Oellampen brannten, obgleich sie in langen Winternächten regelmäßig zwei- oder dreimal geputzt wurden, im günstigsten Falle nur matt, und in späteren Stunden, wenn die Beihülfe der Lampen und Kerzen in den Läden aufgehört hatte, warfen sie nur einen schmalen Streifen ungewissen Lichtes auf den Weg, ohne die vorspringenden Thüren und die Vorderseite der Häuser zu erreichen, die im tiefsten Dunkel begraben blieben. Viele Höfe und Gassen blieben in völliger Finsterniß, und ihnen gegenüber waren diejenigen, in welchen je nach zwanzig Häusern ein Lichtlein flimmerte, nicht wenig begünstigt. Doch auch an diesen Orten hatten die Bewohner oft gute Gründe, ihre Lampe sogleich wieder auszulöschen, sobald sie angezündet war, was ganz nach Belieben geschah, da die Wachmannschaft nicht Macht genug besaß, es zu verhindern. So gab es denn sogar in den hellsten Straßen an jeder Wendung irgend eine dunkle und gefährliche Stelle, wohin ein Dieb sich flüchten konnte und nur Wenige ihn verfolgen mochten. Dabei war die Altstadt rund umher von Feldern, grünen Heckengassen, öden Gründen und einsamen Straßen umgeben und durch diesen Gürtel von den Vorstädten, die sich jetzt enge anschließen, getrennt, so daß selbst bei einer hitzigen Verfolgung die Flucht leicht bewerkstelligt werden konnte.
Kein Wunder, daß unter so günstigen Verhältnissen selbst im Herzen von London die Landstraßenindustrie in voller und unablässiger Thätigkeit war. Man hörte allnächtlich von Straßenraub, oft begleitet von grausamer Verstümmelung und nicht selten von Mordthaten, so daß ruhige Leute sich nur mit großer Angst nach dem Schlusse der Läden außer den Häusern blicken ließen. Ging Jemand allein um Mitternacht nach Hause, so hielt er sich gewöhnlich in die Mitte der Straße, um sich besser gegen den Ueberfall eines lauernden Gauners schützen zu können; und nur Wenige wagten es, in später Stunde ohne Bewaffnung oder Geleite nach Kentishtown oder Hampstead, oder nur nach Kensington oder Chelsea zu gehen, während der lauteste und tapferste Kneipenheld froh war, einen Fackeljungen als Geleitsmann miethen zu können, wenn er auch nur einen Gang von einer Meile zu machen hatte.
Doch hatten damals die Straßen von London auch noch viele andere, nicht ganz so unangenehme charakteristische Merkmale, die noch aus älteren Zeiten stammten. Einige der Läden, vorzüglich die im Osten von Temple-Bar, hafteten noch an der alten Gewohnheit, ein Schild auszuhängen, und das Knarren und Schwingen solcher Bretter in ihren Eisenrahmen, wenn es hübsch windete, bildete ein wunderliches Concert für die Ohren derjenigen, welche noch wach im Bette lagen oder durch die Straßen eilten. Lange Reihen von Sänften und Gruppen von Trägern, welchen gegenüber die Kutscher heutiger Zeit noch fein und höflich sind, hemmten den Weg und erfüllten die Luft mit Geschrei; Nachtkeller, kennbar durch einen kleinen Lichtstreif, der über das Trottoir bis in die Mitte der Straßen lief, und durch das dumpfe Gebrüll von Stimmen unten, gähnten dem Auswurf beider Geschlechter entgegen; unter jedem Schuppen verspielte ein kleines Häuflein Fackeljungen den Verdienst des Tages; oder wenn einer müder war, als die übrigen, so legte er sich zum Schlafen nieder und ließ den Rest seiner Fackel zischend auf den Boden fallen.
