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Siebentes Kapitel

Spazierritt mit dem Spaniel John

Der Spaniel John, der gewöhnlich nach Heidekraut und frischen Cakes roch, wenn er sich vom nächtlichen Schlaf erhob – John war an diesem Donnerstag entschieden in Ungnade. Sein langer, schmaler Schädel brauchte Zeit, um irgendeinem neuen Gedanken Eingang zu gewähren; und erst vierzig Stunden nach Mrs. Pendyces Abreise war es ihm klargeworden, daß seinem Herrn etwas Bedeutsames begegnet sein mußte. Während der aufregenden Minuten, die ihm diese Gewißheit brachten, war er angestrengt tätig. Er nahm zwei und ein halb Paar von den Haus- und Morgenschuhen seines Herrn, trug sie an ganz ungewohnte Stellen und legte sich auf einen nach dem andern, bis sie alle warm waren; dann ließ er sie liegen, damit irgendein Vogel sie weiter ausbrüte, und kehrte an seines Herrn Tür zurück. Für all das bekam er von Mr. Pendyce einigemal ein warnendes ›John‹ zu hören und wurde mit dem Streichriemen bedroht. Und teils weil er es nicht übers Herz brachte, seinen Herrn auch nur einen einzigen Augenblick zu verlassen – seines Scheltens wegen hatte er ihn um so lieber gewonnen – und teils weil die neue Vorstellung ihm zu schaffen machte, blieb er in der Halle liegen und wartete.

Nachdem er einmal in stürmischem Jugendübermut unbedacht dem Pferde des Gutsherrn gefolgt war, vermochte ihn niemand mehr dazu, diese Gefolgschaft zu wiederholen. Er empfand sowohl eine persönliche Abneigung gegen diese überflüssig große und flinke Tiergestalt, wie auch ein starkes Mißtrauen gegen deren Absichten auf seinen Herrn. Denn kaum hatte dieses Tier seinen Herrn auf den Rücken genommen, so blieb nirgends eine Spur seines Geruches zurück – nicht der leiseste Hauch jenes wohltuenden Duftes, der seinem Herzen so teuer war. Sobald daher das Pferd in Sicht kam, pflegte sich der Spaniel John auf den Bauch zu legen, die Vorderpfoten dicht an der Nase und die Nase dicht am Boden; und nicht eher, als bis das Tier davontrabte, ließ er sich herbei, diese Stellung aufzugeben, in der er einer ruhenden Sphinx glich.

Aber an diesem Nachmittag lief er mit eingezogenem Schwanz, schmollender Schnauze und auf und ab gehenden Schultern in angemessener Entfernung hinterdrein, die Nase gerümpft in tiefster Geringschätzung für jene lächerlich hohe Pferderückenfläche, auf der sein Herr saß. Ungefähr so war seinerzeit das ganze Dorf hinter dem Gutsherrn und dem Pfarrer herangezogen, als sie das erste und einzig gebliebene Kanalisationsrohr hierhergebracht hatten.

Mr. Pendyce ritt langsam; seine Füße in den blankgewichsten Stiefeln, seine sehnigen Beine in dem gestreiften Loden und den mahagonifarbenen Gamaschen bewegten sich in gleichem Rhythmus mit dem Trab seines Pferdes. Über seine Schenkel fiel in tadellosem Sitz der langschößige Reitrock; Rücken und Schultern waren ein klein wenig geneigt, um die Erschütterung zu vermindern, und über seiner schneeweißen Halsbinde sah unter einem grauen, runden Hut sein schmales Gesicht mit dem grauen Schnurr- und Backenbart und den bekümmerten Augen nachdenklich und traurig aus. Sein Pferd, eine braune Vollblutstute, trabte gemächlich, den Kopf hochwerfend: der gestutzte Schwanz pendelte ihm vergnüglich zwischen den Schenkeln. Und so zogen sie alle drei im Juni-Sonnenschein durch die belaubte Allee nach Worsted Scotton dahin.

