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Neuntes Kapitel

Bellew beugt sich einer Dame

Das Haus von Bellew, ›Die Föhren‹, lag schweigend da; und in diesem schweigenden Hause, in dem nur fünf Zimmer bewohnt waren, saß ein alter Diener in dem Anrichteraum auf einem Holzstuhl und las einen Aufsatz aus dem ›Ländlichen Boten‹. Es war niemand da, der ihn stören konnte, denn der Hausherr schlief, und die Aufwartefrau war zur Bereitung des Dinners noch nicht erschienen. Er las langsam durch eine Brille, und grub die Worte für alle Ewigkeit in die Tafeln seines Geistes. Er las über den Körperbau und die Gewohnheiten der Eule:

›Die Eulen, Striges, Unterordnung der Coraciiformes, sind in etwa 180 Arten über die ganze Erde verbreitet. Sie haben einen gedrungenen Körper; der Kopf mit großen, nach vorn gerichteten Augen und kurzem Schnabel erscheint wegen seiner lockeren Befiederung besonders groß; die Außenfahne der ersten Handschwingen ist gefranst, Lauf und Fuß meist ganz befiedert.‹ Der alte Mann hielt inne und sah mit blinzelnden Augen durch die Stäbe der schmalen Fenster hinaus in den bleichen Sonnenschein; und ein kleiner Vogel, der ihm vom Fenstersims aus zusah, flog eilig davon.

Der alte Diener begann von neuem zu lesen: ›Nachts fliegen sie meist lautlos umher und erbeuten mit Hilfe ihres scharfen Gesichts und Gehörs kleine Käfer, Vögel und Insekten. Man unterscheidet drei Hauptgruppen: Die Ohreneulen, mit Federbüschen an den Ohren, wozu der Uhu, die Sumpf-Ohreule und Zwergeule gehören; die Käuze ohne Ohrbüschel mit mehr oder minder vollständigem Schleier.‹ – Wieder hielt er inne und ein Ausdruck von Milde und Befriedigung lag in seinem Blick.

Oben in dem kleinen Rauchzimmer saß in einem Ledersessel sein Herr und schlief. Die Füße in staubigen Reitstiefeln hielt er weit von sich gestreckt. Seine Lippen waren geschlossen, aber durch eine kleine Öffnung in dem einen Mundwinkel kam ein leiser prustender Ton. Auf dem Boden neben ihm war ein leeres Glas, und zwischen seinen Füßen schlief eine spanische Bulldogge. Auf einem Bordbrett über seinem Kopf standen ein paar abgegriffene, gelbe Novellenbände mit Sporttiteln. Über dem Kamin thronte das Bild von Mr. Jorrocks, wie er eben seinem Pferde zuspricht, einen Fluß zu durchqueren.

Und das Antlitz des schlafenden Jaspar Bellew war das Antlitz eines Mannes, der weit geritten ist, um vor sich selbst zu fliehen, und der morgen wieder weit zu reiten haben wird. Seine strohfarbnen Augenbrauen zuckten im Traume auf der wachsbleichen, sommersprossigen Haut über den hohen Backenknochen, und zwei scharfe Falten standen zwischen seinen Brauen; ab und zu huschte über das scharfe Antlitz der Ausdruck eines Menschen, der auf eine Hürde losreitet.

Im Stall hinter dem Hause hob sie, die ihn auf seinem Ritt getragen, nachdem sie ihre letzten Körner aufgestöbert hatte, die Nase und zwängte sie durch die Stäbe ihrer Box, um nach ihm auszuspähen, der ihren Herrn heute an dem schwülen Nachmittag nicht getragen hatte; und als sie sah, daß er wach war, schnaubte sie ein bißchen, womit sie sagen wollte, daß Gewitter in der Luft sei. Sonst war alles im Stall totenstill; das Gesträuch draußen stand reglos; und in dem schweigenden Haus schlief der Gebieter.

Aber auf der Kante seines Holzstuhles, in der Stille des Anrichteraumes las der alte Diener: ›Die Eulen sind gierige Fresser‹, und er hielt inne, blinzelte mit den Augen und spitzte eifrig die Lippen, denn das hatte er ungefähr verstanden.

Mrs. Pendyce ging über die Felder. Sie hatte ihr hübschestes Kleid aus rauchgrauem Crêpe an, und ein wenig ängstlich sah sie nach dem Himmel. Ein Sturm, der sich im Westen zusammengezogen hatte, begann das blasse Sonnengewölk zu jagen. Gegen sein Violett standen die Bäume schwärzlich-grün. Regungslos war alles umher, selbst die Pappeln rührten kein Blatt, aber das Violett zog, sich ausbreitend, mit drohender, starrer Geschwindigkeit näher. Mrs. Pendyce schritt rascher aus, indes sie ihr Kleid mit beiden Händen hochraffte, und es fiel ihr auf, daß das Vieh unter den Heckensträuchern dicht beieinander stand.

