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Viel schwerer, als ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, wird ein Mensch Mitglied des Stoiker-Klubs – es sei denn auf Grund des Erbprinzips. Denn nur, wenn er ein Einkommen von Hause aus hat, kann er zugelassen werden; und da Paragraph I der Statuten jede gewerbsmäßige Beschäftigung untersagt, muß sein Einkommen von der Arbeit derer herrühren, die vor ihm waren. Und je ferner das zurückliegt, desto wahrscheinlicher ist, daß er nicht schwarz ballotiert wird.
Und doch dürfte es einem Mensch, der nicht in den Stoiker-Klub eintritt, schwerfallen, sich jene unbedingte äußere Sicherheit anzueignen, die notwendig ist, um den Mangel an innerer Sicherheit zu verbergen. Der Klub ist aber auch ein bewunderungswertes Beispiel dafür, wie die Natur gleich das Heilmittel gegen jedes Übel bei der Hand hat. Es war ihr bekannt, daß George Pendyce und Hunderte von anderen jungen Leuten aus gutem Hause niemals die Kämpfe und Leiden des Lebens aus nächster Nähe gesehen hatten. Wenn nun das Leben in seiner rücksichtslosen und boshaften Art sie in plötzliche Berührung mit unhöflichen Schicksalsfällen brachte, so stand zu befürchten, daß diese Herrschaften sich vielleicht durch Ausrufe der Verwunderung und Entrüstung mißliebig machen könnten, und da hatte nun die Natur eine Maske ersonnen und sie innerhalb der Portale des Stoiker-Klubs zu höchster Vollendung entwickelt. Mit dieser Maske bekleidete sie die Gesichter derjenigen jungen Männer, in deren Seelenkraft sie Zweifel setzte, und nannte sie – Gentlemen. Und wenn sie, und nur sie allein, ihr jämmerliches Wimmern hinter jener Maske vernahm, bei jedem Mal, wo das Leben sie mit plumpen Händen packte, da bemitleidete sie die Armen, weil sie wußte, daß nicht sie selbst die Schuld trugen, sondern das veraltete System, das sie zu dem gemacht hatte, was sie waren. Und in ihrem Mitleid schenkte sie so manchem von ihnen dicke Haut, feste Füße und selbstzufriedene Seelen; so durften sie nun ihr Leben auf ausgetretenen Pfaden wandeln und bis zum Tode in jenen Sälen schlummern, in denen vor ihnen ihre Väter bis zu ihrem Tode geschlummert hatten. Manchmal aber schüttelte die Natur (die noch keine Sozialistin war) rauschend ihre Flügel und ließ einen Warnungsseufzer hören, damit die Ausschreitungen und Auswüchse jenes Systems nicht Ausschreitungen und Auswüchse der entgegengesetzten Art zutage fördern mochten. Denn wenn ihr etwas verhaßt war, so war es jede Art von Verschrobenheit; und vor jener besonderen Form der Verschrobenheit, die Mr. Paramor so grob als ›Pendycitis‹ bezeichnete, hatte sie einen richtigen Abscheu.
Es mag vorkommen, daß eine Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn jahrelang schlummert, und erst, wenn zerstörende Mächte die Glieder der Kette bedrohen, die beide verbindet, springt sie hervor und wird durch ein wunderliches Spiel der Natur die wichtigste Hilfskraft bei der Zerstörung des Erbsystems, dessen stumme, beachtenswerte Entschuldigung eben jene Ähnlichkeit ist.
Sicherlich wußte weder George noch sein Vater, bis zu welchem Grade diese ›Pendycitis‹ im andern Wurzel gefaßt hatte; noch vermuteten sie, sogar nicht bei sich selbst, jenes Maß von blindem Starrsinn, das ihnen tief in der Seele saß, jene Kraft der Beharrlichkeit, weiterzugehen auf dem Wege, der das höchste Maß an unnützem Leid verursachen mußte. Es war nicht ihre Absicht, unnützes Leid zu verursachen; sie konnten einfach nichts für den Instinkt, der mit der Zeit in ihnen groß geworden war infolge des Einschrumpfens ihrer Urteilsfähigkeit und der ständigen Inzucht, die seit Generationen bei allen denen üblich war, deren Motto stets gewesen: ›Könige auf unseren eignen Dunghaufen‹. Und nun zeigte sich George – der Ansicht seiner Mutter zum Trotz, daß er ein Totteridge sei – als Verfechter des Fideikommiß-Prinzips; denn in den Totteridges, von denen er in diesem Augenblick des Konfliktes mehr und mehr zu seines Vaters Familie hinneigte, war ein freierer Zug, etwas weniger Beschränktes. Das stammte aus jener Zeit, da Hubert de Totteridge seinen eigenen Kreuzzug angeführt hatte, von dem er niemals heimgekehrt war.