Dann kam auch der Nachtwächter mit Stab und Laterne, um die Stunde und das Wetter auszurufen, und diejenigen, welche ob dem Tone seiner Stimme erwachten und sich im Bette umdrehten, freuten sich, wenn sie hörten, daß es regnete, schneiete, windete oder fror, weil sie's selbst so behaglich hatten. Der einsame Straßengänger wurde durch das Geschrei der Sänftenträger: »Mit Erlaubniß da!« aufgeschreckt, wenn ihrer zwei mit ihrem leeren Kasten, den sie verkehrt trugen, um zu zeigen, daß er leer sey, an ihm vorbeikamen und nach dem nächsten Stande eilten. Auch manche Privatsänfte mit irgend einer schönen Dame in ihrem ungeheuern Reifrock und Kleiderbesatz, voraus Lakaien mit Fackeln, für welche noch heutzutage an manchen bessern Häusern Löscher angebracht sind – erleuchtete in ihrem Dahinschaukeln den Weg, um ihn nachher nur noch dunkler und unheimlicher erscheinen zu lassen. Dann war es bei der genannten Lakaienhonoratiorenschaft, die sich bedeutend hoch trug, nicht ungewöhnlich, während des Wartens auf ihre Herrschaft in der Bedientenhalle Händel anzufangen, bei welcher Gelegenheit man gegenseitig an Ort und Stelle, oder auf der Straße draußen, über einander herfiel und den Kampfplatz mit Puder, Bruchstücken von Beutelperücken und zerfetzten Blumensträußen bestreute. Das Spiel – ein Laster, das unter allen Klassen gedeihlich wucherte, da die Mode natürlich von oben ausgegangen war – war in der Regel die Ursache solcher Scharmützel; denn Karten und Würfel wurden in den Salons wie in den Gesindestuben offen gehandhabt, allenthalben das gleiche Unheil stiftend und die gleiche Aufregung veranlassend. Während solche Vorfälle im Westende der Stadt bei Musik, Tanz und Maskenspiel sich zutrugen, holperten die schweren Landkutschen und die kaum schwereren Frachtwagen langsam der City zu. Kutscher, Geleite und Passagiere bis an die Zähne bewaffnet, und die Kutsche selbst vielleicht einen Tag verspätet, aber das wäre noch anzunehmen – beraubt von Heerstraßenrittern, die sich kein Bedenken daraus machten, vereinzelt eine ganze Caravane von Gütern und Menschen anzugreifen, und bisweilen auch etliche Reisende todtschossen, oder, je nachdem es kam, selbst todtgeschossen wurden. Am Morgen nach einer solchen wagehalsigen That besprach man allenfalls die Sache einige Stunden durch die Stadt, und die Galgenprozession einiger feinen, auf das Modernste gekleideten, halbbetrunkenen Gentlemen, die den Geistlichen mit unaussprechlicher Ritterlichkeit und Anmuth verfluchten, verschaffte der Bevölkerung zumal eine angenehme Aufregung und ein gesundes, nachdrückliches Exempel.
Unter allen den gefährlichen Charakteren, die bei einem solchen gesellschaftlichen Zustande Nachts in der Hauptstadt umherschlichen und lauerten, war ein einziger Mann, vor dem viele, wenn sie auch eben so wild und ungeschlacht waren als er, mit unwillkürlicher Scheu zurückbebten. Man fragte oft, wer er sey, oder woher er käme; aber Niemand wußte darauf zu antworten. Sein Name war unbekannt; man hatte ihn erst seit etwa acht Tagen zum erstenmal gesehen, und so war er denn den alten Spitzbuben, in deren Schlupfwinkel er sich furchtlos wagte, nicht minder fremd, als den jungen. Er konnte kein Spion seyn, denn er entfernte seinen breitkrämpigen Hut nie, damit er allenfalls umherschauen könnte, ließ sich mit Niemanden in Gespräche ein, achtete nicht auf die Vorgänge, hörte auf keine Unterhaltung und merkte weder auf die Kommenden, noch auf die Gehenden. Aber sobald die Nacht stille war, traf man auch diesen Mann unabänderlich mitten in dem wilden Getümmel des Nachtkellers, wohin Gesindel von allen Abstufungen seine Zuflucht nahm, und dort saß er bis zum Morgen.
