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An dem einen Ende des von einer Mauer umgebenen Gartens, den Mr. Pendyce nach dem Muster des Gartens von Strathbeggaly angelegt hatte, stand eine Anzahl von Birnen- und Kirschbäumen. Sie begannen frühzeitig zu knospen, und gegen Ende der dritten Aprilwoche stand auch der letzte Kirschbaum in voller Blüte. In dem hohen Gras darunter erwuchs Jahr um Jahr eine Überfülle von gelben und weißen Narzissen und sonnte ihre gelben Sterne in dem Lichte, das durch die Blütenmasse da oben herunterrieselte.
Hier war Mrs. Pendyce oft zu finden, die Hände mit starken Handschuhen bekleidet; da stand sie dann, ein wenig rot im Gesicht vom Bücken, still mitten im Garten, als ob der Anblick von all dem Blühen ringsumher etwas Ruhevolles hätte. Die alten Bäume hatten es ihr zu danken, daß sie Jahr um Jahr dem Verschnitt entgingen und den Verbesserungen, die der erfinderische Geist des Gutsherrn am liebsten angewendet hätte. Sie war groß geworden in einer alten Überlieferung der Totteridges, daß man Obstbäume ihrem Schicksal überlassen sollte, indes ihr Gatte für ein modernes System der Obstkultur eintrat. Sie hatte um diese Bäume gekämpft. Und bisher waren sie das einzige gewesen, um das sie seit ihrer Verheiratung wirklich gekämpft hatte. Horace Pendyce erinnerte sich noch mit einem Unbehagen, dem die Zeit das Peinliche genommen hatte, wie sie, mit dem Rücken gegen die Tür des gemeinsamen Schlafzimmers gelehnt, dagestanden und gesagt hatte: »Wenn du die armen Bäume beschneidest, Horace, ziehe ich hier aus!« Darauf hatte er energisch erklärt, er würde sie sofort schneiden lassen; nachdem er aber die Ausführung seiner Absicht ein paar Tage hinausgeschoben hatte, standen die Bäume dreiunddreißig Jahre später noch unbeschnitten da. Er war schließlich sogar stolz darauf, daß sie fortfuhren, Früchte zu tragen: »Wunderliche Marotte von meiner Frau – wollte sie nie beschneiden lassen. Und dabei kommen sie – merkwürdig genug – besser vorwärts als alle die andern Bäume.«
In diesem Frühjahr, da alles schon so weit voran war, und der Kuckuck kräftig rief, da in der Neuen Anlage (entstanden im Jahre von Georges Geburt) der zarte Duft der jungen Lärchen in der Luft war wie der Wohlgeruch von himmlischen Limonen, kam sie häufiger als sonst in den Obstgarten. Wieder empfand sie das unruhvolle, das alte, halb wehmütige Sehnen nach etwas Unbekanntem, das sie während ihrer ersten Jahre auf Worsted Skeynes so oft empfunden hatte. Und während sie auf einer grüngestrichenen Bank unter dem größten der Kirschbäume saß, dachte sie noch mehr als sonst an George, als ob ihres Sohnes Seele, in seiner ersten echten Leidenschaft erzitternd, hilfesuchend nach ihr rief.
Er war während des ganzen Winters so selten hinausgekommen, nur zweimal auf ein paar Tage zur Jagd und einmal über Sonntag, und sie hatte gefunden, daß er mager und ermüdet aussah. Es war das erstemal, daß er zu Weihnachten nicht gekommen war. Unendlich vorsichtig hatte sie ihn gelegentlich gefragt, ob er Helen Bellew oft begegnete, und er hatte erwidert: »O ja, ich treffe sie ab und zu!«
Heimlich suchte sie den ganzen Winter über in der ›Times‹, ob Georges Pferd erwähnt sei, und war enttäuscht, als sie nichts fand. Einmal aber im Februar, als sie es ganz an der Spitze von mehreren Listen mit Pferdenamen, hinter denen irgendwelche Zahlen standen, entdeckte, schrieb sie frohen Herzens sofort an ihn. Von fünf Listen, in denen des ›Ambler‹ Name genannt sei, wäre nur eine, in der er an zweiter Stelle stände. Georges Antwort kam etwa nach Verlauf einer Woche. Sie lautete:
Meine liebe Mutter!