Am Dienstag, dem Tag von Mrs. Pendyces Abreise, war der Gutsherr später als sonst heimgekommen; er hatte die Empfindung, daß ihr, nach dem Disput von gestern abend, ein wenig Kälte seinerseits nicht schaden könnte. Die erste Stunde der Entdeckung war für ihn wie eine einzige, wirre, peinliche Minute gewesen, die mit einem Zornesausbruch und dem Telegramm an General Pendyce endete. Er brachte es selbst zur Post und kam dann durch das Dorf mit gesenktem Kopf zurück; ein Gefühl der Scham hatte sich seiner plötzlich bemächtigt – ein sonderbares und gräßliches Gefühl, das er seines Erinnerns nie zuvor empfunden hatte, eine Art Scheu vor seinen Mitmenschen. Er hätte gern einen versteckten Weg benutzt; aber es gab keinen anderen als die Landstraße, oder den Fußpfad über den Dorfanger und durch den Kirchhof nach dem Gutshaus. Ein alter Häusler stand am Drehkreuz, und der Gutsherr ging auf ihn zu, das Haupt gesenkt, wie ein Stier auf einen Zaun losgeht. Er hatte die Absicht, schweigend vorüberzugehen, aber zwischen ihm und dem zermürbten, alten Bauern bestanden Bande, die Generationen geschmiedet hatten. Und wäre es sein Tod gewesen, Mr. Pendyce hätte nicht an einem Menschen, dessen Väter sich für seine eigenen Väter gemüht, seiner Väter Brot gegessen, mit seinen Vorvätern gestorben waren, er hätte nicht vorüberzugehen vermocht ohne Wort und Gruß.

»Abend, gnädiger Herr; schöner Abend heut! Gutes Wetter fürs Heuen!«

Die Stimme klang dünn und zittrig.

›Das ist mein gnädiger Herr‹, schien sie zu sagen, ›was man auch immer gegen ihn vorbringen mag!‹

Mr. Pendyces Hand griff an den Hut.

»Abend, Hermon. Jawohl, gutes Wetter fürs Heuen! Mrs. Pendyce ist nach London gefahren. Wir sind beide Junggesellen, was?«

Er ging weiter.

Erst als er schon ziemlich weit fort war, wurde ihm klar, weshalb er dem Alten die Mitteilung gemacht hatte. Einfach weil er es jedem, jedem einzelnen sagen mußte; dann konnte niemand überrascht sein.

Er beeilte sich heimzukommen, um sich vor Tisch noch umzukleiden und den Leuten zu zeigen, daß alles in Ordnung sei. Die sieben Gänge mußten ihm vorgesetzt werden, und wenn der Himmel eingestürzt wäre. Aber er aß wenig und trank mehr Rotwein, als sonst seine Art war. Nach dem Essen saß er bei geöffneten Fenstern im Arbeitszimmer, und im Zwielicht las er noch einmal den Brief seiner Frau. Wie mit dem Spaniel John, so war's mit seinem Herrn: Ein neuer Gedanke fand nur sehr allmählich Eingang in seinen langen, schmalen Schädel.

Sie war ja närrisch mit ihrem George; sie wußte ja nicht, was sie da tat, würde bald wieder zur Besinnung kommen. Nicht an ihm war es, irgendwelche Schritte zu tun. Was hätte er auch tun können, ohne einzugestehen, daß er, Horace Pendyce, zu weit gegangen, daß er, Horace Pendyce, im Unrecht sei? Das war nie seine Gewohnheit gewesen, und er konnte sich nicht mehr ändern. Wenn es ihr und George beliebte, in ihrem Eigensinn zu verharren, so mochten sie die Folgen tragen und zusehen, wie sie allein weiterkamen.

In der Stille und dem Lampenlicht, das hinter dem grünen Seidenschirm von Minute zu Minute weicher wurde, saß er da und dachte der Vergangenheit. Und in diesem stummen Dahinträumen erschien – fast wie ihm zum Hohn – keine Erinnerung, die nicht freundlich, kein Bild, das nicht licht war. Er versuchte, unfreundlich von ihr zu denken; er versuchte, sich ihr Wesen in schwarzen Farben auszumalen; aber mit dem Eigensinn, der mit ihm zur Welt gekommen war, um erst zu sterben, wenn er einmal starb, erschien sie vor ihm sanft wie der Genius der Güte und nahm alle seine Gedanken gefangen. Sie trat vor ihn hin – und es war ein Wohlgeruch um sie –, mit leisem Seidenrascheln und dem Klang ihrer geduldigen Stimme; ›Ja, Liebster!‹ als ob sie nicht wüßte, was Langweile sei. Er sah sie wie damals, als er sie vor vierunddreißig Jahren zuerst nach Worsted Skeynes gebracht hatte. ›So schüchtern und wie eine Rose, aber jeder Zoll eine Dame, das liebe Herz!‹ wie seine alte Kinderfrau damals gesagt hatte.