Aber nicht allein bei ihren zügellosen Festen erschien er als ein Gespenst – als ein Etwas, das ihnen mitten in ihrer Schlemmerei das Blut erstarren machte – sondern auch im Freien war er der Gleiche. Sobald es dunkel wurde, befand er sich auf der Straße – nie von Jemand begleitet, sondern stets allein; nie zögernd oder lungernd, sondern stets im raschen Gange, wobei er, wie Diejenigen, welche ihn gesehen hatten, erzählten von Zeit zu Zeit über seine Schulter sah und dann seine Schritte noch mehr beschleunigte. In den Feldern, Gassen und Straßen, durch alle Viertel der Stadt – im Osten, Westen, Norden und Süden hatte man diesen Mann wie einen Schatten dahingleiten sehen. Er hatte immer Eile. Diejenigen, welche ihm begegneten, sahen ihn vorbeihuschen, bemerkten noch, wie er allenfalls rückwärts schaute, und verloren ihn so in der Finsterniß.
Diese beständige Unruhe und das blitzartige Hin- und Herzucken gab zu manchen seltsamen Geschichten Veranlassung. Man hatte ihn an sehr weit von einander entfernten Orten zu fast gleicher Zeit gesehen, so daß Einige zweifelhaft waren, ob es nicht ihrer zwei oder noch mehrere gäbe – während Andere sich mit Muthmaßungen trugen, ob er nicht durch übernatürliche Mittel von einem Orte zum andern gelange. Der Gassendieb hatte ihn am Rand des Grabens, in dem er verborgen lag, wie ein Gespenst vorbeigleiten sehen; der Vagant war ihm Nachts auf der Landstraße begegnet; der Bettler konnte erzählen, wie er ihn auf der Brücke traf, nach dem Wasser hinuntersehend und dann wieder weiter eilend; die Auferstehungsmänner wollten mit einem Eid bekräftigen, daß er auf den Kirchhöfen schlafe, denn sie hatten gesehen, wie er bei ihrer Annäherung unter den Gräbern wegschlich. Und während sie sich solche Geschichten erzählten, sah sich vielleicht Einer um und zupfte seinen Nachbar am Aermel – denn da war er mitten unter ihnen.
Endlich entschloß sich ein Mann, es war einer von denen, die mit geraubten Leichen Geschäfte machten – diesen wunderlichen Kauz in's Verhör zu nehmen; und als letzterer am nächsten Abend sein ärmliches Mahl gierig verschlang (man bemerkte, daß dieß immer der Fall war, als ob er kein anderes den Tag über genösse), machte sich der Leichenräuber dicht an seine Seite.
»Eine finstere Nacht, Meister!«
»Ja, es ist eine finstere Nacht.«
»Sogar noch dunkler als die letzte, die doch auch wie Pech war. Kam ich nicht bei dem Schlagbaum auf dem Oxfordwege an an Euch vorüber?«
»Wohl möglich, ich weiß es nicht.«
»Ei, Meister,« rief der durch die Blicke seiner Kameraden ermuthigte Bursche, indem er ihn auf die Schulter klopfte: »Ihr solltet auch ein Bischen geselliger und mittheilsamer seyn. Spielt mehr den Gentleman in dieser guten Gesellschaft. Da gehen Gerüchte unter uns, Ihr hättet Euch dem Teufel verkauft, und weiß Gott, was sonst noch.«
»Ist das nicht bei uns allen der Fall!« entgegnete der Fremde aufstehend. »Wäre die Zahl kleiner, so gäbe es vielleicht auch bessern Lohn.«
»Es geht Euch freilich etwas hart,« sagte der Leichendieb, als der Fremde auf sein hageres, ungewaschenes Gesicht und seine zerrissene Kleider zeigte. »Doch, was macht's? Seyd heiter, Meister. Versucht's einmal mit einer Strophe von einem lärmenden Liede.«
»Singt selbst, wenn's Euch darnach gelüstet,« entgegnete der Andere, indem er ihn rauh abschüttelte, »und rührt mich nicht an, wenn Ihr klug seyd. Ich habe Waffen bei mir, die leicht losgehen – es ist sonst schon geschehen – und es ist für Fremde, die den Vortheil nicht wissen, nicht gerathen, Hand an mich zu legen.«
»Wie, Ihr droht?« erwiederte der Kerl.
»Ja,« antwortete der Andere, indem er aufstand, den Sprecher in's Auge faßte und dann mit wilden Blicken um sich sah, als versehe er sich eines allgemeinen Angriffs.
Seine Stimme, sein Blick und seine Haltung – alles der Ausdruck der wildesten Rücksichtlosigkeit und Verzweiflung – schüchterten die Umstehenden ein, so daß sie zurückwichen. Der Schauplatz war zwar jetzt ein anderer, aber doch übte sein Benehmen so ziemlich dieselbe Wirkung, welche es in dem Wirthshause zum Maibaum hervorgebracht hatte.