›Was für schreckliche Wolken!‹ dachte sie. ›Ob ich wohl das Haus erreiche, ehe es losbricht?‹ Aber wenn auch ihr Kleid sie zur Eile antrieb, so zwang doch ihr Herz sie zum Stehenbleiben; so heftig pochte es und so schwer war es ihr. Wenn er nun nicht nüchtern war! Sie erinnerte sich seiner kleinen glühenden Augen, die sie geängstigt hatten an jenem Abend, als er bei ihnen auf Worsted Skeynes gespeist hatte und danach aus seinem Dogcart herausgestürzt war. Eine Art sagenhafter Tücke umgab seine Gestalt.

›Wenn er mich nun schlecht empfängt‹, dachte sie.

Zurück konnte sie jetzt nicht mehr; aber sie wünschte – oh, wie sehr wünschte sie! –, daß es vorüber wäre. Ein Tropfen fiel auf ihren Handschuh. Sie schritt über den Fahrweg und öffnete das Tor, das zu ›Die Föhren‹ führte. Mit angstvollen Blicken nach dem Himmel eilte sie die Allee hinauf. Das Violett lag wie ein Bahrtuch über den Wipfeln der Bäume, und diese schwankten und ächzten, als wehrten sie sich gegen ihr Geschick und jammerten darüber. Ein paar warme Regentropfen fielen. Und ein Blitzstrahl zerriß das Firmament. Mrs. Pendyce lief, die Hände an die Ohren pressend, auf die Veranda zu.

›Wie lang das wohl dauern mag?‹ dachte sie. ›Mir ist so bang!‹

Ein ganz alter Diener, das Gesicht voller Falten, öffnete plötzlich die Tür, um nach dem Sturm auszugucken, aber als er draußen Mrs. Pendyce gewahrte, guckte er statt dessen nach ihr.

»Ist Herr Hauptmann Bellew zu Hause?«

»Ja, gnädige Frau. Der Hauptmann ist in seinem Arbeitszimmer. Wir benutzen das Wohnzimmer jetzt nicht. Ein garstiger Sturm is im Anzug, gnä' Frau – ein garstiger Sturm. Nehmen Sie, bitte, einen Augenblick Platz; ich will derweil dem Herrn Hauptmann Bescheid sagen.«

Die Halle war niedrig und dunkel; das ganze Haus war niedrig und dunkel, und es roch darin ein wenig nach Moder. Mrs. Pendyce setzte sich nicht hin, sondern blieb unter einem Arrangement von drei Fuchsköpfen stehen, auf denen zwei Reitgerten mit herabhängender Lasche ruhten. Beim Anblick der Tierköpfe dachte sie unwillkürlich: ›Armer Mann; wie einsam muß er hier sein!‹

Sie fuhr erschreckt zusammen. Irgend etwas drängte sich gegen ihre Knie; es war eine riesige Bulldogge. Sie beugte sich hinunter, um das Tier zu streicheln, und, nachdem sie einmal angefangen, konnte sie nicht mehr aufhören, denn jedesmal, wenn sie die Hand fortnahm, drängte sich die Dogge an sie, und Mrs. Pendyce fürchtete für ihr Kleid.

»Armer alter Bursch – armer alter Bursch!« murmelte sie wieder und wieder. »Kümmert sich keiner recht um dich, was?«

Eine Stimme hinter ihr sagte:

»Marsch hinaus, Sam! Entschuldigen Sie, daß ich warten ließ. Wollen Sie, bitte, hier hereinkommen?«

Mrs. Pendyce, die abwechselnd rot und blaß wurde, trat in ein niedriges, kleines, holzgetäfeltes Zimmer, in dem es nach Zigarren und Branntwein roch. Durch das Fenster, das in kleine Felder geteilt war, konnte sie sehen, wie der Regen vorüberjagte und die Sträucher sich unter dem Regenguß neigten und tropften.

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?«

Mrs. Pendyce setzte sich. Sie hatte die Finger ineinandergeschlungen; jetzt hob sie den Blick und sah scheu auf den Herrn des Hauses.

Sie gewahrte eine hagere, hochschultrige Gestalt mit etwas gespreizten, krummen Beinen, wirrem, strohblondem Haar, einem bleichen Gesicht voller Sommersprossen und kleinen, dunklen, unruhigen Augen.