Und er sah sie nach Georges Geburt weiß und durchsichtig wie Wachs, mit Augen, die nur Pupille waren, und einem schattenhaften Lächeln. Und wieder und wieder sah er sie durch all die langen Jahre, aber niemals als eine verblühte, alternde Frau, niemals als eine Frau der Vergangenheit. Jetzt, da sie nicht mehr hier war, kam es Mr. Pendyce plötzlich zum Bewußtsein, daß sie nicht alt geworden, daß sie für ihn immer dieselbe geblieben war, ›schüchtern und wie eine Rose, aber jeder Zoll eine Dame!‹ Er konnte diesen Gedanken nicht ertragen, und er fühlte sich elend und verlassen da beim Lampenlicht, um das die grauen Motten schwärmten, indes der Spaniel John auf seinem Fuß eingeschlafen war.

Deshalb nahm er seine Kerze und ging hinauf ins Schlafzimmer. Die Türen, die zu dem Dienstbotenflügel führten, waren geschlossen. In dem ganzen, großen übrigen Teil des Hauses brannte allein seine Kerze, wurden allein seine Fußtritte laut. Langsam ging er die Treppe hinauf, die er tausendmal gegangen, aber noch nie so wie heute; und hinter ihm, gleich einem Schatten, ging der Spaniel John.

Und sie, die die Herzen der Menschen und Hunde kennt, die Mutter, von der alle Weltdinge kommen, zu der sie alle heimkehren, sie hielt Wacht, und alsogleich nachdem sich die beiden niedergelegt hatten, der eine in sein einsames Bett, der andere auf ein blaues Kissen, sich dicht an die Tür drückend, da hüllte sie sie in Schlaf.

Aber der Mittwoch kam und mit ihm die Mittwochs-Pflichten. Manche, die an den Fenstern des ›Stoiker-Klubs‹ vorübergingen und dort die ›Stoiker‹ haben sitzen sehen, werden von seltsamen Vorstellungen über die müßigen, landbegüterten Klassen verfolgt. Diese Vorstellungen lassen sie nicht schlafen, lassen ihre Zunge nicht aufhören, gehässige Reden zu führen, weil sie selbst Verlangen tragen, jenes ›müßige‹ Leben zu führen. Aber wenn wir in England, dem Lande des Nebels, uns auch mit Vorliebe unklaren Vorstellungen hingeben, die, nicht zu unserem Gram, zu falschen Ansichten über unsere Nachbarn führen, so scheint doch das Wort ›müßig‹ hier nicht das richtige.

Zahlreiche und drückende Aufgaben lasteten auf dem Gutsherrn von Worsted Skeynes. Da galt es, den Stall zu besichtigen, um zu entscheiden, ob ›Beldame‹ die Häcksen ausgebrannt werden sollten, oder ob der Braune zu verkaufen war, weil er die Leute nicht rasch genug vorwärts zog; und mit Benson war die vertrackte Angelegenheit wegen Bruggans oder Beals Hafer zu erledigen, mit Benson, der in Flanellhemdsärmeln mit einem Ledergürtel wie ein dicker Bub mit weißem Backenbart aussah. Dann hieß es, stundenlang am Schreibtisch sitzen, sorgfältig Berichte und Rechnungen prüfen, damit nicht der So-und-So zuviel für zuwenig, oder zuwenig für zuviel bezahlte. Und dann mußte er eilends zu Jarvis, dem Förster, hinüber, um sich bei ihm nach dem Befinden des neuen ungarischen Vogels zu erkundigen, oder um einen Plan zu erörtern, vermittels dessen man beim nächsten Treiben verhindern könnte, daß so viele von jenen geflügelten Geschöpfen, die er großgefüttert hatte, zu seinem Freunde, Lord Quarryman, hinüberflogen. Und es dauerte lange, denn Jarvis fühlte sich gedrungen, wohl an die zehnmal zu wiederholen: »Ja, Mr. Pendyce, gnädiger Herr, ich meine nun wirklich, wir sollten mal zusehen, daß beim letzten Treiben nicht so eine Menge Viecher verlorengehn«, worauf Mr. Pendyce entgegnete: »Gewiß, Jarvis, gewiß. Ja und wie denken Sie sich das?« Und dann gab es noch eine andere schwierige Frage: wie man es erreichen könnte, daß viele Fasanen und viele Füchse in schöner Harmonie beisammen hausten – was lang und breit und liebevoll erörtert wurde, denn, so pflegte der Gutsherr zu sagen: »Jarvis kennt sich aus mit den Füchsen.« Eine Abnahme seines Wildbestandes konnte er unmöglich dulden.