Bei den Pendyces lagen die Dinge anders; seit undenklichen Zeiten waren sie eine Landadels-Familie gewesen und hatten, nach der buchstäblichen Deutung dieser Bezeichnung lebend, sich keinerlei poetische Freiheit gestattet. Wie zahllose andere Familien des Landadels waren sie notwendigerweise das geworden, was ihnen die Tradition vorschrieb – kleinstädtisch in ihrer Seele.
George, als Mann von Welt, würde gestaunt haben, wenn man ihn kleinstädtisch genannt hätte, aber ein Mensch kann seine Natur nicht hinwegstaunen. Er war kleinstädtisch genug, Mrs. Bellew für sich zu beanspruchen, als sie bereits seiner müde war, und Rücksicht auf sie sowie Selbstachtung verlangt hätten, daß er sie frei gäbe. Seit zwei Monaten oder noch länger hatte er sie noch festzuhalten versucht. Aber freilich gab es Entschuldigungen genug für ihn. Sein Herz war wund; er war krank vor Sehnsucht und bitterem, zornigem Staunen, daß gerade er unter allen Männern beiseite geworfen sein sollte wie ein abgetragener Handschuh. Es geschah täglich, daß Männer einer Frau überdrüssig wurden – das war das Natürliche. Aber was war das? Sein Eigensinn hatte sich gegen die Erkenntnis gewehrt, so lange er konnte. Und jetzt, da sie ihm zur Gewißheit geworden war, kämpfte er noch immer dagegen an. George war ein richtiger Pendyce!
Für die Welt jedoch war er derselbe wie immer. Er kam gegen zehn Uhr in den Klub, um sein Frühstück zu nehmen und die Sportblätter zu lesen. Gegen zwölf Uhr brachte ihn eine Droschke an die Bahnstation, die für das jeweils stattfindende Rennen in Betracht kam, oder, wenn das fehlte, zu Lords Kricketplatz oder dem Princes-Tennis-Klub. Sobald es halb sieben war, schritt er die Treppe des ›Stoiker-Klubs‹ zu jenem Spielzimmer hinan, in dem noch sein Bild mit dem Ausdruck ›Schwer, schwer, aber ich muß es durchhalten‹ hing! Um acht Uhr dinierte er, neben sich eine Flasche Champagner in Eis vergraben, das Antlitz gerötet von der Sonne des Tages, das Oberhemd glänzend weiß und einen Glanz auf dem gescheitelten Haar. Gab es in dem ganzen großen London einen glücklicheren Mann?!
Aber beim Einbruch der Dunkelheit öffneten sich die Drehtüren des Klubs, um ihn hinaus zu lassen in die erleuchteten Straßen, und bis zum nächsten Morgen wußte die Welt nichts mehr von ihm. Das war die Zeit seiner Rache für all die Stunden, in denen er eine Maske trug. Da pflegte er ganze Meilen weit die Straßen zu durchwandern, um sich zu ermüden, oder er warf sich im Park auf einen Stuhl, tief im Schatten der Bäume und saß da, die Arme verschränkt und den Kopf tief gebeugt. An andern Abenden ging er in irgendeine Music Hall, und inmitten der grellen Lichter, bei dem rohen Lachen und dem Duft bemalter Frauen versuchte er für Augenblicke das Gesicht, das Lachen, den Duft jener Frau zu vergessen, nach der er sich in Sehnsucht verzehrte. Und während dieser ganzen Zeit empfand er eine Eifersucht, eine dumpfe, unbestimmte Eifersucht auf – er wußte nicht wen. Es lag nicht in seiner Natur, unpersönlich zu denken, und er konnte sich nicht vorstellen, daß eine Frau ihn fallenließ, wenn es nicht um eines anderen Mannes willen geschah. Oft suchte er ihr Haus auf und umkreiste es mit verstohlenem Blick nach ihren Fenstern hinauf. Zweimal war er bis an ihre Tür gegangen, aber wieder umgekehrt, ohne zu klingeln. Eines Abends, als er Licht in ihrem Wohnzimmer bemerkte, klingelte er, aber es wurde nicht aufgemacht. Wild geworden, klingelte er wieder und wieder. Endlich ging er fort und suchte sein Zimmer – ein Maleratelier, das er in der Nähe gemietet hatte – auf, und begann an sie zu schreiben. Er brauchte lange zur Abfassung des Briefes, und immer wieder zerriß er ihn; er haßte es, in Briefen seinen Gefühlen Ausdruck zu geben. Er machte den Versuch, weil sein Herz sich so sehr nach Erleichterung sehnte. Und schließlich war alles, was er fertig brachte:
Ich weiß, Du warst heute abend zu Haus. Es ist das einzige Mal, daß ich da war. Weshalb wolltest Du mich nicht hereinlassen? Du hast kein Recht, mich so zu behandeln. Du siehst es mit an, daß ich ein Leben führe wie ein Hund.
