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Viertes Kapitel

Mrs. Pendyces Eingebung

Aber George kam nicht, um seine Mutter ins Theater abzuholen. Nachdem sie den Tag verbracht hatte, auf den Abend zu warten, verbrachte sie den Abend in einem Hotelsalon mit Möbeln, deren Geschichte sie nicht kannte, und in einem Speisesaal, in dem die Menschen zu zweien, dreien oder vieren an einzelnen Tischen saßen. Menschen, die sie wohl ansehen, zu denen sie aber nicht reden durfte, auch gar nicht reden mochte, so rasch war das Lebensrad über ihre Zweifel und ihre Erwartung hinweggerollt und ließ beide in ihrer Brust leblos liegen. Und die ganze Nacht hindurch, in der sie nur kurze Zeit schlief, zehrte das Gefühl ihres vereinsamten, zwecklosen Daseins an ihr und das noch bitterere Bewußtsein: ›George braucht mich nicht, ich kann ihm nicht helfen.‹

Ihr Herz ging trostsuchend immer wieder und wieder zurück in jene Zeit, da er ihrer noch bedurft hatte; aber es war ein weiter Weg bis zu den Tagen der Matrosenanzüge, zu jenen Tagen, da sie es noch in ihrer Macht hatte, ihm zu gewähren, wonach ihn verlangte, ein Stück Ananas, Bensons alte Peitsche, oder da sie ihm den kleinen, übersprungenen Knöchel mit Franzbranntwein einrieb, oder ihm täglich aus einem Knabenbuch vorlas oder ihn in seinem Bett gut zudeckte.

In dieser Nacht wurde ihr mit qualvoller Deutlichkeit klar, daß er ihrer überhaupt nicht mehr bedurft hatte, seitdem er zur Schule gekommen war. Alle die Jahre hatte sie sich so lebhaft bemüht, zu glauben, daß er sie brauche, bis es ihr in Fleisch und Blut übergegangen war, etwa wie die Gewohnheit, morgens und abends ihr Gebet zu sprechen; und jetzt erkannte sie, daß alles nur Einbildung gewesen. Aber während sie wach lag, bemühte sie sich noch immer, den alten Glauben aufrechtzuerhalten, an dem sie hing, seitdem sie ihn, den Erstgeborenen, zur Welt gebracht hatte. Sie hatte auch ihren andern Sohn und ihre Töchter lieb, aber ganz dasselbe war es doch nicht; es war ihr nie ein Bedürfnis gewesen, daß sie ihrer bedurften, denn dieser Teil ihres Selbst war ein für allemal George vorbehalten.

Der Straßenlärm verstummte endlich. Sie hatte etwa zwei Stunden geschlafen, als er wieder begann. Sie lag da und lauschte. Und die Geräusche und ihre Gedanken verwoben sich in ihrem übermüdeten Hirn – wurden zu einem großen Netz von Trostlosigkeit, zu einer Empfindung, daß dies alles ganz sinnlos und überflüssig sei – die Ausstrahlung von Widersprüchen und Böswilligkeiten, die Verneinung jenes freundlich-gemäßigten Temperamentes, ihres eigenen, heiligsten Triebes. Und eine früh erwachte Wespe erhob sich, von den Wohlgerüchen ihres Toilettentisches angelockt, aus dem Winkel, in dem sie die Nacht verbracht hatte, und begann um ihr Bett zu schwärmen und zu summen. Mrs. Pendyce hatte ein bißchen Angst vor Wespen, und so schlüpfte sie, als das Insekt einen Augenblick anderweitig beschäftigt war, rasch aus dem Bett und wehte es mit ihrer Nachthemdhülle fort, bis es, offenbar merkend, daß es eine Dame vor sich hatte, sich galant zurückzog. Sie legte sich wieder hin und dachte: ›Die Menschen ärgern sie absichtlich, bis sie stechen, und dann machen sie sie tot; so töricht!‹ und wußte doch nicht, daß sie damit alle ihre Vorstellungen vom Leid aufs knappste zusammengefaßt hatte.