Danach ging's heim zum einfachen Lunch; oder er nahm auch gar nichts, um sich elastisch und arbeitsfroh zu erhalten; darauf gleich wieder hinaus, zu Pferde oder zu Fuß, auf den Gutshof oder auch, wenn es erforderlich war, weiter fort, den ganzen langen Nachmittag über, den aufmerksamen Blick auf Ochsen und Kühe, die Farbe der Steckrüben, auf die Beschaffenheit von Mauern, Türen und Gattern gerichtet.

Dann war es wieder Zeit für den Tee und die ›Times‹, der er bis dahin nur flüchtige Blicke gegönnt hatte; und seine besondere Aufmerksamkeit gehörte allen jenen Regierungsmaßnahmen, die auch nur im entferntesten die bestehende Ordnung der Dinge bedrohten; wobei er natürlich von jenem in Aussicht genommenen Getreidezoll absah, der zur Hebung von Worsted Skeynes so notwendig war. Es geschah auch gelegentlich, daß man ihm Landstreicher zur Aburteilung vorführte, denen er nur die Weisung zu geben pflegte: »Hände her, lieber Mann!« Zeigten sie nicht Spuren ehrlicher Arbeit, so wurde der Mann einfach hinter Schloß und Riegel gesetzt. Fand er aber Schwielen darin, dann geriet Mr. Pendyce in einige Verlegenheit, ging nachdenklich hin und her, lebhaft bemüht zu ergründen, was nun seine Pflicht diesem Menschen gegenüber sei. Es kamen auch Tage, die von Gerichtssitzungen fast ganz in Anspruch genommen waren. So wurden alle Arten von Missetätern vor seinen Richterstuhl geführt, deren Strafmaß er je nach der Verruchtheit ihres Verbrechens bestimmte, von dem frevlerischen Wildern angefangen, bis herab zu dem leichteren Vergehen: Mißhandlung der Ehefrau, denn wenn er auch ein menschenfreundlicher Mann war, so ließ doch die Tradition in ihm es nicht gelten, daß diese letztere Art des Sports als wirklich strafbar anzusehen sei, jedenfalls auf dem Lande nicht.

Es ist freilich wahr, daß alle diese Angelegenheiten von einer jungen, geschulten Intelligenz in einem Bruchteil der Zeit hätten erledigt werden können; aber das wäre eine Vergewaltigung der Tradition gewesen, hätte des Gutsherrn innerste Überzeugung, daß er seine Pflicht erfülle, erschüttert und klatschsüchtigen Mäulern Anlaß gegeben, von Müßiggang zu faseln. Zwar war es Tatsache, daß all sein tägliches Mühen direkt oder indirekt den eigenen Interessen galt; aber er erfüllte damit ja nur seine Pflicht gegen das Vaterland und machte von dem Vorrecht, kleinstädtisch zu sein, Gebrauch, das jeder gute Engländer für sich beansprucht.

Heute aber war ihm die Lust zu allem geschwunden. Allein zu sein inmitten seiner Äcker; ganz allein – niemanden zu haben, der sich darum kümmerte, ob er überhaupt irgend etwas tat, niemanden, dem er mitteilen konnte, daß ›Beldames‹ Häcksen ausgebrannt werden mußten, daß Peacock neue Tore verlangte, das war fast mehr, als er ertragen konnte. Er hätte die Mädchen telegraphisch heimberufen, aber er konnte sich nicht entschließen, ihren Fragen standzuhalten. Und Gerald war in Gibraltar! George! – George war nicht mehr sein Sohn! Und sein Stolz verbot ihm, an sie zu schreiben, die ihn derartig der Einsamkeit und der Scham überlassen hatte. Denn tief unter dem eigensinnigen Groll verbarg sich Scham. Ja, der Squire schämte sich, daß er jetzt seine Nachbarn würde meiden müssen, damit sie nicht Fragen an ihn richteten, die er, um seines eignen guten Namens und um seines eignen Stolzes willen mit einer Lüge beantworten mußte; er schämte sich, daß er nicht Herr sein sollte in seinem eigenen Hause – noch mehr schämte er sich, daß irgend jemand merken könnte, er sei es nicht. Freilich, er wußte nicht, daß er irgendwelche Scham empfand, da er nicht an Selbstbeobachtung gewöhnt war, weil er sie stets auf Armeslänge ferngehalten hatte. Denn er vermochte nur, sich positive Dinge vorzustellen; so, zum Beispiel, als er beim Frühstück aufblickte und nicht seine Frau, sondern Brinton gewahrte, der den Kaffee bereitete, sagte er sich: ›Sollt mich nicht wundern, wenn dieser Bursche von der ganzen Geschichte weiß!‹ Und dabei ärgerte er sich, daß er das dachte. Als er Mr. Barter auf das Haus zukommen sah, schoß es ihm durch den Sinn: ›Verdammt! Ich will ihm nicht begegnen!‹ und hinaus war er und ärgerte sich hinterdrein, daß er vor dem Pfarrer Reißaus genommen. Und als er im Schottischen Garten auf Jackman stieß, der die Rosensträucher begoß, sagte er zu ihm: »Die gnädige Frau ist nach London gefahren«, und dann wandte er sich, hastig ab, verärgert, daß eine geheimnisvolle Regung ihn gezwungen hatte, dem Gärtner diese Mitteilung zu machen.