»Tut mir leid, daß es im Zimmer so wüst aussieht. Hab' nicht oft das Vergnügen, eine Dame hier zu empfangen. Ich hatte geschlafen – meine Hauptbeschäftigung um diese Jahreszeit!«

Der stachlige, rote Schnurrbart bog sich, als ob seine Lippen lächelten. Mrs. Pendyce murmelte irgend etwas.

Ihr schien, als sei nichts hier wirklich, sondern alles ein schreckhafter Traum. Ein Donnerschlag ließ sie ihre Hände an die Ohren pressen.

Bellew ging ans Fenster, blickte nach dem Himmel und kam wieder zum Kamin zurück. Seine kleinen, glühenden Augen schienen sie durchbohren zu wollen. ›Wenn ich nicht sofort rede‹, dachte sie, ›dann rede ich überhaupt nicht!‹

»Ich bin hergekommen –« begann sie, und mit diesen Worten fiel alle Furcht von ihr ab; ihre Stimme, die bis dahin unsicher gewesen, gewann wieder den ihr eignen Klang; ihre Augen, die nur Pupille waren, blickten dunkel und fest auf diesen Mann, der sie alle in seiner Macht hatte – »ich bin hergekommen, um Ihnen etwas mitzuteilen, Hauptmann Bellew.«

Die Gestalt am Kamin verneigte sich leicht, und wie ein bösartiger Vogel, so kam die Furcht wieder auf sie herabgeflattert. Es war gräßlich, es war grausam, daß sie, daß irgendwer von solchen Dingen sprechen sollte; es war grausam, daß Frauen und Männer einander so wenig verstehen, so wenig Rücksicht und Mitgefühl für einander haben sollten; es war grausam, daß sie, Margery Pendyce, genötigt sein sollte, über eine Angelegenheit zu sprechen, die ihnen beiden unsäglich peinlich sein mußte. Das war alles so niedrig, so roh und gemein. Sie nahm ihr Taschentuch heraus und fuhr sich damit leicht über die Lippen.

»Verzeihen Sie, wenn ich darüber spreche! Ihre Frau hat die Beziehungen zu meinem Sohn abgebrochen, Herr Hauptmann!«

Bellew rührte sich nicht.

»Sie liebt ihn nicht mehr; sie hat es mir selbst gesagt! Er wird sie nie wiedersehen!«

Wie abscheulich, wie grausam, wie abstoßend!

Auch jetzt sagte Bellew noch nichts, sondern stand da, als wollte er sie mit seinen kleinen Äuglein verschlingen; und sie wußte nicht, wie lange das noch dauern würde.

Plötzlich wandte er ihr den Rücken und lehnte sich gegen das Kaminsims.

Mrs. Pendyce strich mit der Hand über ihre Stirn, um sich von einem Gefühl der Unwirklichkeit zu befreien.

»Das ist alles«, sagte sie.

Ihre Stimme klang ihr selbst fremd.

›Wenn das wirklich alles ist‹, dachte sie, ›dann muß ich jetzt aufstehen und gehen!‹ Und dabei fuhr es ihr durch den Sinn: ›Mein armes Kleid wird ganz ruiniert.‹

Bellew wandte sich ihr wieder zu. »Möchten Sie Tee?«

Mrs. Pendyce lächelte ein blasses, leises Lächeln.

»Nein, danke sehr. Ich kann jetzt nichts nehmen.«

»Ich habe einen Brief an Ihren Gatten geschrieben.«

»Ich weiß.«

»Er hat ihn nicht beantwortet.«

»Nein.«

Mrs. Pendyce sah, wie er sie anstarrte, und ein verzweifelter Kampf begann in ihrer Seele. Sollte sie ihn bitten, sein Wort zu halten, jetzt, nachdem George –? War sie nicht allein deshalb hierhergekommen? Sollte sie es nicht – sollte sie es nicht um ihrer aller willen tun?

Bellew ging an den Tisch, goß Whisky in sein Glas und trank es aus.

»Sie bitten mich nicht, die Klage zurückzuziehen«, sagte er.

Mrs. Pendyces Lippen waren geöffnet, aber kein Laut kam über diese geöffneten Lippen. Ihre Augen, schwarz wie Schlehen in dem bleichen Gesicht, hingen fest an den seinen.

Bellew fuhr sich hastig mit der Hand über die Stirn.

»Na also, ich ziehe sie zurück«, sagte er; »um Ihretwillen. Da, meine Hand drauf. Sie sind die einzig wirkliche Dame, die ich kenne!«

Er umschloß ihre behandschuhten Finger, stürzte an ihr vorüber, und sie sah sich allein im Zimmer.