Was Du da gelesen hast, waren die Gewichte für die Frühjahrs-Handicaps. Sie haben meinem Pferd und mir durch diese Gewichte alle Chancen genommen.
In großer Eile
Dein Dich liebender Sohn
George Pendyce.
Das Frühjahr nahte heran; und die Vision ihres durch Pflichten unbehinderten Aufenthaltes in London, die ihr den ganzen Winter hindurch geleuchtet, wurde, nachdem sie ihre alljährliche Aufgabe erfüllt hatte, matter und matter und entschwand schließlich ganz und gar. Und als wäre sie nie gewesen, hörte Mrs. Pendyce sogar auf, von ihr zu träumen; George erinnerte sie auch nicht an ihr Versprechen, und, wie gewöhnlich, gab sie es auf, zu warten, daß er sie erinnere. Statt dessen dachte sie an den Sommer-Logierbesuch mit seiner Reihe von Festlichkeiten, und eine leise Nervosität beschlich sie dabei. Denn Worsted Skeynes und alles, was zu Worsted Skeynes gehörte, war wie ein gepanzerter Reitersmann, der sie mit eisernen Händen eine enge Gasse entlang schleppte; sie träumte davon, ihn ins Freie hinauszutreiben – aber sie konnte nie ins Freie gelangen.
Um sieben Uhr morgens wurde sie mit dem Tee geweckt, und von sieben bis acht machte sie sich kleine Notizen auf einzelne Zettel, indes Mr. Pendyce auf dem Rücken lag und leise schnarchte. Um acht Uhr stand sie auf. Um neun Uhr schenkte sie den Kaffee ein. Von halb zehn bis zehn widmete sie sich ihrem Haushalt und ihren Vögeln. Von zehn bis elf hatte sie mit dem Gärtner und mit ihrer Toilette zu tun. Von elf bis zwölf schrieb sie Einladungen an Leute, aus denen sie sich nichts machte, und dankende Zusagen an Leute, die sich aus ihr nichts machten. Sie schrieb auch Schecks aus und legte sie zur Unterschrift für ihren Mann zurecht oder ordnete Quittungen ein, die sie mit einem Gummiband zusammenhielt. Fast regelmäßig empfing sie auch einen Besuch von Mrs. Hussell Barter. Von zwölf bis eins ging sie dann mit ihr und den ›lieben Hunden‹ ins Dorf, wo sie zögernd an den Haustüren von Leuten stehenblieb, die eine Scheu vor ihr hatten. Von halb zwei bis zwei war ihre Mittagszeit. Von zwei bis drei ruhte sie auf dem Sofa in ihrem weißen Frühstückszimmer; sie hatte die Zeitung in der Hand und versuchte, die Parlamentsberichte zu lesen, und dachte dabei an ganz was anderes. Die Zeit von drei bis halb fünf gehörte ihren Blumen, von denen sie jedoch jeden Augenblick durch die Ankunft eines Besuches abberufen werden konnte; oder aber sie fuhr zu einem halbstündigen Besuch auf eines der Nachbargüter. Um halb fünf schenkte sie den Tee ein. Um fünf strickte sie an einem Schlips oder einer Socke für George oder Gerald und folgte mit mildem Lächeln den Vorgängen um sie herum. Von sechs bis sieben ließ sie die Ansichten des Hausherrn über Parlamentsereignisse und über die Dinge im allgemeinen über sich ergehen. Von sieben bis halb acht zog sie sich um und legte ein dekolletiertes, schwarzes Kleid mit echten Spitzen um den Halsausschnitt an. Um siebeneinhalb Uhr speiste sie. Um dreiviertel neun hörte sie Nora zu, die zwei Walzer von Chopin und die ›Serenade du Printemps‹ von Baff spielte, worauf Bé aus dem ›Mikado‹ oder der ›Geisha‹ sang. Von neun bis halb elf pflegte sie, wenn sich ein Partner dafür fand, Piquet zu spielen, das ihr Vater sie gelehrt hatte; da das aber nicht oft vorkam, legte sie sich meist selbst Patiencen. Um halb elf ging sie zu Bett. Pünktlich um halb zwölf weckte sie der Hausherr. Um ein Uhr schlief sie ein. An jedem Montag schrieb sie in ihrer deutlichen Totteridge-Handschrift mit den feinen geraden Strichen zur Bestellung in der Leihbibliothek eine Liste von Büchern auf, die wahllos zusammengestellt war aus all denen, die in dem ›Frauenmagazin‹, das allwöchentlich kam, empfohlen wurden. In gewissen Zeitabständen pflegte Mr. Pendyce eine eigene Liste hinzuzufügen, die er in der Stille seines Arbeitszimmers den Buchankündigungen in der ›Times‹ und im ›Field‹ entnommen hatte. Gemeinsam mit ihrer eigenen Bücherliste schickte sie diese nach London.