So erging es ihm den ganzen langen, traurigen Tag über, und das einzige, was ihm Trost gewährte, war, in seiner Testamentsniederschrift Vermächtnisse an seinen ältesten Sohn ungültig zu machen und an ihre Stelle eine Klausel zu setzen:

›Insofern mein ältester Sohn George Hubert sich durch seine Lebensführung, die der eines Gentleman und eines Pendyce nicht entspricht, als meines Vertrauens unwürdig erwiesen hat, und insofern ich zu meinem Bedauern nicht imstande bin, die Bestimmungen über die Unveräußerlichkeit meines Erblehens aufzuheben, erkläre ich hiermit, daß mein Sohn in keiner Weise an der Aufteilung meines übrigen Besitzes oder meines persönlichen Eigentums partizipieren soll. Dies geschieht in der festen Überzeugung, daß es meine Pflicht ist, im Interesse meiner Familie und des Vaterlandes so zu handeln, und ich treffe diese Bestimmungen ohne Zorn, nach ruhiger Erwägung.‹

Denn der ganze Zorn gegen seine Frau, den die Sehnsucht nach ihr nicht aufkommen ließ, kam nun zu dem hinzu, den er bereits gegen seinen Sohn empfand.

Mit der letzten Post kam ein Brief von General Pendyce. Als er ihn öffnete, waren seine Finger ebenso zittrig wie die Handschrift seines Bruders.

Army and Navy Club.

Lieber Horace!

Was zum Kuckuck hat Dich nur veranlaßt, mir so eine Depesche zu schicken? Sie hat mir das Frühstück verdorben und mich in aller Herrgottsfrühe hinausgejagt; und was fand ich? Margery vollständig wohlauf. Hätte ich sie leidend oder sonst irgendwie in Bedrängnis angetroffen, ich wäre ja glücklich gewesen; aber ich fand sie mit ihren Kleidern oder sonst was beschäftigt, und sie hat mich sicherlich für irrsinnig gehalten, daß ich zu so früher Morgenstunde angerückt kam. Du solltest Dir das Depeschenschicken nicht angewöhnen. Eine Depesche hat immer eine besondere Bedeutung; wenigstens habe ich das stets so verstanden. Ich begegnete George, der von ihr kam und höllische Eile zu haben schien. Ich kann jetzt nicht weiter schreiben. Ich muß zum Lunch.

Dein Dich liebender Bruder
Charles Pendyce.

Sie war wohlauf. Sie hatte George gesprochen. Mit kälterem Herzen ging der Gutsherr hinauf ins Schlafzimmer.

Und der Mittwoch erreichte sein Ende ...

Und am Donnerstag nachmittag trug die braune Vollblutstute, gefolgt vom Spaniel John, ihren Herrn die Allee entlang. Sie kamen an ›Die Föhren‹ vorüber, wo Bellew wohnte; dann wandten sie sich rechts und begannen, die Gemeindewiesen hinanzusteigen, und mit ihnen stieg das Bild jenes Burschen auf, der an all dem Kummer schuld war – ein Bild, das Mr. Pendyce jetzt dauernd verfolgte; ein hochschultriges Gespenst mit kleinen, glühenden Äugelchen, kurz geschnittenem, rotem Schnurrbart und dünnen, krummen Beinen. Eine Pestbeule jener Gesellschaftsordnung, die ihm teuer war; ein Schandmal für die Überlieferung, eine Geißel wie Attila, der Hunne; eine Art nichtswürdiger Karikatur von all dem, was ein Landedelmann in Wirklichkeit sein sollte – seiner Liebe zum Sport und zu dem Leben im Freien, seiner Ausdauer und seinem Mut, seinem Zielbewußtsein und seiner zarten Neigung zum Alkohol, wie sich's für einen Mann geziemt, seiner jetzt aus der Mode gekommenen Anschauung von Tapferkeit und Ritterlichkeit. Ja, etwas wie ein verfluchter Popanz von einem Mann war er, ein wilder Jäger, ein Desperado – ein Mensch, den in früheren Zeiten einfach irgendeiner niedergeknallt hätte; ein versoffener Teufel mit weißem Gesicht, der Horace Pendyce verachtete, den Horace Pendyce haßte, und den er doch nicht ganz verachten konnte. ›So einen gibt's immer in einer jagdliebenden Gegend.‹ Ein Ärgernis seinem Stande. Post equitem sedet Jaspar Bellew!

