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Als Gregory Vigil seinen Freund Paramor einen Pessimisten nannte, geschah es, weil ihm wie so vielen der eigentliche Sinn des Wortes fremd war. Denn mit der Unklarheit derjenigen, die die Welt durch einen Nebelschleier wahrnehmen, glaubte er, die Dinge sehen, wie sie sind, hieße schon, sie schlimmer machen. Gregory hatte seine eigene Art, die Dinge anzusehen, an der er hing – so sehr, daß er lieber die Augen schloß, als daß er sie anders betrachtet hätte. Und da für ihn die Dinge nicht so in die Erscheinung traten wie für Mr. Paramor, so kann man schließlich nicht behaupten, daß er sie anders sah, als sie waren. Aber Schmutz auf einem Gesicht, von dem er wollte, daß es rein sei, den konnte er nicht wahrnehmen – eine Substanz in seinen blauen Augen zerteilte jenen Schmutz, während das Bild des Gesichts auf die Netzhaut kam. Der Vorgang war ein unbewußter, und man bezeichnet ihn gemeinhin als Idealismus. Daher kam es, daß er, je länger er nachdachte, mit desto schmerzlicherer Sicherheit erkannte, wie sein Mündel recht daran tat, dem Manne, den sie liebte, die Treue zu halten, recht tat, ihr Leben an das seine zu ketten. Und so ging er umher und stieß die Schneide dieses Gedankens tiefer in seine Seele.
Gegen vier Uhr nachmittags, an dem Tage von Mrs. Pendyces Besuch im Atelier, wurde ihm durch einen Hotelpagen ein Brief gebracht.
Greens Hotel, Donnerstag.
Lieber Grig!
Ich habe Helen Bellew gesprochen, und ich komme eben von George. Wir waren alle in einem bösen Traum befangen. Sie liebt ihn nicht – hat ihn vielleicht niemals geliebt. Ich weiß es nicht; und ich will nicht richten. Sie hat ihn fallen lassen. Ich maße mir nicht an, darüber etwas zu sagen. Vom Anfang bis zum Ende scheint mir alles so unnütz, ein überflüssiges, sinnloses Wirrsal. Ich schreibe Dir diese wenigen Zeilen, damit Du weißt, wie die Dinge wirklich stehen, und auch, um Dich zu bitten, wenn Du ein paar freie Augenblicke hast, heute abend in Georges Klub vorzusprechen und mich dann wissen zu lassen, ob er dort ist und welchen Eindruck Du von ihm hattest. Es gibt sonst niemanden, den ich um diesen Liebesdienst bitten könnte. Verzeih mir, wenn dieser Brief Dir Schmerz bereitet.
Deine getreue Kusine
Margery Pendyce.
Für die Eigensüchtigen, die alles im Leben von einem engen, persönlichen Gesichtspunkt betrachten, die nicht die allen Dingen innewohnende Ironie wahrnehmen und sie verständnisinnig genießen, für sie, deren einfältige Herzen eben jener Ironie ihr köstliches Lächeln entlocken und die, jener Ironie unterliegend, sich nie als Unterlegene fühlen – für alle jene behält kein Schlag des Schicksals, keine Widerlegung ihrer Anschauungen durch die Wirklichkeit lange die Herrschaft. Die Pfeile treffen, streifen sie und prallen ab wie von einem Kettenpanzer, und selbst wenn der letzte Pfeil, den Harnisch durchdringend, sich ins Herz bohrt, begegnet er noch dem Aufschrei: ›Wie – du? Nein, nein, ich glaub's nicht, daß du da bist!‹
Menschen ihres Schlages haben viel von dem getan, was auf dieser alten Welt geschehen mußte, und vielleicht mehr noch von dem, was besser ungeschehen geblieben wäre.
Als Gregory jenen Brief erhielt, bearbeitete er gerade den Fall einer Frau, die an Morphinismus litt. Er steckte den Brief in seine Tasche und fuhr in seiner Arbeit fort. Zu etwas anderem war er jetzt nicht fähig.
»Hier ist die Eingabe, Mrs. Shortman. Man soll ihr für sechs Wochen Aufnahme gewähren. Sie wird als ein anderer Mensch herauskommen.«
Das schmale Gesicht in ihre schmale Hand gestützt, ließ Mrs. Shortman ihre schimmernden Augen auf Gregory ruhen.