So wurde das Haus mit derjenigen Literatur versorgt, die seinen Bedürfnissen durchaus angepaßt war; und kein unerlaubtes Buch konnte sich einschmuggeln – wenn das auch Mrs. Pendyce nicht weiter aufgeregt hätte, denn, so äußerte sie oft mit leisem Bedauern: »Ich habe wirklich kaum Zeit zum Lesen.«
An diesem Nachmittag war es so warm, daß die Bienen alle um die Blüten herumsurrten. Zwei Drosseln, die ihr Nest in einem Eibenbaum hatten, der in den schottischen Garten hineinsah, befanden sich in großer Aufregung, weil ihnen ein Junges heruntergefallen war. Die Vogelmama hockte still am Rande des hohen Rasens und bemühte sich, durch gutes Beispiel das jämmerliche Piepsen des winzigen Geschöpfes zu beruhigen, damit nicht etwas Großes oder Menschliches herbeigelockt würde.
Mrs. Pendyce, die unter dem ältesten Kirschbaum saß, horchte nach den Lauten, und als sie ihren Ursprung entdeckt hatte, ging sie hin, hob das Vögelchen auf, und da sie alle Niststellen kannte, brachte sie es wieder zurück in sein Bettchen, zum großen, sich laut äußernden Schreck und Entsetzen der Vogeleltern. Dann ging sie wieder zu ihrer Bank und setzte sich hin.
In ihrer Seele war etwas von dem Schreck der Drosselmutter. Die Maldens hatten ihr einen Besuch abgestattet, der ihrer alljährlichen Übersiedlung in die Stadt vorausging; und noch lag jene gewisse dunkle Glut, die Lady Malden hervorzurufen imstande war, auf Mrs. Pendyces Wangen. Freilich konnte sie sich mit dem Gedanken trösten: ›Ellen Malden ist so philiströs‹. Aber heute war er keine Beruhigung für ihre Seele.
In Begleitung einer ihrer blassen Töchter, die nicht von ihrer Seite wich, und von zwei müden Hunden, die den ganzen Weg hatten mitlaufen müssen, und die jetzt mit heraushängender Zunge unter dem Wagen lagen, war Lady Malden erschienen und reichlich lange geblieben. Dreiviertel dieser Zeit hatte sie offenbar unter einem Gefühl unerfüllter Pflicht gelitten; während des letzten Viertels aber hatte dann Mrs. Pendyce unter einem Gefühl jener erfüllten Pflicht zu leiden gehabt.
»Meine Liebe«, so hatte Lady Malden angefangen, nachdem sie ihre blasse Tochter ins Gewächshaus geschickt, »ich bin die letzte auf der Welt, die Klatsch weiterträgt, das wissen Sie; aber ich glaube, ich tue recht, wenn ich Ihnen erzähle, was mir zu Ohren gekommen ist. Also, mein Fred« (der einmal Lord Malden werden sollte) »gehört zu demselben Klub wie Ihr Sohn George – den ›Stoikern‹. Alle jungen Leute gehören ja dazu – ich meine, wenn sie überhaupt wer sind. – Es ist leider nicht daran zu zweifeln – man hat Ihren Sohn mit Mrs. Bellew bei – ich sollte vielleicht den Namen gar nicht nennen – bei Blafard – gesehen. Sie wissen sicherlich nicht, was für ein Lokal dieses Blafard ist – es sind eine Anzahl einzelner kleiner Zimmer da, und Leute, die nicht gesehen werden wollen, gehen hin. Ich bin selbstverständlich niemals dort gewesen; aber ich kann mir's sehr gut vorstellen. Und nicht etwa einmal hat man sie da gesehen, nein, oft. Ich dachte mir, ich müßte es Ihnen sagen, weil ich es so unerhört finde, gerade in Ihrer Lage!«
Eine Azalee in einem blauweißen Topf stand zwischen ihnen, und in die Blüten vergrub Mrs. Pendyce Wangen und Augen. Aber als sie das Gesicht wieder hob, da waren ihre Augenbrauen ganz hoch hinaufgezogen, und ihre Lippen bebten vor Zorn.