Der Gutsherr gelangte oben auf die Anhöhe, und ganz Worsted Scotton kam in Sicht. Es war eine sandige Fläche, mit Ginster, Wacholder und Heidekraut bestanden und ein paar Kienföhren dazwischen; es besaß keinerlei Wert, und dennoch trug er Verlangen nach diesem Besitz, wie ein Knabe Verlangen tragen mag nach dem Bissen, den ein anderer aus seinem Apfel herausgeholt hat. Es quälte ihn, das Stück Land da liegen zu sehen, zu seinem Besitz gehörig und doch nicht sein eigen – wie ein Weib in der Ehe, das kein richtiges Eheweib ist – gerad, als ob das Schicksal sich auf seine Kosten dieses Besitzes freue. Und ohne ihn war ihm das Bild im Geiste nicht vollständig, denn wie bei allen Menschen nahm bei dem Gutsherrn das, was ihm teuer und sein eigen war, eine bestimmte Gestalt an, wurde ihm zu einer Sache, die er vor sich sah. Sobald er an den Namen ›Worsted Skeynes‹ dachte – und das war eigentlich immer – stieg ein ganz deutliches, greifbares Bild vor ihm auf, das er freilich nicht hätte beschreiben können; und wie immer dieses Bild auch sein mochte, er fühlte, Worsted Scotton verdarb es. Freilich wußte er nicht recht, wie er die Gemeindewiesen nutzbar machen sollte, aber er empfand mit Bitterkeit, daß der Widerstand bei den Bauern nichts als reine Dickköpfigkeit war; und das war ihm unerträglich. Nicht ein Stück Vieh war im Laufe von zwei Jahren auf diesem dürren Strich fett geworden. Drei alte Esel nur fütterten sich da kümmerlich durch, für den Rest ihrer Tage. Ein Bündel Reisig oder verdorrte Farren, ein paar Torfstücke aus einem einzigen Eckchen, das war der ganze Ertrag für die engherzigen Dörfler. Aber die kamen dabei auch gar nicht so sehr in Betracht; mit denen wäre er schon fertig geworden; diesem Kerl, dem Peacock, nur konnte er nicht beikommen, weil zufällig dessen Anwesen an das Gemeindeland grenzte, und weil seine Vorväter sich schon widerspenstig gezeigt hatten. Mr. Pendyce ritt um die Wiese herum und besah sich den Zaun, den sein Vater aufgerichtet, bis er an die Stelle kam, die Peacocks Vater niedergerissen hatte; und infolge einer seltsamen Schicksalsfügung – wie man sie sogar in gedruckten Urkunden finden kann – stieß er hier auf Peacock in eigener Person, der in der Zaunlücke stand, als hätte er den Besuch des Gutsherrn vorausgeahnt. Die Stute blieb von selbst stehen, der Spaniel John legte sich in einiger Entfernung nieder, um nachzudenken, und das konnte man meterweit hören, ebenso wie sein zeitweiliges Zungenschnalzen.

Peacock stand da, mit den Händen in den Taschen seiner Kniehosen. Auf dem Kopf hatte er einen alten Strohhut. Seine kleinen Augen waren zu Boden gerichtet, und auch sein Hengst, den er an das von seinem Vater stehengelassene Stück Zaun gebunden hatte, hielt die Augen zu Boden gerichtet, weil er Gras fraß. Den Pächter hatte seit dem Feuer seines Gutsherrn Kampf mit dem brennenden Stall schwer bedrückt. Er fühlte, daß die Erinnerung daran täglich schwächer wurde, daß er sie bald ganz vergessen haben würde. Er fühlte, wie die altehrwürdigen Zweifel, die er von seinen Vätern übernommen, stündlich in ihm aufstiegen. Und so war er hinaufgekommen, um zu sehen, welchen Einfluß die Betrachtung der Zaunlücke auf sein Dankbarkeitsgefühl ausüben würde. Als er den Gutsherrn gewahrte, gingen seine kleinen Äuglein hierhin und dorthin, so ängstlich wie die Augen eines Ferkels, das einen Stoß von hinten bekommt. Daß Mr. Pendyce gerade diesen Moment gewählt haben sollte, um hierher zu kommen, war, als ob die Vorsehung, die alles weiß, auch wüßte, was für Mr. Pendyce in einem solchen Augenblick das Natürliche war.