George.
Der erste Lichtschimmer versilberte die Dämmerung über dem Strom, die Lampen begannen zu erlöschen, als George hinaustrat und den Brief in den Kasten warf. Dann ging er wieder an den Fluß hinunter und legte sich auf eine leere Bank unter die Platanen des Embankment. Und während er dalag, trat einer von denen, die ohne Obdach oder Heim Nacht für Nacht dort liegen, unbemerkt heran und betrachtete ihn.
Aber der Morgen kam, und mit ihm erwachte das Bewußtsein des Lächerlichen, das für Menschen, die ein Leid tragen, oft so wohltätig ist. George sprang auf, damit niemand sehen sollte, wie ein Stoiker da in seinem Gesellschaftsanzug lag, und er nahm seine Maske wieder vor und machte sich auf den Weg. Im Klub fand er die Benachrichtigung seiner Mutter und ging in ihr Hotel.
Mrs. Pendyce war noch nicht unten und ließ ihn bitten, hinaufzukommen. George fand sie im Frisiermantel inmitten des Zimmers stehend, als wüßte sie nicht recht, von welchem Platz aus sie ihn bei dieser ihrer Begegnung empfangen sollte. Erst als er ganz nahe gekommen war, tat sie ein paar Schritte und schlang ihre Arme um seinen Hals. George konnte ihr Gesicht nicht sehen, denn er hatte das seine abgewandt. Aber durch ihr dünnes Kleid hindurch fühlte er, wie sie sich an ihn klammerte, und wie ihre Arme, die seinen Kopf heruntergezogen hatten, bebten; für einen Augenblick war ihm, als fiele eine Last von ihm. Aber das war nur ein Augenblick; dann stieg, als ihre Arme ihn noch immer umschlungen hielten, eine instinktive Angst vor jeder Erregung in ihm auf. Obgleich sie lächelte, hatte sie Tränen in den Augen, und das war ihm peinlich.
»Bitte nicht, Mutter!«
Mrs. Pendyces Antwort war ein langer Blick. George konnte ihn nicht ertragen und wandte sich ab.
»So«, begann er rauh, »wenn du mir jetzt vielleicht sagen kannst, was dich hierhergeführt hat –?«
Mrs. Pendyce setzte sich aufs Sofa. Sie war eben im Begriff gewesen, ihr Haar zu bürsten. Wenn es auch mit silbernen Fäden durchzogen war, so erschien es noch voll und weich, und es war für George ein sonderbarer Anblick, wie es ihr über die Schultern fiel. Er hatte sie sich nie mit herabhängendem Haar vorgestellt.
Während er auf dem Sofa neben ihr saß, fühlte er, wie ihre Hände die seinen streichelten, gleichsam als ob sie bäten, ihr nicht böse zu sein und nicht fortzugehen. Er fühlte, wie ihre Augen seine Blicke suchten, und sah ihre Lippen zittern. Aber ein eigensinniges, fast böses Lächeln lag auf seinem Gesicht.