»Ich bin, was ihr alle seyd, und lebe, wie ihr alle lebt,« sprach der Mann ernst, nach einer kurzen Pause. »Ich verstecke mich hier, wie die Andern, und wenn wir überrascht werden sollten, so stehe ich vielleicht dem Besten von euch nicht nach. Wenn ich in der Stimmung bin, mir selbst überlassen zu bleiben, so stört mich nicht. Andernfalls« – und hier schwor er einen schrecklichen Eid – »gibt's Unglück an diesem Platze, und wenn man zu Dutzenden mit mir anbände.«
Ein leises Gemurmel, das vielleicht seinen Grund in der Furcht vor dem Manne und in dem ihn umgebenden Geheimniß hatte, möglicherweise aber auch aus der aufrichtigen Meinung eines Theils der Anwesenden entsprang, daß es unpassend sey, sich allzu neugierig in die Privatangelegenheiten eines Gentlemans zu mengen, wenn dieser sie für sich behalten wolle – bedeutete dem Kerl, der zu diesem Wortwechsel Anlaß gegeben hatte, es sey am besten, nicht weiter fortzufahren. Bald nachher legte sich der Fremde auf eine Bank zum Schlafen nieder, und als man sich später wieder seiner erinnerte, fand man, daß er fort war.
Mit dem eintretenden Dunkel des nächsten Abends streifte er wieder durch die Straßen und machte mehr als einmal vor der Wohnung des Schlossers Halt; aber die Familie war ausgegangen und das Haus verschlossen. Er ging über die Londonbrücke nach Southwark. Als er in ein Nebengäßchen schlüpfte, bemerkte er eine Frau mit einem kleinen Korb an dem Arme, welche an dem anderen Ende hereinbog, worauf er alsbald unter einem Bogenwege Schutz suchte und seitlich stehen blieb, bis sie vorüber war. Dann tauchte er vorsichtig aus seinem Verstecke auf und folgte ihr.
Sie ging in mehrere Läden, um allerhand Hausbedarf einzukaufen, und wo sie immer Haltmachen mochte, umkreiste er den Ort wie ein böser Geist, hinter ihr d'rein gehend, so oft sie wieder zum Vorschein kam, Es war gegen eilf Uhr, und die Menschen verloren sich mehr und mehr aus den Straßen, als sie umkehrte, ohne Zweifel, um nach Hause zu gehen. Das Gespenst folgte ihr noch immer.
Sie trat wieder in dieselbe Nebengasse, in welcher er sie zuerst gesehen hatte. Die enge Gasse hatte keine Läden und war daher auch außerordentlich finster. Die Frau beschleunigte ihre Schritte, als fürchte sie, angehalten und der unbedeutenden Habe, die sie bei sich führte, beraubt zu werden. Er schlich auf der andern Seite des Weges weiter. Wäre sie mit den Flügeln des Windes dahin geeilt, so hätte doch, wie es schien, der schreckliche Schatten nicht von ihr abgelassen.
Endlich erreichte die Wittwe – denn sie war es – ihre eigene Thüre und machte, nach Luft haschend, Halt, um den Schlüssel aus ihrem Körbchen zu nehmen. Erhitzt von ihrer Eile und der Freude, wohlbehalten zu Hause angelangt zu seyn, bückte sie sich nach dem Schlüssel nieder, und als sie den Kopf wieder aufrichtete, sah sie ihn schweigend an ihrer Seite stehen – die Verkörperung eines Traumes.
Er legte die Hand auf ihren Mund; dieß war jedoch unnöthig, denn ihre Zunge klebte am Gaumen und hatte die Macht der Sprache verloren.
»Ich habe schon manche Nacht auf Euch geharrt. Ist das Haus leer? Antwortet mir. Ist Jemand drinnen?«
Die Antwort bestand nur aus einem Gurgeln in ihrer Kehle.
»Gebt mir ein Zeichen.«
Sie schien anzudeuten, daß Niemand drinnen sey. Er nahm den Schlüssel, schloß die Thüre auf, führte sie hinein und riegelte sorgfältig hinter sich zu.