»Abend, Mr. Pendyce. Trockenes Wetter; Regen fehlt mächtig. Ich krieg kein Futter, wenn das so weitergeht.«

Mr. Pendyce entgegnete:

»Abend, Peacock! Nanu, Ihre Wiesen sind doch für Graswuchs ausgezeichnet!«

Hastig wandten sie beide den Blick ab, denn sie mochten in diesem Augenblick einander nicht ansehen.

Ein Schweigen entstand; dann begann Peacock:

»Wie steht's mit meinen Hoftoren, Mr. Pendyce?« Und seine Stimme zitterte, als ob er sich jetzt noch von der Dankbarkeit unterkriegen lassen könnte.

Des Gutsherrn gereizter Blick flog über die uneingezäunten Stellen rechts und links, und ihm zuckte der Gedanke durch den Sinn:

›Gesetzt, ich ließe dem Kerl seine Hoftore machen, ob er mich dann wohl Worsted Scotton wieder einfrieden ließe?‹

Er betrachtete den vierschrötigen, bärtigen Mann, und jener unfehlbare Instinkt, den Mr. Paramor so boshaft gekennzeichnet hatte, gab ihm die Entgegnung ein:

»Wo fehlt's denn bei Ihren Hoftoren? Da bin ich aber neugierig, mein Lieber!«

Peacock sah ihm jetzt voll ins Gesicht; in seiner Stimme war kein Zittern mehr, sondern eine Art derber Gutmütigkeit.

»Hm, sie sind zum Teil morsch wie Zunder!« gab er zur Antwort, und er atmete tief auf, denn er bemerkte, daß die Dankbarkeit aus seinem Herzen geschwunden war.

»So? Ich wünschte, die auf meinem eignen Hof wären noch halb so gut. Komm, John!« und der Stute leicht die Sporen gebend, machte Mr. Pendyce kehrt und ritt davon; aber kaum daß er ein paar Meter weit war, kam er auch schon wieder zurück.

»Mrs. Peacock geht's hoffentlich gut, was? Meine Frau ist nach London gefahren.«

Er faßte an den Hut und ritt, ohne Peacocks Antwort abzuwarten, wieder davon. Hinter Peacocks Gehöft schlug er den Pfad quer über die Wiesen ein und kam bei dem Kricketplatz heraus, einem zu seinen Feldern gehörigen Stück Land, das er für diesen Sport hatte herrichten lassen.

Die Revanchepartie mit Coldingham war eben im Gange, und der Gutsherr hielt mit seinem Pferde an, um zuzusehen. Eine hohe Gestalt kam vom Kricketfeld gemächlich auf ihn zu. Es war der Ehrenwerte Geoffrey Winlow. Mr. Pendyce hatte Mühe, seine Stute nicht zu wenden und davonzureiten.

»Jetzt sollen Sie uns aber kennenlernen, Mr. Pendyce! Wie geht es Mrs. Pendyce? Meine Frau läßt schon grüßen.«

Das Gesicht des Gutsherrn zeigte im hellen Sonnenlicht ein tieferes Rot als das der Sonne.

»Danke«, erwiderte er, »es geht ihr sehr gut. Sie ist nach London hineingefahren.«

»Und Sie selbst? Gehen Sie in dieser Saison nicht hin?«

Des Gutsherrn Augen begegneten dem gleichmütigen Blick seines Gegenübers.

»Ich glaube kaum«, sagte er langsam.

Der Ehrenwerte Geoffrey Winlow wandte sich wieder seinen Pflichten zu.

Der Gutsherr gewahrte, daß Mr. Barter sich ihm von hinten näherte.

»Sehen Sie den Burschen da links?« sagte er und warf die Unterlippe auf.

Der Gutsherr gab keine Antwort; er saß wie aus Erz gegossen auf seiner Stute. Plötzlich räusperte er sich.