»Ja, mein Junge – ja also«, stammelte sie, »ich habe deinem Vater erklärt, daß ich nicht zusehen könnte, was da geschieht, und so bin ich zu dir gekommen.«
Vielen Söhnen ist es niemals schwer geworden, alles, was ihre Mütter für sie taten, als ihr gutes Recht anzusehen, nie bedrückend, deren Hingabe als etwas Selbstverständliches zu betrachten, und die eigene Zärtlichkeit nur erraten zu lassen; aber die meisten Söhne haben es sehr schwer gefunden, ihren Müttern zu gestatten, daß sie nur um einen Zoll von der Konvention abwichen, sich nur um Haaresbreite entfernten von dem Niveau jener Wohlanständigkeit, die Mütter von Männern ihrer Bedeutung wohl ansteht.
Es ist den Müttern bestimmt, daß ihre Geburtsschmerzen nicht aufhören sollen, bis sie sterben.
George war daher aufs peinlichste berührt, als seine Mutter ihm sagte, daß sie seinen Vater verlassen hätte, um bei ihm zu bleiben. Es gab seinem Selbstgefühl einen leisen, sonderbaren Stich. Der Gedanke, daß böse Zungen nun über sie tratschen würden, empörte sein Mannesempfinden und sein Schicklichkeitsgefühl. Es schien ihm wunderlich, unverständlich und durchaus unrecht. Nebenbei blitzte auch der Gedanke in ihm auf: ›Sie versucht einen Druck auf mich auszuüben!‹
»Wenn du glaubst, ich werde sie aufgeben, Mutter –« begann er.
Mrs. Pendyces Finger schlossen sich fester um seine Hand.
»Nein, mein Junge«, antwortete sie gequält; »natürlich, wenn sie dich so liebt, könnte ich es von dir nicht verlangen. Das ist's ja, weshalb ich –«
George lachte leise und grimmig auf.
»Ja, was in aller Welt willst du denn sonst? Was hat es für einen Zweck, daß du hierherkommst? Wie willst du hier ganz allein fertig werden? Ich kann meinen Kampf selbst durchkämpfen. Es wäre weit besser, du gingest zurück.«
»Oh, George«, brach es aus Mrs. Pendyce hervor, »ich kann nicht still zusehen, wie du aus unserer Familie ausgestoßen wirst. Ich muß zu dir halten!«
George fühlte, wie sie am ganzen Körper zitterte. Er stand auf und ging ans Fenster. Mrs. Pendyces Stimme folgte ihm:
»Ich will nicht versuchen, euch zu trennen, George; ich verspreche es dir, mein Junge. Ich könnte es nicht, wenn sie dich liebt, und wenn du sie so liebst!«
Wieder lachte George jenes grimmige, leise Lachen. Und die Tatsache, daß er sie täuschte, daß er gesonnen war, die Täuschung durchzuführen, machte ihn hart wie Eisen.
»Fahr nach Hause, Mutter!« sagte er. »Du würdest die Dinge nur schlimmer machen. Das ist keine Frauensache. Laß Vater tun, was er mag; ich kann schon aushalten!«
Mrs. Pendyce antwortete nicht, und er war gezwungen, sich umzuwenden. Sie saß ganz still da, die Hände im Schoß; und der Haß des Mannes gegen jedes auffällige Erlebnis einer Frau und seiner Mutter vor allen anderen, flammte hell in George auf.
»Fahr nach Haus, Mutter!« wiederholte er, »ehe irgendwelcher Klatsch laut wird. Was kannst du denn hier nützen? Du kannst Papa nicht verlassen, das wäre unmöglich! Du mußt heim!«
Mrs. Pendyce entgegnete: »Das kann ich nicht, mein Junge.«
George ließ einen Laut der Ungeduld vernehmen; aber sie war so blaß und regungslos, daß es plötzlich in ihm aufdämmerte, wie sehr sie litt, und wie wenig er von ihr wußte, die ihn geboren hatte.
Mrs. Pendyce unterbrach das Schweigen.
»Aber du, George, mein Junge? Was soll nun geschehen? Wie willst du mit der Sache fertig werden?«
Diese Worte, die alles in sich faßten, was sein Herz seit langem belastet hatte, überwältigten George. Er ging hastig zur Tür.
»Ich kann jetzt nicht länger bleiben«, sagte er. »Ich komme heute abend wieder.«
Mrs. Pendyce sah zu ihm auf.