Sie nahm oben ihr Frühstück, ohne daß eine Nachricht von George ihr Trost brachte. Dann faßte sie, ohne irgend etwas Bestimmtes zu hoffen, aber gewissermaßen von einer inneren Zuversicht getrieben, den Entschluß, Mrs. Bellew aufzusuchen. Zuerst jedoch wollte sie bei Mr. Paramor vorsprechen; da sie aber nur eine undeutliche Vorstellung davon hatte, zu welcher Zeit die Herren an die Arbeit gingen, traute sie sich erst nach elf Uhr auf den Weg und befahl dem Kutscher an, langsam zu fahren. Natürlich fuhr er nun rascher als gewöhnlich. Am Leicester Square hemmte der Wagen einer hohen Persönlichkeit den Verkehr, und auf dem Bürgersteig hatte sich eine Menge von kleinen Leuten angesammelt mit vollen Herzen und leeren Magen, die in Hochrufe ausbrachen, als die hohe Persönlichkeit vorbeifuhr. Mrs. Pendyce sah eifrig zum Wagen hinaus, denn auch ihr war eine gewisse Schaulust eigen.

Die Menge zerstreute sich, und der Wagen fuhr weiter.

Es war das erstemal, daß sie sich in den Arbeitsräumen irgendeines in einem Beruf tätigen Mannes befand, der nicht etwa ein Zahnarzt war. Von dem kleinen Wartezimmer aus, in dem man ihr die ›Times‹ gegeben hatte, die sie vor Aufregung nicht lesen konnte, übersah sie ein paar Zimmer, die alle bis zur Decke mit Lederbänden und schwarzen Blechkasten mit weißen Buchstaben daran angefüllt waren. Junge Männer saßen da hinter großen Stößen beschriebenen Papiers. Sie hörte ein anhaltendes klapperndes Geräusch, das ihre Neugier erregte, und nahm einen absonderlichen Geruch von Leder und irgendeinem Desinfektionsmittel wahr, der ihr unangenehm auffiel. Ein junger Mensch mit rötlichem Haar und einer Feder in der Hand ging vorüber und warf ihr einen keck-neugierigen Blick zu, den er aber rasch abwandte. Sie empfand ein plötzliches Mitleid mit ihm und den andern jungen Leuten hinter den Papierstößen, und da flog es ihr durch den Sinn: ›das alles ist wohl nur so, weil die Menschen sich nicht vertragen können‹.

Endlich wurde sie zu Mr. Paramor geführt. In dem großen, kahlen Raum mit seiner Atmosphäre einstiger Vornehmheit saß sie da und starrte auf drei La France-Rosen in einem Glase Wasser, mit der Empfindung, daß sie nie und nimmer einen Anfang finden würde.

Mr. Paramors Augenbrauen, die aus seinem glattrasierten, braunen Gesicht wie kleine Bürsten hervorstanden, waren stahlgrau, und stahlgrau war sein aus der hohen Stirn zurückgekämmtes Haar. Mrs. Pendyce fragte sich, weshalb er wohl fünf Jahre jünger aussähe als Horace, der doch der Jüngere war und sogar zehn Jahre jünger als der noch weit jüngere Charles. Auch seine Augen, die sich durch irgendeinen inneren Vorgang im Seelenbetrieb von ihrem Eisengrau in Stahlfarbe gewandelt hatten, machten einen jugendlichen Eindruck, obgleich sie ernst blickten, und das Lächeln, das um seine Mundwinkel zuckte, hatte etwas sehr, sehr Junges.

»Mrs. Pendyce«, begann er, »Ihr Besuch ist mir eine besondere Freude.«

Mrs. Pendyce vermochte nur mit einem Lächeln zu antworten.

Mr. Paramor nahm die Rosen, um an ihnen zu riechen.

»Nicht so schön wie die Ihren«, sagte er, »nicht wahr? Aber die besten, die mein Garten hervorbringt.«

Mrs. Pendyce errötete vor Freude.

»Mein Garten sieht so schön aus –« da ihr einfiel, daß sie ja keinen Garten mehr besaß, hielt sie inne, und weil ihr gleichzeitig einfiel, daß, wenn sie auch ihren Garten verloren hatte, Mr. Paramor doch noch den seinen besaß, fügte sie hastig hinzu: »Und Ihr Garten, Mr. Paramor? – Der ist gewiß jetzt wundervoll.«

Mr. Paramor zog eine Art Dolch, an dem er einige Papiere auf seinem Schreibtisch aufgespießt hatte, heraus und entnahm dem Paket einen Brief.