»Ich fürchte, sie hat jedes moralische Empfinden verloren«, meinte sie. »Ja, wissen Sie, Mr. Vigil, ich fürchte fast, sie hatte niemals eines.«
»Wie meinen Sie das?«
Mrs. Shortman wandte die Augen ab.
»Ich bin manchmal versucht, zu glauben, daß es solche Leute gibt«, erklärte sie. »Ich erinnere mich aus der Zeit, als ich ein junges Mädchen und noch auf dem Lande war, der Tochter unseres Vikars. Ein bildhübsches Geschöpf. Man erzählte sich schreckliche Dinge von ihr, noch vor ihrer Heirat; und nachher hörten wir, daß sie geschieden worden war. Sie kam dann nach London und ernährte sich durch Klavierspielen, bis sie sich zum zweitenmal verheiratete. Ich möchte ihren Namen nicht nennen, aber sie ist sehr bekannt und niemals hat ihr jemand eine Spur von Scham angemerkt. Wenn es eine solche Frau gibt, kann es ja auch Dutzende geben, und ich denke manchmal, wir verschwenden –«
Gregory unterbrach sie trocken:
»Ich muß das schon einmal von Ihnen gehört haben.«
Mrs. Shortman biß sich auf die Lippen.
»Ich glaube«, sagte sie, »ich habe mich noch nie über meine Arbeit oder meine Mühe beklagt.«
Gregory trat rasch zu ihr und gab ihr die Hand.
»Das weiß ich – oh, das weiß ich«, sagte er warm.
Das Geräusch der Schreibmaschine, auf die Miß Mallow stürmisch loshämmerte, ertönte plötzlich aus der Ecke herüber. Gregory nahm seinen Hut von dem Haken.
»Ich muß jetzt gehen«, sagte er. »Guten Abend!«
Ohne ihn darauf vorzubereiten, wie es die Art solcher Herzen ist, hatte sein Herz zu bluten begonnen, und er fühlte, daß er ins Freie mußte. Er nahm weder Droschke noch Omnibus, sondern begann zu gehen, so rasch er konnte, und dabei bemühte er sich zu denken, zu begreifen. Aber er vermochte nur zu fühlen – wirre, wunde Gefühle, in die sich dann und wann sonderbare Regungen von Befriedigung mischten, deren er sich schämte. Fast unbewußt schlug er den Weg nach Chelsea ein; denn wenn auch die Augen des Menschen zu den Sternen streben, so können ihn doch seine Füße nicht dahin tragen, und so schien ihnen Chelsea der beste Ersatz. Er befand sich nicht allein auf seiner Wanderschaft. Noch manch anderer ging dorthin, und manch einer war dort gewesen und befand sich jetzt auf dem Rückweg, und durch die Straßen flutete die große, dahinströmende Menge eines Sommernachmittags. Die Menschen, denen er begegnete, blickten Gregory an, Gregory blickte sie an, und keiner sah den andern, denn so ist's bei den Menschen eingerichtet, damit sie sich nicht um Sorgen kümmern, die nicht ihre eigenen sind. Die Sonne, die ihm das Gesicht versengte, strahlte voll auf ihren Rücken; der Windhauch, der ihm den Rücken kühlte, blies ihnen über die Wangen. Und auch die Erde zog achtlos ihre Straße auf dem Weg durchs All; eines von Millionen Weltatomen nach Chelsea, Millionen begegnend, die von dort kamen.