Unbegleitet fand sie ihren Weg hinaus; Tränen liefen ihr über die Wangen. Ganz leise schloß sie die Haustür.

›Mein armes Kleid‹, dachte sie. ›Ob ich wohl hier ein Weilchen stehenbleiben kann? Der Regen scheint vorüber.‹

Das violettfarbene Gewölk war fortgezogen und hinter dem Hause verschwunden, der wieder helle Himmel sandte nur noch vereinzelte, funkelnde Tropfen hernieder; ein Stück tiefen Blaus erschien hinter den Föhren in der Allee. Die Drosseln waren schon wieder auf der Würmerjagd. Ein Eichhörnchen, das sich auf einem Zweig tummelte, hielt inne und sah auf Mrs. Pendyce herunter, und Mrs. Pendyce sah abwesend hinter ihrem Taschentuch hervor, mit dem sie sich die Augen trocknete, auf das Eichhörnchen.

›Der arme Mann‹, dachte sie, ›so ein armes, einsames Wesen! Da ist die Sonne!‹ Und es war ihr, als schiene die Sonne zum erstenmal in diesem schönen, warmen Jahre. Sie raffte ihr Kleid mit beiden Händen, trat in die Allee hinaus, und bald war sie wieder in den Feldern.

Jeder Grashalm schimmerte, und die Luft war so regenfrisch, daß alle anderen Sommerdüfte vor dieser kristallklaren Duftlosigkeit verschwanden. Mrs. Pendyces Schuhe waren sehr bald durchweicht. ›Wie glücklich bin ich!‹ – dachte sie – ›wie froh und glücklich bin ich!‹

Und dieses Gefühl war so mächtig in ihr, daß es hier, in den regendurchtränkten Feldern, keine andere Empfindung aufkommen ließ.

Die Wolke, die so lange über Worsted Skeynes gehangen, war geborsten und verschwunden. Jeder Laut schien Musik; alles, was sich regte, schien zu tanzen. Sie sehnte sich danach, zu ihren Frührosen zu kommen, um nachzusehen, was der Regen ihnen getan hatte. Sie mußte über einen Feldsteg, und als sie glücklich hinüber war, hielt sie einen Augenblick inne, um ihr Kleid fester zu raffen. Sie befand sich jetzt wieder auf eigenem Grund, und gerade vor ihr lag das Herrenhaus. Langgestreckt und niedrig und weiß stand es in dem zauberischen Abenddunst, mit zwei hellen Fenstern, auf die das Sonnenlicht fiel, und die wie Augen weithin auf die Grenzlinien seiner Äcker blickten; und hinter dem Haus, ein wenig nach links, breit und fest und grau inmitten seiner Ulmen die Dorfkirche. Ringsumher, über allem und weit hinaus, war Friede – der träumerische, neblige Friede eines englischen Spätnachmittags.

Mrs. Pendyce schritt auf ihren Garten zu. Als sie sich ihm näherte, bemerkte sie rechts drüben den Gutsherrn und Pastor Barter. Sie standen nebeneinander und besahen einen Baum und – als Symbol einer demütigen Unterklasse – saß der Spaniel John da auf seinem Schwanz, und auch er besah den Baum. Das Gesicht des Pfarrers und das des Gutsherrn hielten sich in dem gleichen Winkel, und so verschieden ihr auch jene beiden Gesichter und Gestalten in der ewigen Gegensätzlichkeit ihrer Sonderart erschienen, so gewahrte sie doch mit Erstaunen etwas wie eine wesentliche Ähnlichkeit zwischen beiden. Es schien, als wäre ein Geist auf seiner Suche nach einem Körper jenen beiden Erscheinungen begegnet und hätte sich, unentschieden in seiner Wahl, in beiden zugleich niedergelassen.

Mrs. Pendyce winkte ihnen nicht zu, sondern beeilte sich, zwischen den Eibenbäumen hindurch, die Eingangspforte zu erreichen.

In ihrem Garten fielen leuchtende Tropfen langsam von jedem Rosenblatt, und in den Kelchen jeder Rose lagen glitzernde Wasserjuwelen. Etwas weiter hin am Weg traf ihr Blick auf ein Unkraut; sie sah näher zu und gewahrte noch mehr.

›Oh‹, dachte sie, ›wie nachlässig, daß man das Unkraut da so – ich muß wirklich mit Jackman reden!‹

Ein naher Rosenstrauch, den sie selbst gepflanzt hatte, raschelte auf und ließ einen Tropfenschauer zur Erde fallen.

Mrs. Pendyce beugte sich und faßte behutsam eine weiße Rose. Mit lächelnden Lippen küßte sie ihr Antlitz.


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