»Ja«, entgegnete er, »er sieht sehr hübsch aus. Sie wollen gewiß einen Blick in das Schriftstück da tun, vermute ich.«

›Bellew kontra Bellew und Pendyce‹ stand obenan geschrieben. Mrs. Pendyce starrte auf diese Worte wie gebannt. Es dauerte lange, bis sie darüber hinweg kam. Zum erstenmal durchdrang das Furchtbare dieser Dinge den schützenden Panzer, der die Menschen trennt von dem, woran sie nicht denken mögen. Zwei Männer und eine Frau, die miteinander rangen und die einander vor die Augen der ganzen Welt zerrten! Eine Frau und zwei Männer, bar jeder Nächstenliebe und Güte, jeder Mäßigung und jedes Wohlwollens, die wie die Wilden miteinander rauften vor den Augen der ganzen Welt! Zwei Männer, und einer davon ihr Sohn! Und zwischen ihnen eine Frau, die sie beide geliebt hatten! ›Bellew kontra Bellew und Pendyce.‹ Und das würde in die Öffentlichkeit kommen, zugleich mit all dem jammervollen Klatsch, wie sie ihn hier und da mit einer Art von schamvoller Neugier gelesen hatte; zusammen mit ›Snooks kontra Snooks und Stiles‹ oder ›Horoday kontra Horoday‹ und was dergleichen Eheskandale mehr waren. Zusammen mit all jenen Fällen, in denen jeder einzelne eine so unangenehme Rolle spielte, und wobei sie sich doch eines Mitleids nie hatte erwehren können, gleichsam als ob diese armen Wesen von irgendeinem boshaften, rachsüchtigen Geist an dem Pranger festgeschmiedet worden wären, preisgegeben dem Anblick und der Schmähsucht ihrer Mitmenschen. Und Grauen erfüllte ihr Herz. Das alles war so niedrig, so roh und gemein.

Der Brief, den ihr Mr. Paramor gegeben hatte, enthielt nur einige Worte von einem Anwaltsbüro, das eine Zusammenkunft bestätigte. Mrs. Pendyce sah fragend zu Mr. Paramor auf. Er hielt mit dem Zeichnen auf seinem Löschblatt inne und sagte rasch:

»Ich komme persönlich morgen nachmittag mit den Leuten zusammen. Ich will mein Bestes tun, um sie zur Einsicht zu bringen.«

Sie fühlte aus seinem Blick, daß er wußte, was sie litt; ja sie fühlte, daß er mit ihr litt.

»Und wenn – wenn sie nicht darauf eingehen?«

»Dann werde ich einen ganz anderen Kurs einschlagen, und sie mögen dann zusehen, was daraus wird.«

Mrs. Pendyce lehnte sich in ihren Stuhl zurück; wieder war ihr, als spürte sie jenen eigentümlichen Geruch von Leder und irgendeinem Desinfektionsmittel, als hörte sie ein Geräusch von andauerndem Klappern. Ein Schwächegefühl überkam sie, und um es zu verbergen, fragte sie auf Geratewohl: »Was bedeutet in diesem Briefe das ›unter Vorbehalt‹?«

Mr. Paramor lächelte.

»Das ist ein Ausdruck, den wir stets anwenden«, erklärte er. »Er bedeutet, daß, wenn wir eine Sache fortgeben, wir uns das Recht vorbehalten, sie wieder zurückzunehmen.«

Mrs. Pendyce murmelte, ohne es verstanden zu haben:

»Ah so! Aber was haben Sie fortgegeben?«

Mr. Paramor stützte die Ellbogen auf seinen Schreibtisch und preßte seine Fingerspitzen leicht gegeneinander.

»Nun«, sagte er, »genau genommen, spielen wir, die Gegenpartei und ich, in einer solchen Sache Katze und Hund. Es besteht die Voraussetzung, daß wir voneinander nichts wissen und noch weniger wissen wollen; so daß, wenn wir einander eine Gefälligkeit erweisen, wir genötigt sind, uns den Rücken zu decken, indem wir sagen, ›wir haben Ihnen wirklich keine erwiesen‹. Verstehen Sie?«

Wieder murmelte Mrs. Pendyce: »Ah so!«

»Das klingt alles ein bißchen beschränkt, aber wir Anwälte leben sozusagen von der Beschränktheit der andern. Wenn die Menschen mal erst anfingen, einander Zugeständnisse zu machen, wüßte ich nicht, was aus uns werden sollte!«

Mrs. Pendyces Blick fiel wieder auf die Worte ›Bellew kontra Bellew und Pendyce‹, und wieder blieb er, wie gebannt, daran haften.

»Aber Sie wünschten mich vielleicht noch in einer andern Angelegenheit zu sprechen?« sagte Mr. Paramor.

Ein plötzliches Angstgefühl überkam sie.

»Oh, bitte, nein! Ich wollte nur wissen, wie die Dinge jetzt stehen. Ich bin nach London gekommen, um George zu sehen. Sie sagten mir, daß ich –«

Mr. Paramor kam ihr zu Hilfe.