»Ist Mrs. Bellew zu Hause?«
Er trat in ein Zimmer, das fünfzehn Fuß im Quadrat und etwa zehn Fuß Höhe hatte. In einem kleinen, vergoldeten Käfig ein melancholischer Kanarienvogel, ein Klavier mit einem offenen Heft Operettenmusik, ein Sofa mit vielen Kissen, und auf dem Sofa eine Frau mit gerötetem, finsterem Gesicht, ihre Ellbogen auf die Knie, das Kinn in die Hand gestützt, den Blick ins Leere gerichtet. Es war dasselbe Zimmer, es waren dieselben Dinge darin wie sonst, aber Gregory brachte etwas mit hinein, was ihn den ganzen Raum anders sehen ließ. Er setzte sich mit ängstlich abgewandtem Blick in die Nähe des Fensters und sprach mit sanfter Stimme, die manchmal vor Erregung etwas Heiseres bekam. Er fing damit an, ihr von der morphiumsüchtigen Frau zu erzählen, und dann sagte er ihr, daß er alles wüßte. Danach blickte er angelegentlich zum Fenster hinaus, wo die Baumeister wie aus Versehen die Aussicht auf einen schmalen Streifen Himmels freigelassen hatten. Und so blieb es ihm erspart, den Ausdruck ihres Gesichtes zu sehen, der höhnisch, ungeduldig zu sagen schien: ›Sie sind ein guter Kerl, Gregory, aber betrachten Sie, um des Himmels willen, doch endlich mal die Dinge, wie sie sind! Ich habe genug davon!‹ Und es blieb ihm erspart zu bemerken, wie sie die Arme ausstreckte und die Finger spreizte, wie eine böse Katze ihre Pfoten streckt und spreizt. Er sagte ihr dann weiter, daß er sie nicht belästigen wolle, aber daß sie ihn immer rufen müsse, wenn sie seiner in irgendeiner Weise bedürfe – er würde ihr dann immer zur Verfügung stehen; und er blickte auf ihre Füße hinab, so daß er nicht sah, wie sie die Lippen kräuselte. Er sagte ihr, daß sie für ihn immer dieselbe bleiben würde, und bat sie, ihm das zu glauben. Er sah nicht das Lächeln, das nicht mehr von ihren Lippen schwand, solange er da war, jenes Lächeln, das er nicht bemerken konnte, weil es das Lächeln eines Lebens, das Lächeln einer Frau war, die er beide nicht verstand. Aber wohl sah er da auf dem Sofa ein schönes Geschöpf, das er seit Jahren begehrt hatte, und deshalb ging er fort, indes sie an der Tür stehenblieb, die Zähne tief in die Lippen grabend.
Gregory ging und sah nicht, wie sie wieder auf dem Sofa saß, geradeso, wie sie dagesessen hatte, ehe er ins Zimmer getreten war, die Ellbogen auf die Knie, das Kinn in die Hand gestützt, die finsteren Augen, gleich denen eines Spielers, ins Weite starrend ...
In den Straßen mit den hohen Häusern, die von Chelsea ausgingen, waren viele Menschen, manche, wie Gregory, hungrig nach Liebe, und manche hungrig nach Brot, Menschen zu zweien und dreien, in Massen oder ganz allein, einige die Blicke zu Boden gesenkt, einige gerade vor sich hinsehend, einige die Augen gen Himmel gerichtet, alle aber mit irgendeinem, wenn auch noch so spärlichen, Tröpfchen Mut und Treue im Herzen.
Denn nur Mut und Treue allein helfen dem Menschen zu leben, so steht es für ihn geschrieben, ob er nach Chelsea hingeht, oder ob er seine Schritte von dort fortwendet. Unter all jenen Menschen gab es keinen, der nicht gelächelt hätte, wenn er Gregory zu sich selbst sagen gehört hätte: ›Sie wird für mich immer dieselbe bleiben!‹ Aber keinen, der es hohnlächelnd gehört hätte.
Die Dinnerstunde der ›Stoiker‹ rückte heran, als Gregory sich nach Piccadilly zurückgefunden hatte. ›Stoiker‹ auf ›Stoiker‹ entstiegen den Wagen, die vor dem Klub hielten, und verschwanden hinter den großen Türen. Die armen Burschen hatten den Tag über schwer zu schaffen gehabt auf dem Rennen, dem Kricket-Platz in Hurlingham oder im Hydepark. Einige waren in Royal Academy gewesen, und auf allen Gesichtern lag ein Ausdruck der Befriedigung: ›Ah, Gott ist gütig – endlich können wir uns ausruhen.‹ Manche von ihnen hatten nicht geluncht, wodurch sie ihr Gewicht herabzumindern gedachten, und andere hatten sich beim Lunch nicht so gütlich getan, wie man hätte vermuten dürfen, wieder andere hatten dabei des Guten zuviel getan; aber in den Herzen aller leuchtete hell die Hoffnung, daß sie sich beim Dinner schadlos halten würden; denn ihr Gott war gütig, und er thronte zwischen der Küche und dem Keller des ›Stoiker-Klubs‹. Und alle – denn alle hatten Poesie in der Seele – freuten sich auf jene paradiesischen Stunden, da sie, eine Zigarre zwischen den Lippen, guten Wein im Magen, den täglichen Traum träumen dürften, den jeder wahre ›Stoiker‹ für etwa fünfzehn Shilling oder sogar weniger – tout compris – sich leisten kann.