»Oh«, begann sie, »wußten Sie das nicht? Da ist gar nichts dabei! Das Restaurant ist jetzt in Mode!«
Einen Augenblick schwankte Lady Malden; dann wurde sie dunkelrot; sie hatte ihre Schlagfertigkeit und ihre Grundsätze wiedergefunden.
»Wenn das die neueste Mode ist«, sagte sie würdevoll, »dann scheint es mir die höchste Zeit, daß wir in die Stadt kommen.«
Sie stand auf, und dabei traten ihre ungünstigen Körperproportionen so scharf hervor, daß es Mrs. Pendyce blitzartig durchzuckte:
›Weshalb ließ ich mich schrecken? Sie ist ja nur –‹ und dann in raschem Übergang – ›arme Frau! Was kann sie dafür, daß sie so kurze Beine hat?‹
Aber als sie fort war mit ihrer blassen Tochter und den müden Hunden, die wieder hinter dem Wagen herliefen, da preßte Margery Pendyce ihre Hand ans Herz.
Und hier draußen, zwischen den Bienen und den Blumen, wo die Schwarzdrosseln ihre neuen Weisen mit jedem Male schöner hervorschmetterten und die Luft betäubend süß war von Wohlgerüchen, wollte ihr Herz nicht stiller werden; es pochte, als ob ihr selbst Gefahr drohe. Und sie sah ihren Sohn wieder als kleinen Buben im beschmutzten Matrosenanzug mit dem Strohhut, der ihm tief in den Nacken gerutscht war, wie er erhitzt und eifrig von irgendeinem Abenteuer zu ihr gelaufen kam.
Und plötzlich überflutete sie ein Strom von Erregung, der tief aus ihrer Seele und der Seele des Frühlingstages aufstieg, ein Bewußtsein, daß eine starke, unerbittliche Macht sie von ihrem Sohne trenne; und sie zog ein winziges, gesticktes Taschentuch hervor und weinte.
Um sie her summten achtlos die Bienen; Blüten fielen zur Erde; das herabrieselnde Sonnenlicht zeichnete sie mit einem Muster, das beinahe ihren feinen Spitzen glich. Vom Gutshof her kam das Muhen der Kühe, die zum Melken gingen, und – ein ungewohnter Laut hier – der ferne Ton einer Kinderflöte ...
Mrs. Pendyce fuhr hastig mit ihrem Tüchlein über ihre Augen und mechanisch, den Gesetzen ihrer Erziehung folgend, verlor ihr Gesicht jede Spur von Erregung. Sie blieb ruhig sitzen, indes ihre behandschuhten Finger das kleine Tuch zerknüllten.
»Mutter! Ah, hier bist du! Gregory Vigil ist da!«
Nora kam, an jeder Seite einen Foxterrier, den Weg herauf; hinter ihr erschien, ohne Hut, Gregorys vollblütiges Gesicht unter dem angegrauten Haar, das wie Flügel seinen Kopf umwehte.
»Ihr habt vermutlich miteinander zu reden. Ich gehe indes hinüber ins Pfarrhaus. Auf nachher!«
Und, die Hunde voran, entfernte sich Nora.
Mrs. Pendyce streckte ihm die Hand entgegen.
»Ah, Grig«, sagte sie, »das nenne ich eine Überraschung!«
»Ich habe dir das hier mitgebracht«, sagte er. »Willst du es, bitte, durchlesen, ehe ich antworte?«
Mrs. Pendyce, die es unklar empfand, daß er erwartete, sie würde die Dinge mit seinen Augen ansehen, nahm bangen Herzens den dargereichten Brief.