»Ja, ja; ganz recht; ganz recht!«

»Horace ist nicht mitgekommen.«

»So, so.«

»Er und George sind manchmal nicht ganz –«

»Nicht ganz einig in ihrer Meinung? Sie sind einander zu ähnlich.«

»Finden Sie? Ich habe das nie bemerkt.«

»Nicht äußerlich; nicht äußerlich; aber sie haben beide –«

Mr. Paramors Ansicht verlor sich in einem Lächeln; und auch Mrs. Pendyce, die nicht wissen konnte, daß ihm das Wort ›Pendycitis‹ auf der Zunge schwebte, lächelte unsicher.

»George hat etwas sehr Entschiedenes«, meinte sie. »Glauben Sie – ach, glauben Sie, Mr. Paramor, daß Sie es fertigbringen werden, Hauptmann Bellews Anwälte umzustimmen?«

Mr. Paramor warf sich in seinen Stuhl zurück und seine Hand bedeckte das, was er auf dem Löschblatt hingekritzelt hatte.

»Ja«, erwiderte er langsam; »o ja, gewiß!«

Aber Mrs. Pendyce wußte nun, was sie wissen wollte. Sie hatte ihm von ihrer Absicht, Helen Bellew aufzusuchen, erzählen wollen, aber jetzt dachte sie nur: ›Er wird sie nicht umstimmen können, das fühle ich. Wenn ich nur erst fort wäre!‹

Wieder schien sie das andauernde Klappern zu hören, einen Leder- und Desinfektionsgeruch wahrzunehmen, die Worte vor sich zu sehen: ›Bellew kontra Bellew und Pendyce.‹

Sie hielt ihm ihre Hand entgegen.

Mr. Paramor faßte sie und blickte zu Boden.

»Leben Sie wohl«, sagte er, »leben Sie wohl, gnädige Frau. Wo wohnen Sie – Greens Hotel? Ich komme zu Ihnen, um Sie auf dem laufenden zu halten. Ich verstehe – oh, ich verstehe!«

Mrs. Pendyce, auf die jenes ›Ich verstehe – oh, ich verstehe!‹ eine seltsam ergreifende Wirkung übte, ging mit bebenden Lippen davon. In ihrem ganzen Leben hatte niemals jemand ›verstanden‹ – nicht etwa, daß sie sich über eine solche Nebensächlichkeit beklagen durfte oder wollte, aber die Tatsache blieb bestehen. Und dabei fiel ihr sonderbarerweise ihr Mann ein, und sie dachte, was er wohl tun möge, und hatte Mitleid mit ihm.

Mr. Paramor aber ging auf seinen Platz zurück und las, was er auf das Löschblatt geschrieben hatte. Es lautete:

 

›Voll Starrsinn bestehn wir auf dem Schein,
Wir steifen uns auf unser dürftig Recht
Und glänzen in tönerner Hoheit;
Starrsinnig ist der Gegner und klein,
Da triumphiert denn die Roheit.
Wir packen sie zwar kräftig am Ohr;
An den Haaren kommen sie uns zuvor
Und so endet's in wirrem Gezanke.‹

 

Er sah, daß weder rechter Reim noch Versmaß darin war, und mit ernster Miene riß er es in Stücke.

Wieder befahl Mrs. Pendyce dem Kutscher langsam zu fahren, und wieder fuhr er schneller als gewöhnlich. Dennoch schien der Weg nach Chelsea kein Ende zu nehmen, und geradezu zahllos waren die Ecken, um die der Kutscher bog; eine folgte immer rascher der anderen, recht, als ob er ausprobieren wollte, wieviel Kandare sein Pferd vertragen konnte.

›Armes Tier‹, dachte Mrs. Pendyce, ›sein Maul muß schon ganz wund sein; und dabei ist das ganz überflüssig.‹ Sie legte die Hand in die Deckenklappe: »Bitte fahren Sie den direkten Weg. Ich mag die vielen Ecken nicht!«

Der Kutscher gehorchte. Es verdroß ihn gewaltig, sich mit einer Ecke begnügen zu sollen, anstatt der sechs, die er in Aussicht genommen hatte; und als sie nach dem Fahrpreis fragte, rechnete er ihr einen Shilling über die Taxe, für die Entfernung, die er durch den geraden Weg gespart hatte. Mrs. Pendyce, die nicht Bescheid wußte, zahlte den verlangten Preis und gab ihm noch sechs Pence darüber, weil sie dachte, es könne dem Pferd vielleicht zugut kommen; und der Kutscher sagte, an den Hut greifend:

»Danke sehr, gnädige Frau«, denn es war sein Prinzip, ›gnädige Frau‹ zu sagen, wenn er von einer Dame achtzehn Pence über seine Taxe hinaus erhielt.