»Ach, George –«
Aber da sie gewohnt war, ihre eigenen Gefühle den Gefühlen anderer unterzuordnen, sagte sie nichts weiter, sondern versuchte zu lächeln.
Dieses Lächeln schnitt George ins Herz.
»Gräme dich nicht, Mutter; nimm die Sache nicht so schwer. Wir wollen heute abend ins Theater gehen. Besorg du die Billetts.«
Er versuchte auch zu lächeln, mußte sich aber abwenden, um seine Selbstbeherrschung nicht zu verlieren, und verließ das Zimmer.
Im Vestibül stieß er auf seinen Onkel, General Pendyce. Er sah ihn zuerst von hinten, aber er erkannte ihn sofort an jenem leisen Einknicken der Knie, an seinen abfallenden, aber noch geraden Schultern und dem Klang seiner Stimme mit ihrer trockenen und nörgelnden Entschiedenheit, die wie die Stimme eines Mannes klang, dem man seinen Beruf genommen hat.
Der General wandte sich um.
»Ah, George«, sagte er, »deine Mutter ist hier? Lies mal das, was dein Vater mir geschickt hat!«
Er hielt ihm mit zitternder Hand ein Telegramm hin:
›Margery dort in Greens Hotel. Suche sie bitte sofort auf. – Horace.‹
Und während George las, betrachtete der General seinen Neffen. Um seine Augen zogen sich kleine Kreise dunklerer Färbung, unter denen Tränensäcke, von Krähenfüßen durchfurcht, lagen, die er sich im Dienst des Vaterlandes in den Tropen zugelegt hatte.
»Was soll die Depesche bedeuten?« fragte er. »Sie aufsuchen. Ist mir immer eine Freude, deine Mutter zu sehen. Aber weshalb denn diese Eile?«
George erkannte wohl, daß seines Vaters Stolz ihm nicht erlaubte, der Mutter zu schreiben; und wenn die Mutter auch um seinetwillen den Schritt unternommen hatte, so stimmte er dem Vater doch bei. Der General ließ ihm zum Glück wenig Zeit zur Antwort.
»Sie will sich wahrscheinlich ein paar Toiletten besorgen, was? Ich hab' dich seit so langer Zeit nicht gesehen! Wann willst du mal bei mir essen? Ich hörte in Epsom, du hättest dein Pferd verkauft. Warum? Wozu schickt mir dein Vater wohl so ein Telegramm? Sieht ihm gar nicht ähnlich. Deine Mutter ist doch nicht etwa krank?«
George schüttelte den Kopf, murmelte etwas von »bedaure sehr, eine Verabredung – hab' keine Zeit« und fort war er.
Als er sich plötzlich so allein gelassen sah, winkte der General einen Boy herbei, schrieb umständlich ein paar Worte auf seine Visitenkarte und wartete dann, den Rücken dem einzigen im Vestibül anwesenden Menschen zugedreht, die Hände auf die Krücke seines Stockes gefaltet. Und während er dastand und wartete, gab er sich Mühe, an nichts zu denken. Nachdem er seinem Vaterland gedient hatte, verbrachte er jetzt fast seine ganze Zeit mit Warten; das Denken machte ihn müde und mißmutig, denn er hatte einmal einen Sonnenstich und mehrere Male das Fieber gehabt. Mit dem tadellosen Sitz seines Kragens, seiner Stiefel, seines Anzuges, in der Art, wie er sich von Zeit zu Zeit räusperte, mit dem eigentümlich vertrockneten Gelb eines von einem sorgfältig gebürsteten Backenbart umrahmten Gesichtes, mit seinen regungslos auf den Stock gestützten weißen Händen, machte er den Eindruck eines Menschen, den ein System völlig ausgetrocknet und verknöchert hat. Nur sein unruhiger, eigensinniger Blick verriet den ganzen Pendyce, der dahinter steckte.
Er ging in den Damensalon hinauf, das Telegramm noch in der Hand. Es ärgerte ihn. Irgend etwas Absonderliches war darin, und er war nicht gewohnt, am frühen Morgen Besuche abzustatten. Er fand seine Schwägerin am offenen Fenster sitzend; ihr Gesicht war lebhafter gerötet als sonst, in ihrem Blick lag etwas Kampfbereites. Sie begrüßte ihn freundlich, und General Pendyce war nicht der Mann, das zu erraten, was man ihm nicht dicht unter die Nase hielt. Das war glücklicherweise nie seine Gewohnheit gewesen.