Privat.
Lincoln's Inn Fields, 21. April 1892.
Mein lieber Vigil! Ich habe jetzt Beweise in Händen, die es uns ermöglichen, die Klage einzureichen. In diesem Sinne habe ich Ihrem Mündel geschrieben, und ich erwarte nun ihre Weisungen. Leider können wir nicht wegen Mißhandlung klagen; und ich war genötigt, sie darauf aufmerksam zu machen, daß, wenn ihr Gatte Widerspruch erheben sollte, es schwerhalten wird, beim Gerichtshof die Scheidung durchzusetzen auf Grund böswilligen Verlassens von Seiten des Ehemannes – schwer selbst dann, wenn der Ehemann keinen Widerspruch erhebt. Man muß sich immer vergegenwärtigen, daß in Scheidungsfällen oft das, was unerörtert bleiben soll, von größerer Wichtigkeit ist als das, was zur Erörterung steht; und es wäre deshalb wertvoll, zu wissen, ob ein Widerspruch im Bereiche der Wahrscheinlichkeit liegt. Ich möchte nicht gerade raten, an den Ehemann direkt heranzutreten; aber wenn Sie irgend etwas Bestimmtes über seine Absichten in Erfahrung bringen, lassen Sie es mich gefälligst wissen. Ich hasse allen Humbug, mein lieber Vigil, und ich hasse alle Schleichwege; aber Ehescheidungssachen haben meist etwas Unsauberes; und solange das Gesetz seine jetzigen Formen beibehält und die schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit gewaschen wird, kann niemand, ob schuldig oder unschuldig, und sogar keiner von uns Advokaten es vermeiden, sich auf die eine oder andere Weise die Hände schmutzig zu machen. Ich finde das genauso bedauerlich wie Sie selbst.
Im ›Tertiary‹ bringt ein neuer Mann Gedichte, von denen einige hervorragend sind. Sehen Sie sich einmal das letzte Heft an.
Mein Garten ist in diesem Jahre prachtvoll.
Mit freundschaftlichem Gruß
Ihr aufrichtig ergebener
Edmund Paramor.
Mrs. Pendyce ließ den Brief in den Schoß sinken und sah ihren Vetter an.
»Er war mit Horace zugleich in Harrow. Ich mag ihn sehr gern. Er ist einer der sympathischsten Menschen, die ich kenne.«
Offenbar suchte sie Zeit zu gewinnen.
Gregory begann auf und ab zu schreiten.
»Paramor ist ein Mann, vor dem ich die größte Achtung habe. Ich könnte ihm mehr als sonst wem vertrauen.«
Offenbar suchte auch er Zeit zu gewinnen.
»Oh, gib, bitte , auf meine Narzissen acht!«
Gregory ließ sich auf die Knie nieder und hob die Blume auf, die er zertreten hatte. Dann überreichte er sie in dieser Stellung Mrs. Pendyce. Was er da und wie er es tat, kam ihr so ungewohnt vor, daß es für sie eine leise Spur von Lächerlichkeit gewann.
»Mein guter Grig, du wirst dir einen Rheumatismus zuziehen und den hübschen Anzug verderben! Grasflecke gehen so schwer wieder heraus!«
Gregory erhob sich und sah verlegen auf seine Knie.
»Meine Knie sind nicht mehr, was sie früher waren«, meinte er.
Mrs. Pendyce lächelte.
»Du sollst dir das Knien für Helen Bellew aufsparen, Grig! Ich war immer fünf Jahre älter als du!«
Gregory fuhr sich durchs Haar.