»Wie geht es Ihrer Frau?« begann er. »Mrs. Pendyce wäre schon zu ihr gekommen, aber – aber sie ist nach London gefahren.«

Der Pfarrer antwortete, ohne den Kopf herumzuwenden:

»Meiner Frau? Oh, ausgezeichnet! Da, noch einer! Nein, hören Sie, Winlow, das ist aber unerhört!«

Des Ehrenwerten Geoffrey Winlow angenehme Stimme ließ sich vernehmen:

»Bitte, sich mit dem Wagenführer nicht zu unterhalten!«

Der Gutsherr wandte seine Stute herum und ritt davon; und der Spaniel John, der aus einiger Entfernung alles beobachtet hatte, lief mit heraushängender Zunge hinterdrein.

Mr. Pendyce nahm seinen Weg durch ein Tor und dann quer durch das zum Gutshof gehörige Gehölz, und der Spaniel John hielt Schwanz und Nase in dauernder Bewegung, da er rechts und links Lebendiges witterte. Es war kühl hier drinnen. Jetzt im Juni bildete das Laubwerk einen langen Laubgang, der von einem sich darüber hinziehenden Strom Himmelsblau durchteilt wurde. Zwischen den Eichen und Haselsträuchern, den Buchen und Ulmen leuchtete hier und da der zarte Leib einer Birke auf; es schien, als hielten alle jene schwerfälligen Bäume sie umringt, stolz auf ihre Gefangene und nicht gewillt, sie freizugeben, diese zarte Seele ihres Waldes. Wenn sie fortging, ihre Waldesherrin – phantastischer und anmutiger als sie alle, dann – das wußten sie wohl – wär's vorbei gewesen mit ihrem Ansehen, vorbei mit der Schönheit und dem Inhalt ihres Gesamtdaseins.

Der Gutsherr stieg ab, band sein Pferd fest und setzte sich auf den gefällten Stamm einer Ulme unter eine jener Birken. Auch der Spaniel John setzte sich und liebkoste ihn mit seinen Blicken; aber ihre Gedanken waren nicht dieselben. Denn unter dieser Birke hatte Horace Pendyce gestanden und sein Weib geküßt an jenem Tag, da er sie zuerst nach Worsted Skeynes geführt hatte, und wenn ihm auch der Vergleich zwischen ihr und der Birke nicht einfiel, auf den irgendein armer Teufel von Phantast wohl gekommen wäre, so gedachte er doch jenes längst entschwundenen Nachmittags. Aber der Spaniel John dachte nicht daran; seine Erinnerung an dieses Ereignis konnte nur eine sehr nebelhafte sein, denn zu jener Zeit hatten noch achtundzwanzig Jahre bis zu seiner Geburt gefehlt.

Mr. Pendyce blieb lange da mit seinem Pferd und seinem Hund; und aus all dem Schwarz des Spaniels John, der halb im Schlafe dalag, leuchtete ab und zu ein Blick auf seinen Herrn hinüber, gleich einem treuen Stern. Und die Sonne, die gleichfalls leuchtete, hüllte den Stamm der Birke in Gold. Ringsum in dem Unterholz begannen die Vögel und Vierfüßler ihr abendliches Treiben, und Kaninchen kamen hinausgehuscht auf den Weg, gewahrten erstaunt den Spaniel John und huschten wieder davon. Sie wußten, daß Menschen mit Pferden nicht auf Kaninchen zu schießen pflegen, aber dieses schwarze, langhaarige Geschöpf, dessen Nase immer so eigentümlich zuckte, sobald sie sich zeigten, war ihnen nicht geheuer. Die Mücken kamen heraus zum Tanz, und ihr Tanzen, jeder Laut und Duft und Schatten wurden zu Lauten, Düften und Schatten des Abends; und Abend war's im Herzen des Gutsherrn.

Langsam und schwer erhob er sich von dem Baumstamm und stieg aufs Pferd, um heimzureiten. Dort war es nicht weniger einsam; aber ein Haus ist besser als ein Wald, wo die Mücken tanzen, Vögel und Vierfüßler schweifen und streifen, und die Schatten länger werden; wo die Sonne sich an den Stämmen der Bäume hinauf schleicht und niemand ihn beachtet, der ihrer aller Herr ist, den Menschen.

Es war nach sieben, als er sein Arbeitszimmer betrat. Am Fenster stand eine Dame, und Mr. Pendyce sagte:

»Ah, Verzeihung –«

Die Dame wandte sich um; es war seine Frau. Mit einem heiseren Laut hielt der Gutsherr inne und blieb wortlos stehen, die Hand über den Augen.

 


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