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Neuntes Kapitel.

Geschichtschreiber haben das Privilegium, einzutreten, wo es ihnen beliebt, durch Schlüssellöcher zu schlüpfen und wieder herauszugehen, auf dem Winde zu reiten und in ihrem Schwunge aufwärts und abwärts alle Hindernisse von Zeit und Raum zu besiegen. Dreimal gesegnet sey uns dieser Umstand, da er uns in die Lage setzt, der Männerfeindin Miggs sogar in das Heiligthum ihres Schlafzimmers zu folgen und uns die ganze traurige Nacht durch ihrer holden Gesellschaft zu erfreuen!

Sobald Miß Miggs ihre Gebieterin ›ausgethan‹ (mit welchem Ausdrucke sie ihre Beihilfe bei dem Entkleiden derselben bezeichnen wollte) und sie gemächlich in dem Hinterzimmer des ersten Stockes zu Bette gebracht hatte, zog sie sich nach ihrer eigenen Kammer unter dem Dache zurück. Ungeachtet ihrer Erklärungen in Gegenwart des Schlossers war sie doch nicht schläfrig, denn sie setzte ihr Licht auf den Tisch, zog den kleinen Fenstervorhang zurück und blickte gedankenvoll nach dem stürmischen Nachthimmel.

Vielleicht wunderte sie sich, welcher Stern ihr wohl zur Wohnung angewiesen werden dürfte, wenn ihr kurzes Erdenwallen zu Ende wäre; vielleicht spekulirte sie, welche von jenen funkelnden Sphären der Raum seyn würde für Herrn Tappertit's Neugeburt; vielleicht staunte sie, wie die Himmelskörper nur herabschauen konnten auf das treulose Geschöpf, Mann genannt, ohne zu erkranken und grün zu werden, wie die Lampen eines Apothekers; vielleicht dachte sie aber auch an nichts Besonderes. Womit sich indeß auch ihr Geist befassen mochte – da saß sie, bis ihre Aufmerksamkeit, lebhaft genug in Allem, was mit dem herzgewinnenden Lehrling in Verbindung stand, durch ein Geräusch in dem nächsten Gemach angeregt wurde – seinem Gemache, der Kammer, in welcher er schlief und träumte vielleicht auch bisweilen von ihr träumte.

Freilich, daß jetzt von keinem Traume die Rede seyn konnte, war klar, wenn er etwa nicht zu den Somnambülen gehörte, denn alle Augenblicke ließ sich ein scharrendes Geräusch vernehmen, als sey er beschäftigt, die weißgetünchte Wand zu poliren; dann ein leises Knarren seiner Thüre; dann die schwächste Andeutung seiner verstohlenen Fußtritte auf der Flur draußen. Dieses letztern Umstandes wahrnehmend, wurde Miß Miggs blaß und schauderte, als mißtraute sie seinen Absichten; und mehr als einmal rief sie leise: »Ach, du gütiger Himmel, wie gut ist's, daß ich eingeschlossen bin!« Dieses war nun ohne Zweifel eine in ihrem Schreck begründete  Begriffsverwechslung zwischen dem Riegel und seinem Gebrauche, denn obgleich sie einen solchen an der Thüre hatte, so war er doch nicht vorgeschoben.

Das Gehörorgan der Jungfer Miggs hatte jedoch eine so scharfe Schneide, wie ihre Gemüthsart, und da sie zugleich schnippisch und argwöhnisch war, so fand sie bald, daß die Fußtritte an ihrer Thüre vorbeigingen und einem Gegenstande zu gelten schienen, der durchaus in keiner Verbindung mit ihr stand. Ueber diese Entdeckung entsetzte sie sich noch mehr, als zuvor, und sie war eben im Begriffe. »Mörder!« und »Diebe!« zu schreien, was sie bisher nur mit Noth unterdrückt hatte, als ihr der Gedanke kam, sie wolle zuerst sachte hinausgehen, um zu sehen, ob ihre Besorgnisse auch wirklich einen guten Grund hätten.

Sie sah demgemäß hinaus, streckte ihren Hals über das Treppengeländer und bemerkte zu ihrer großen Ueberraschung, daß Herr Tappertit, vollständig angekleidet, Stufe für Stufe sich die Treppe hinunterstahl, in der einen Hand die Schuhe und in der andern eine Lampe. Während sie ihm so mit ihren Augen folgte und selbst auch einige Stufen hinunterging, um besser um eine vorspringende Ecke sehen zu können, bemerkte sie, wie er seinen Kopf in die Wohnstube steckte, ihn aber wieder mit großer Schnelligkeit zurückzog und alsbald mit möglichster Geschwindigkeit seinen Rückzug die Treppe hinauf antrat.