Mrs. Pendyce blieb eine Minute auf dem Damm stehen, streichelte dem Pferde das Maul und dachte dabei:

›Ich muß hineingehen; es wäre zu töricht, den weiten Weg hierher zu machen, und dann nicht hineinzugehen.‹

Aber ihr Herz schlug so heftig, daß sie kaum atmen konnte.

Endlich zog sie die Klingel.

Mrs. Bellew saß auf dem Sofa in ihrem kleinen Salon und pfiff dem Kanarienvogel, der im offenen Fenster hing. In allen menschlichen Geschehnissen liegt gar tief und stetig eine Ironie, die eng verbunden ist mit den eigentlichsten Triebfedern des Lebens. Mrs. Pendyces Erwartungen, ihre ängstlichen Vermutungen über den Verlauf dieser Begegnung, die sie während des ganzen Weges gepeinigt hatten, erlitten kläglich Schiffbruch. Sie hatte sich die Szene, seitdem ihr überhaupt der Gedanke daran gekommen war, so oft wiederholt; nun erschien ihr die Wirklichkeit fremd. Sie empfand weder Unruhe noch Feindseligkeit, nur eine Art schmerzlicher Neugier und Bewunderung. Und was konnte denn auch diese oder irgendeine andere Frau dafür, wenn sie sich in George verliebte?

Nachdem der erste peinliche Moment vorüber war, blickten Mrs. Bellews Augen mit so freundlicher Ruhe, als ob sie mit allem, was sie getan, durchaus in ihrem Rechte wäre; und Mrs. Pendyce konnte nicht anders, als einer Freundlichkeit auf halbem Wege zu begegnen.

»Seien Sie nicht böse, daß ich herkam. George weiß nichts davon. Ich hatte die Empfindung, ich müßte mit Ihnen sprechen. Sind Sie beide sich wirklich ganz klar über das, was Sie tun? Es scheint mir so schrecklich! Und bedenken Sie, es trifft nur Sie beide!«

Mrs. Bellews freundliches Lächeln verschwand.

»Bitte, sagen Sie nicht, ›Sie beide‹«, gab sie zurück.

Mrs. Pendyce stammelte:

»Ich – begreife – nicht!«

Mrs. Bellew sah ihr ins Gesicht und lächelte; und mit diesem Lächeln kam ein leiser Ausdruck von Roheit in ihre Miene.

»Ich dächte, Sie könnten es nun begriffen haben! Ich liebe Ihren Sohn nicht! Ich habe ihn geliebt, früher – aber jetzt nicht mehr. Ich hab' ihm das gestern erklärt, ein für allemal!«

Mrs. Pendyce vernahm die Worte, die allem eine so ganz andere, so günstige Wendung gaben – Worte, die ihr wie ein Quell in der Wüste hätten sein müssen –, mit einer Art von Entsetzen; und die ganze Empörung, deren sie fähig war, flammte in ihren Augen auf.

»Sie lieben ihn nicht?« rief sie.

Sie hatte nur das eine dunkle Gefühl der Kränkung und der Demütigung.

Diese Frau war Georges überdrüssig! Ihres Sohnes überdrüssig! Sie sah Mrs. Bellew an, in deren Mienen sich etwas wie forschende Teilnahme spiegelte, und zum erstenmal in ihrem Leben blickte Haß aus ihren Augen.

»Sie sind seiner überdrüssig? Sie haben ihm den Laufpaß gegeben? Dann will ich so rasch wie möglich zu ihm. Sagen Sie mir bitte, wo er wohnt!«

Helen Bellew kniete sich vor ihrem Schreibtisch hin und schrieb etwas auf einen Briefbogen, und die Anmut dieser Frau gab Mrs. Pendyce einen Stich ins Herz.

Sie nahm das Blatt. Sie hatte die Kunst, Vorwürfe zu machen, nie gelernt; und Worte konnten nicht ausdrücken, was ihr Herz empfand; also wandte sie sich und verließ das Zimmer.

Mrs. Bellews Stimme klang rasch und heftig hinter ihr drein:

»Was konnte ich dafür, daß ich genug hatte? Ich bin nicht wie Sie!«

Mrs. Pendyce riß hastig die Gangtür auf. Beim Hinabsteigen griff sie, haltsuchend, nach dem Geländer. Sie hatte jene schreckliche Empfindung physischen Schmerzes und innerer Verängstigung, die weiche Gemüter bei Äußerungen von Leidenschaften empfinden, gleichviel ob es ihre eigenen oder die anderer sind.

 


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