»Willkommen, Margery«, sagte er. »Freut mich, dich mal in der Stadt zu sehen! Wie geht's Horace? Da, sieh mal, was er mir geschickt hat!« Er reichte ihr das Telegramm mit einer Miene, als ob er leise eine Kränkung abwehre; dann fügte er plötzlich hinzu, als käme ihm eben erst der Gedanke: »Kann ich irgend etwas für dich tun?«
Mrs. Pendyce las das Telegramm; und auch sie empfand, wie George, Bedauern mit dem Absender.
»Nein, danke sehr, lieber Charles«, sagte sie langsam. »Mir geht's ganz gut. Horace wird recht nervös!«
General Pendyce sah sie an. Einen Augenblick lang zuckten seine Augen; dann, da die Wahrheit so unwahrscheinlich schien und durchaus über seine Kombinationsfähigkeiten hinausging, begnügte er sich mit ihrer Erklärung.
»Er sollte nicht solche Telegramme schicken«, meinte er. »Ich könnte ja daraus entnehmen, du seiest krank geworden. Er hat mir das ganze Frühstück verdorben!« Denn wenn es ihn tatsächlich auch nicht gehindert hatte, sein reichliches Mahl zu vollenden, so bildete er sich doch ein, daß er jetzt hungrig sei. »Als ich in Halifax stationiert war, hatten wir einen Kameraden da, der immer nur Depeschen schickte. ›Depeschen-Jo‹ hieß er bei allen. Wenn Horace mit solchen Sachen anfängt, sollte er einen Spezialisten zu Rate ziehen. Offenbar ist er mit seinen Nerven sehr herunter. Du willst dir hier Garderobe besorgen, nehme ich an. Wann zieht ihr denn in die Stadt? Die ›Season‹ ist in vollem Gange.«
Mrs. Pendyce fürchtete sich nicht vor ihres Gatten Bruder, denn wenn er mit Untergebenen auch etwas nörglich und von oben herab war, so schien er doch kaum der Mann, seinen Standesgenossen besondere Scheu einzuflößen. Es geschah deshalb auch nicht aus Furcht, daß sie ihm die Wahrheit vorenthielt; sondern der Instinkt, sich jede überflüssige Qual zu ersparen, trieb sie dazu. Und außerdem ließ sich die Wahrheit tatsächlich nicht sagen. Ihr selbst erschien sie ein wenig wunderlich. Und sie wußte, der arme General würde es sich sehr zu Herzen nehmen.
»Wir haben wegen der Übersiedlung noch gar nichts bestimmt. Der Garten ist jetzt so wunderschön, und dann ist ja auch Bé nun verlobt. Das gute Kind ist so glücklich!«
Der General streichelte sich den Bart mit seiner weißen Hand.
»Ah ja«, sagte er – »der junge Tharp! Laß sehen, er ist nicht der Älteste, was? Sein Bruder steht in meinem alten Regiment. Was tut der junge Bursch eigentlich?«
Mrs. Pendyce antwortete: »Er betreibt nur die Landwirtschaft. Ich fürchte, er hat kein nennenswertes Vermögen; aber er ist ein lieber, guter Mensch. Es wird eine lange Verlobungszeit werden. Bei der Landwirtschaft kommt ja nicht viel heraus, und Horace besteht darauf, daß sie tausend Pfund jährlich haben müßten. Nun hängt alles von Mr. Tharp ab. Ich meine, sie könnten anfangs sehr gut mit siebenhundert auskommen. Meinst du nicht auch, Charles?«
General Pendyces Antwort war nicht sachlicher als gewöhnlich; denn er war ein Mensch, der es liebte, seinen eigenen Gedankengang weiter zu verfolgen.
»Was ist's mit George?« fragte er. »Ich traf ihn unten im Vestibül, aber er lief mit einer Eile davon, als säße ihm der Teufel im Nacken. In Epsom hat man mir erzählt, daß er arg in der Klemme steckt.«
Seine Augen, durch ein paar Fliegen abgelenkt, die ihn wieder ärgerten, versäumten es, der Schwägerin ins Gesicht zu sehen.