»Da gibt's Geheimnisse!« sagte die Jungfer, als sie wohlbehalten, obgleich ganz athemlos, wieder in ihrer Kammer angelangt war. »Ah, du mein Himmel, da gibt's Geheimnisse.«

Die Aussicht, Jemand auf etwas zu ertappen, würde Miß Miggs wach gehalten haben, und wenn sie ein Opiat im Leibe gehabt hätte. Bald nachher hörte sie den Tritt wieder, und sie würde ihn gehört haben, wenn es der einer mit Bewegung begabten Feder gewesen wäre, die sich auf den Zehen hinuntergeschlichen hätte. Dann schlüpfte sie wieder, wie zuvor, hinaus und sah abermals die dahin gleitende Gestalt des Lehrlings, wie er aufs Neue vorsichtig in die Wohnstube schaute, dießmal aber, statt sich zurückzuziehen, eintrat und verschwand.

Miggs war wieder in ihrer Kammer und hatte den Kopf zum Fenster hinausgesteckt, ehe ein ältlicher Herr die Augen hätte zu- und aufmachen können. Da kam er zur Hausthüre heraus, schloß sie sorgfältig hinter sich ab, probirte sie mit dem Knie und stolzierte von hinnen, im Abgehen noch etwas in die Tasche steckend. Bei diesem Spektakel rief Miggs abermals: »Ah, du mein Himmel!« und dann, »Barmherziger Himmel!« und dann, »O, du mein lieber barmherziger Himmel!« und dann ging sie mit der Kerze in der Hand die Treppe hinunter, wie er gethan hatte. Als sie in die Werkstatt kam, sah sie, daß die Lampe auf der Esse brannte, und dabei etwas, was Sim dort gelassen hatte.

»Ei, ich will nur mit einer fußgehenden Leiche und nie mit einer anständigen Trauerkutsche und Pferden begraben werden, wenn sich der Junge nicht selbst einen Schlüssel gemacht hat!« rief Miggs. »Welch ein kleiner Spitzbube!«

Zu dieser Folgerung war sie nicht ohne viel Ueberlegen und viel Hin- und Herspähen gekommen; auch wurde sie dabei durch die Erinnerung unterstützt, daß sie bei verschiedenen Anlässen den Lehrling über einem geheimen Geschäfte ertappt hatte. Damit indeß die Thatsache, daß Miß Miggs ihn, auf den sie einen wohlwollenden Blick zu werfen geruhte, einen Jungen nannte, unsere Leser nicht überrasche, müssen wir bemerken, daß sie beharrlich dergleichen that, als betrachte sie alle männlichen Zweifüßler unter dreißig Jahren als bloße Knäbchen und unmündige Kinder – eine Erscheinung, die bei Damen von der Gemüthsstimmung der Jungfer Miggs nicht so ungewöhnlich ist und in der Regel als Begleiterin einer solchen wilden und unbezähmbaren Tugend gefunden wird.

Miß Miggs ging eine Weile mit sich zu Rath, und betrachtete dabei sorgfältig die Werkstattthüre, als ob Augen und Gedanken sich in diesem Endpunkte vereinigten; dann nahm sie einen Bogen Papier aus einer Schublade und drehte ihn in eine lange, dünne, spiralförmige Röhre. Nachdem sie dieses Werkzeug mit Kohlenstaub aus der Esse gefüllt hatte, näherte sie sich der Thüre, ließ sich vor derselben auf ein Knie nieder und blies gewandt so viel von der seinen Asche in das Schlüsselloch, als das Schloß halten wollte. Es wurde in dieser Weise kunstgerecht und randvoll angefüllt, worauf sie, an einem fort kichernd, die Treppe hinaufschlich.

»So!« rief Miggs, ihre Hände reibend. »Jetzt wollen wir doch sehen, ob du nicht froh sein wirst, auch einmal von mir Notiz nehmen zu können, Musje. Hi, hi, hi! Du wirst nun wohl auch Augen für Jemand Anders als Miß Dolly haben, denke ich. Diese Gans mit einem Fettgesicht, wie mir nur je eine in den Weg gekommen ist!«

Während sie diesen kritischen Satz aussprach, betrachtete sie sich beifällig in ihrem kleinen Spiegel, als wollte sie sagen, »ich danke meinen Sternen, daß man mir ein solches nicht nachsagen kann« – was man auch gewiß nicht konnte, denn die Schönheit der Dame Miggs war von einer Art, welche Herr Tappertit im Geheim nicht unpassend »eine dürre« stylisirt hatte.