»Vor einer Dame knien ist nicht mehr modern; aber ich dachte, auf dem Lande dürfte man das noch.«
»Du gibst nicht acht auf solche Dinge, Grig. Auf dem Lande ist's noch weniger modern. Im Umkreis von dreißig Meilen fändest du hier keine Frau, die einen Mann vor sich knien sehen möchte. Wir sind nicht mehr daran gewöhnt. Sie würde glauben, man macht sich lustig über sie. Wir entwachsen der Eitelkeit sehr rasch.«
»In London«, meinte Gregory, »bemühen sich, wie ich höre, alle Frauen, Männer zu sein; aber auf dem Lande dachte ich –«
»Auf dem Lande, Grig, möchten alle Frauen gern Männer sein; aber sie trauen sich nicht, es zu probieren. Sie sind rückständig.«
Mrs. Pendyce errötete, als hätte sie sich einer allzu scharfen Bemerkung schuldig gemacht.
Aus Gregory brach es plötzlich hervor:
»Ich bring's nicht fertig, mir die Frauen so zu denken!«
Wieder lächelte Mrs. Pendyce.
»Ja, siehst du, Grig, du bist nicht verheiratet.«
»Ich hasse den Gedanken, daß die Ehe unsere Anschauungen verändert, Margery; ich verwünsche ihn!«
»Gib auf meine Narzissen acht!« mahnte Mrs. Pendyce.
Während der ganzen Zeit dachte sie: ›Dieser schreckliche Brief! Was soll ich tun?‹
Und als kenne er ihre Gedanken, sagte Gregory: »Ich will annehmen, daß Bellew keinen Einwand erheben wird. Wenn er einen Funken von Ritterlichkeit in sich hat, wird er nur allzu froh darüber sein, daß sie ihre Freiheit wiederbekommt. Nie möchte ich glauben, daß ein Mann ein so herzloser Kerl sein könnte, sie gewaltsam festhalten zu wollen. Ich bilde mir nicht ein, die Gesetze zu verstehen; aber mir scheint, für einen Mann gibt's da nur einen Weg – und schließlich ist Bellew ein Gentleman. Du wirst sehen, er wird danach handeln!«
Mrs. Pendyce betrachtete die Narzisse, die auf ihrem Schoße lag.
»Ich habe ihn nur drei oder vier Mal gesehen, Grig; aber ich hatte den Eindruck, als sei er ein Mensch, der heute so und morgen ganz anders handeln kann. Er ist so ganz verschieden von all den Männern hier herum!«
»Wenn sich's um die wichtigen Dinge des Lebens handelt«, bemerkte Gregory, »dann ist wohl ein Mann ziemlich wie der andere. Kennst du irgendeinen, dem es so an Ritterlichkeit mangelt, daß er in einem solchen Falle versagen würde?«
Mrs. Pendyce sah ihn mit einem sonderbaren Ausdruck an – Erstaunen, Bewunderung, Spott, ja sogar Angst kämpften in ihrem Blick.
»Ich könnte ein Dutzend aufzählen.«
Gregory griff sich an die Stirn.
»Margery«, sagte er, »ich hasse deinen Zynismus. Wo hast du den nur her?«
»Entschuldige; zynisch wollte ich nicht sein – weiß Gott nicht. Ich urteile nur nach dem, was ich sehe.«
»Sehe?« gab Gregory zurück. »Wenn ich nach dem urteilen sollte, was ich in London täglich, stündlich im Laufe meiner Tätigkeit sehe, dann müßte ich binnen einer Woche Selbstmord begehen.«
»Aber wonach sonst kann man urteilen?«
Ohne zu antworten, ging Gregory bis an den Rand des Obstgartens und blieb da, den schottischen Garten überblickend, das Gesicht ein wenig dem Himmel zugewandt, stehen. Mrs. Pendyce hatte die Empfindung, es grämte ihn, daß es ihr nicht gelang, dasselbe zu sehen, was er da oben sah, und das tat ihr leid. Gleich darauf kam er zu ihr zurück und sagte:
»Wir wollen nicht mehr davon sprechen.«
Sie sah ihn unsicher an; aber da sie die Unruhe und Zweifel, die ihre Seele quälten, nicht äußern wollte, sagte sie nur, daß der Tee bereit sei. Gregory wollte jedoch jetzt noch nicht aus der Sonne heraus, ins Haus zurück.
Im Wohnzimmer bereitete Bé schon für den jungen Tharp und Pastor Barter den Tee. Und der Klang dieser wohlbekannten Stimmen gab Mrs. Pendyce ein wenig von ihrer Ruhe wieder. Der Pfarrer kam ihr gleich mit der Teetasse in der Hand entgegen.