Aus einem düsteren Hinterhause, keine hundert Schritt vom Herrgott der ›Stoiker‹ entfernt, waren zwei Näherinnen herausgekommen, um frische Luft zu schöpfen. Eine hatte die Schwindsucht, weil sie es einige Jahre lang versäumt hatte, genug zu verdienen, um sich ordentlich zu nähren; und die andere sah aus, als ob sie aus demselben Grunde sehr bald die Schwindsucht bekommen würde. Sie standen am Rand des Bürgersteigs und sahen der Wagenanfahrt zu. Einige von den ›Stoikern‹ bemerkten sie und dachten: ›Arme Dinger! Sie sehen entsetzlich aus!‹ Drei oder vier sagten sich: ›Das sollte verboten sein. Ich meine, so was zu sehen, ist quälend, nicht etwa, daß man ihnen nicht gern was geben würde. Aber es sind keine Bettler, nicht wahr? Also, was soll man tun?‹
Aber die meisten ›Stoiker‹ sahen überhaupt nicht nach ihnen hin, aus der Empfindung, daß ihre weichen Seelen einen so schmerzlichen Anblick nicht ertragen könnten – und weil sie sich die Dinnerstimmung nicht verderben wollten. Auch Gregory sah die beiden Mädchen nicht, denn es begab sich, daß er eben wieder zum Himmel blickte. Und gerade da überschritten die beiden Mädchen die Straße und verloren sich unter der Menge. Denn sie waren keine Hunde, die hätten wittern können, was für ein Mensch in ihrer Nähe sei ...
... »Ja, Mr. Pendyce ist im Klub. Ich werde Ihre Karte hinaufschicken!«
Gregory blieb am Kamin stehen und wartete, und während er wartete, fiel ihm gar nichts Besonderes auf, denn die ›Stoiker‹ schienen ihm ganz natürliche Menschen, wie er selbst einer war, nur daß sie besser angezogen waren. ›Ich möchte hier nicht Mitglied sein und mich jeden Abend zum Dinner umkleiden müssen‹, dachte er.
»Mr. Pendyce bedauert sehr, mein Herr, aber er ist augenblicklich verhindert.«
Gregory biß sich auf die Lippen, sagte: »Danke sehr«, und ging.
›Das ist alles, was Margery von mir wollte‹, dachte er bei sich, ›das übrige ist nicht meine Sache‹; und er bestieg einen Omnibus und blickte zum Himmel.
Aber George war nicht verhindert. Wie ein angeschossenes Tier sich mit einer Verwundung in seinen Schlupfwinkel flüchtet, saß er in seiner Lieblingsfensternische, die auf Piccadilly hinausging. Er saß da, als ob die Jugend von ihm Abschied genommen hätte, regungslos, ohne die Augen aufzuschlagen.
In seinem störrischen Sinn schien sich unaufhörlich ein Rad zu drehen, das seine Erinnerungen bis auf das letzte Körnchen durchmahlte. Und einige ›Stoiker‹, die es nicht mitansehen konnten, daß ein Mensch um diese geheiligte Stunde so dasaß, kamen von Zeit zu Zeit zu ihm heran.
»Wollen Sie nicht zum Essen kommen, Pendyce?«
Stumme Tiere behalten ihren Schmerz für sich; das Schweigen ist ihnen Gesetz. Das galt auch für George. Und jedesmal, wenn ein ›Stoiker‹ zu ihm trat, biß er nur die Zähne zusammen und sagte:
»Gleich, lieber Freund, gleich!«