»Ich gehe heute Nacht nicht zu Bette,« sagte Miggs, indem sie sich in einen Shawl hüllte und ein paar Stühle in die Nähe des Fensters rückte, auf deren einen sie sich selbst, auf den andern aber ihre Füße legte, »bis du nach Hause kommst, mein Jüngelchen. Nein, ich thue es nicht,« fügte Miß Miggs boshaft bei, »und wenn man mir fünfundvierzig Pfund geben wollte!«

Mit diesen Worten und einem Ausdruck im Gesichte, in welchem sich eine große Masse entgegengesetzter Ingredienzien, zum Beispiel. Schadenfreude, Verschmitztheit, Triumph, Bosheit und geduldige Erwartung zu einer Art von physiognomischen Wunsch vereinigten, schickte sich Miß Miggs an, zu warten und zu lauschen, wie irgend eine schöne Wehrwölfin, die eine Falle aufgesetzt hat und nun auf einen hübschen Bissen von dem Fleische eines wohlgemästeten jungen Mannes lauert.

Sie blieb die ganze Nacht in der vollkommensten Ruhe sitzen. Endlich, kaum vor Tagesanbruch, ließ sich ein Fußtritt in der Straße hören, und unmittelbar darauf vernahm sie, daß Herr Tappertit an der Thüre Halt machte. Sie konnte unterscheiden, daß er seinen Schlüssel versuchte – daß er hineinblies – daß er ihn gegen den nächsten Pfosten schlug, um den Staub herauszuklopfen – daß er ihn unter eine Lampe nahm, um hineinzusehen – daß er Stückchen Holz in das Schloß steckte, um es zu reinigen – daß er in das Schlüsselloch blickte, zuerst mit dem einen, dann mit dem andern Auge – daß er den Schlüssel abermals versuchte – daß er ihn nicht herumdrehen, und was noch schlimmer war, nicht wieder herausbringen konnte – daß er ihn umbog – daß er sich dann noch viel weniger geneigt zeigte, herauszukommen – daß er einen gewaltigen Ruck that, worauf das Werkzeug so plötzlich herausfuhr, daß er rückwärts taumelte – daß er an die Thüre stieß – daß er an ihr rüttelte – und schließlich, daß er an die Stirne schlug und sich verzweifelnd auf die Schwelle setzte.

Als die Krisis so weit gediehen, affectirte Miß Miggs den größten Schrecken, indem sie durch Anklammern an den Fenstersims eine Stütze suchte, streckte ihre Nachtmütze hinaus und fragte mit schwacher Stimme, wer da sey.

Herr Tappertit rief »Bst!« trat in die Straße zurück und bat sie mit phantastischen Pantomimen, die Sache geheim zu halten und zu schweigen.

»Sagt mir nur das eine,« entgegnete Miggs. »Sind es Diebe?«

»Nein – nein – nein!« rief Herr Tappertit.

»Dann ist's wohl Feuer,« erwiederte Miß Miggs, noch matter, als zuvor. »Wo ist es, Sir? Ich weiß, in der Nähe von dieser Kammer. Ich habe ein gutes Gewissen, Sir, und würde lieber sterben, als an einer Leiter hinuntergehen. Nur das eine wünschte ich noch, daß man meine verheirathete Schwester, Golden Lion Court, Nr. Siebenundzwanzig, zweite Klingel rechts neben der Thüre, herzlich von mir grüße.«

»Miggs!« rief Herr Tappertit. »kennt Ihr mich denn nicht? Sim, Ihr wißt ja – Sim –«

»O, was ist mit ihm?« rief Miggs, ihre Hände zusammenschlagend. »Ist er in Gefahr? Ist er in der Mitte der Flammen und des Rauches? O, barmherziger, barmherziger Himmel!«

»Ei, bin ich denn nicht hier?« entgegnete Herr Tappertit, sich an die Brust schlagend. »Seht Ihr mich denn nicht? Seyd Ihr denn ein ganzer Narr, Miggs?«

»Hier?« rief Miggs, ohne auf dieses Compliment zu achten. »Ei – das wäre – du meine Güte, was soll das heißen? Madame, wenn es gefällig wäre –«