»Meine Frau hat Kopfweh«, begann er. »Sie wollte mit herüberkommen, aber ich bestand darauf, daß sie sich hinlegte. Gegen Kopfweh gibt's nichts Besseres als Ruhe. Wir erwarten es im Juni, wie Sie wissen. Ich bringe Ihnen gleich den Tee.«
Mrs. Pendyce, die schon bis auf den Tag von dem unterrichtet war, was er im Juni erwartete, setzte sich hin und betrachtete Barter mit einem leisen Gefühl des Erstaunens. Er war doch ein guter Mensch! Wie nett von ihm, darauf zu bestehen, daß seine Frau sich ausruhte! Sie fand, daß in seinem breiten, rotbraunen Gesicht mit der vortretenden Unterlippe etwas Gutmütiges lag. Roy, der Skyeterrier, schnupperte an den Beinen des hochwürdigen Herrn und wedelte mit dem Schwanz.
»Der alte Bursch hat mich gern«, meinte der Pastor; »die wissen sofort, wer ein Hundeliebhaber ist – famose Geschöpfe, diese Hunde! Manchmal fühle ich mich versucht, zu glauben, daß sie eine Seele haben.«
Mrs. Pendyce entgegnete:
»Horace meint, er wäre schon zu alt.«
Der Hund sah zu ihr auf, und um ihre Lippen zuckte es.
Der Pfarrer lachte.
»Sorgen Sie sich darum nicht; in dem steckt noch Lebenskraft genug!« Und unerwartet fügte er hinzu: »Ich wäre nicht imstande, einen Hund umzubringen – den Freund des Menschen. Nein, nein, das mag die Natur nur selbst besorgen!«
Drüben am Flügel blätterten Bé und der junge Tharp in der ›Geisha‹; das Zimmer war vom Duft der Azaleen erfüllt, und Barter, der rittlings auf einem vergoldeten Stuhl saß, hatte beinahe etwas Mildes, während er da liebevoll auf den alten Terrier herabsah.
Mrs. Pendyce empfand ein plötzliches Sehnen danach, ihre Seele zu erleichtern, ein plötzliches Verlangen, den Rat eines Mannes zu erbitten.
»Lieber Herr Pastor«, begann sie, »mein Vetter Gregory Vigil hat mir eben eine Nachricht überbracht; aber betrachten Sie sie, bitte, als ganz vertraulich: Helen Bellew will sich scheiden lassen. Ich möchte Sie nun fragen, ob Sie mir sagen können« – sie sah Barter ins Gesicht und hielt inne.
»Sich scheiden lassen! Hm! Wirklich!«
Es überlief Mrs. Pendyce kalt vor Schreck.
»Natürlich werden sie niemanden davon sprechen, selbst nicht Horace. Die Sache hat nichts mit uns zu tun.«
Mr. Barter verneigte sich; sein Gesicht trug denselben Ausdruck, den es oft sonntags in der Schule zeigte.
»Hm«, äußerte er noch einmal.
Mrs. Pendyce hatte plötzlich die Empfindung, daß der Mann da mit den vollen Wangen und den drohenden Augen, der so wuchtig auf dem zierlichen Stuhl saß, irgend etwas wußte. Es war, als hätte er geantwortet:
›Das ist nichts für Weiber; wollen Sie das gefälligst mir überlassen!‹
Abgesehen von den wenigen Worten Lady Maldens und der Erinnerung an Georges Ausdruck, mit dem er gesagt hatte: ›O ja, ich sehe sie hie und da!‹ hatte sie keinerlei Beweise, keinerlei Anhaltspunkte. Aber sie wußte mit einem Male aus irgendeinem unbestimmten Gefühl heraus, daß ihr Sohn Helen Bellews Geliebter war.
Und nun sah sie, halb ängstlich, und doch mit einer gewissen Erwartung, Gregory ins Zimmer treten.
›Vielleicht›, dachte sie, ›bestimmt er Grig zu einer Umkehr.‹
Sie goß Gregory den Tee ein, dann folgte sie Bé und Cecil ins Gewächshaus und ließ die beiden Männer allein.