»Arg in der Klemme?« wiederholte sie.
»Soll 'ne Masse Geld verloren haben. Das geht so nicht weiter, Margery; das geht so nicht weiter! Ein bißchen Wetten läßt man sich ja gefallen, aber ...«
Mrs. Pendyce schwieg; ihr Gesicht war wie erstarrt. Es war das Gesicht einer Frau, die im Begriff ist zu sagen: ›Zwinge mich nicht, dir anzudeuten, daß du mir lästig bist!‹
Der General fuhr fort: »Eine Menge neuer Leute laufen jetzt bei den Rennen herum, von denen niemand was Gewisses weiß. Da ist zum Beispiel dieser Mensch, der Georges Pferd gekauft hat. So eine Nase wäre einem in meiner Jugend im Ring nie begegnet. Wenn ich auf einem Rennen bin, ist mir die Hälfte der Farben fremd. Das verdirbt einem den Spaß. Man ist nicht mehr so exklusiv wie früher. George sollte ein bißchen vorsichtiger sein. Ich kann mir nicht vorstellen, wohin wir steuern!«
Margery Pendyces Ohren hatten diese Worte: ›Ich kann mir nicht vorstellen, wohin wir steuern‹, seit vierunddreißig Jahren in allen erdenklichen Verbindungen von den verschiedensten Personen zu hören bekommen. Und im Laufe der Jahre war ihr die Überzeugung ein Teil ihres Lebens geworden, daß die Menschen sich überhaupt nichts vorstellen konnten, ebenso wie die gesunde Kost und das gesunde Behagen von Worsted Skeynes und seine nebelerfüllten Morgen und der Regen ein Teil ihres Lebens geworden waren. Und nur weil sie mit ihren Nerven am Ende und ihr das Herz zum Bersten war, schienen ihr diese Worte heute unerträglich. Aber selbst jetzt war die Gewohnheit stärker als alles andere, und sie blieb still.
Der General, für den eine Antwort nicht viel änderte, setzte seinen Gedankengang fort.
»Und paß auf, Margery, die Wahlen werden gegen uns entscheiden. Das Land ist in einer bedenklichen Lage.«
Mrs. Pendyce entgegnete:
»Oh, glaubst du, daß die Liberalen sich wirklich durchsetzen werden?«
Aus Gewohnheit lag in ihrer Stimme ein leiser Unterton von Angst, die sie gar nicht empfand.
»Ob ich glaube?« fragte der General. »Ich bete jeden Abend zu Gott, es soll ihnen nicht glücken!«
Die Hände über dem silbernen Knopf seines Stockes faltend, starrte er über sie hinweg auf die gegenüberliegende Wand. Und etwas Weltumspannendes lag in diesem beharrlichen Hinstarren, eine Art ungewisser und nicht absolut persönlicher Besorgnis. Von Urahn her war ihm neben seinen persönlichen Interessen die Unfähigkeit, zu begreifen, daß nicht er für die Wohlfahrt seines Landes einzutreten hätte, eingedrillt worden. Mrs. Pendyce, die bei ihrem Gatten so oft diesen Ausdruck gesehen hatte, lehnte sich über der lärmenden Straße zum Fenster hinaus.
Der General erhob sich.
»Na«, sagte er, »wenn ich nichts für dich tun kann, dann will ich nur gehen; du hast ja wohl mit deinen Schneiderinnen Konferenzen. Grüß mir Horace, und sag ihm, er soll mir nicht wieder solch ein Telegramm schicken.«
Und indem er sich steif verneigte, drückte er ihre Hand mit einem Anflug wirklicher Ehrerbietung und Liebenswürdigkeit, nahm seinen Hut und verließ das Zimmer.
Mrs. Pendyce sah ihm nach, wie er die Treppe hinunterstieg, und beobachtete seine steifen, abfallenden Schultern, seinen Kopf mit den grauen, sorgfältig von der Mitte aus nach beiden Seiten gebürsteten Haaren, die Rückseite seiner leicht einknickenden Knie, und sie legte die Hand auf ihre Brust und seufzte; denn mit ihm schien sie ihr ganzes bisheriges Leben verschwinden zu sehen; und das sieht man nie ohne innere Ergriffenheit.