»Nein, nein!« rief Herr Tappertit, indem er sich auf die Zehen stellte, als sey er der Meinung, so von der Straße aus besser im Stande zu seyn, der Jungfer Miggs in dem Dachstübchen das Maul zu stopfen. »Laßt das! – Ich bin ohne Erlaubniß ausgewesen, und mit dem Schloß muß etwas vorgegangen seyn. Kommt herunter und macht den Werkstattladen auf, damit ich hineinschlüpfen kann.«

»Ich getraue mir's nicht, Simmun,« rief Miggs – denn so sprach sie seinen Taufnamen aus. »Ich getraue mir's in der That nicht. Ihr wißt so gut, als Jemand, wie ich auf Ehre halte. Und hinunter zu kommen mitten in der Nacht, wo das ganze Haus in Schlaf und Dunkelheit gehüllt ist –«

Sie hielt inne und schauderte, denn ihre Bescheidenheit kriegte schon bei dem Gedanken den Schnupfen.

»Aber Miggs,« rief Herr Tappertit, unter die Lampen tretend, daß sie seine Augen sehen möchte. »Meine holde Miggs –«

Miggs stieß einen leichten Schrei aus.

»Die ich so sehr liebe, und an die ich immer denken muß,« – und es ist unmöglich, zu beschreiben, welchen Gebrauch er bei diesen Worten von seinen Augen machte – »thut es – thut es um meinetwillen!«

»O Simmun!« rief Miggs, »das ist noch schlimmer als Alles. Ich weiß, wenn ich hinunterkomme, so werdet Ihr hergehen und –«

»Und was, meine Köstliche?« fragte Herr Tappertit.

»Und versuchen,« entgegnete Miggs, »mich zu küssen oder sonst etwas Schreckliches zu thun. Ich weiß, Ihr würdet!«

»Ich schwöre es Euch, es soll nicht geschehen,« sagte Herr Tappertit mit einem merkwürdigen Ernste. »Bei meiner Seele, ich will es nicht thun. Es wird nachgerade heller Tag und die Wächter sind auf den Beinen. Englische Miggs! Wenn Ihr nur herunterkommen und mich einlassen wolltet. Ich verspreche Euch treu und wahrhaftig, ich will es nicht thun.«

Miß Miggs, deren zartes Herz gerührt war, wartete nicht auf den Eid (denn sie wußte, wie stark die Versuchung war, und fürchtete, er möchte falsch schwören), sondern huschte leicht die Treppe hinunter und zog mit eigenen schönen Händen die schweren Riegel des Werkstattladens zurück. Sobald sie den wankelmüthigen Lehrling hereingehoben hatte, stieß sie matt die Worte aus: »Simmun ist geborgen!« worauf sie ihrer weiblichen Natur nachgab und augenblicklich ohnmächtig wurde.

»Ich wußte, ich würde sie mürbe machen,« sagte Sim, etwas verlegen über diesen Umstand. »Ich konnte es natürlich voraussehen, daß es so kommen mußte, aber da war nichts Anderes zu machen. – Wenn ich sie nicht beäugelt hätte, wäre sie nicht heruntergekommen. So! haltet Euch nur eine Minute aufrecht, Miggs. Was das für eine schlüpfrige Gestalt ist! Man kann sie nirgends gemächlich angreifen. Haltet Euch eine Minute aufrecht. Miggs, wollt Ihr?«

Da Miggs jedoch gegen alle Bitten taub blieb, so lehnte sie Herr Tappertit etwa wie einen Spazierstock oder Regenschirm an die Wand, bis er das Fenster verschlossen hatte, worauf er sie wieder auf seine Arme nahm und nicht ohne große Schwierigkeit, welche hauptsächlich in den ungleichen Körperlängen und vielleicht auch einigermaßen in ihrer physischen Beschaffenheit, die vorhin angedeutet wurde, ihren Grund haben mochte – in kurzen Stationen die Treppe hinauftrug. Oben angelangt, pflanzte er sie in derselben Spazierstock- oder Regenschirmmethode gegen die Innenwand neben ihre Thüre und überließ sie ihrer Ruhe.

»Nun, jetzt mag er so kalt seyn, als er will,« sagte Miß Miggs, die, sobald sie allein war, wieder zu sich kam; »ich bin jetzt in seinem Vertrauen, und er kann nicht anders; ja, er könnte nicht anders, und wenn auch zwanzig Simmune in ihm steckten.«



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