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Siebentes Kapitel

Ungewisse Stimmung auf Worsted Skeynes

Als Georges Antwort endlich kam, standen die Iris in voller Blüte rund um den schottischen Garten von Worsted Skeynes. Sie waren in Massen da und in allen Schattierungen, vom tiefsten Purpur bis zum blassen Grau, und der Wind trug ihren durchdringenden, sehr zarten Duft davon.

Während Mr. Pendyce auf jene Antwort wartete, hatte er sich zur Gewohnheit gemacht, zwischen den Beeten spazierenzugehen, die Hände auf dem Rücken, denn er fühlte sich noch ein wenig steif. Sieben Schritt entfernt folgte ihm der schwarze Spaniel John, der seine glatten Nasenflügel unruhig verzog.

Auf diese Weise verbrachten die beiden täglich die Stunde zwischen zwölf und eins. Keiner von ihnen hätte zu sagen vermocht, weshalb sie so umherspazierten, denn Mr. Pendyce verabscheute den Müßiggang, und der Spaniel konnte den Duft der Iris nicht ausstehen; aber beide gehorchten wohl jenem Teil ihres Ichs, das da stärker ist als alle Vernunft. Während dieser Stunde folgte auch Mrs. Pendyce jenem Teil ihres Ichs, das stärker ist als alle Vernunft, und das ihr sagte, sie bliebe besser drinnen.

Endlich kam Georges Antwort.

 

Stoiker-Klub.

Lieber Vater!

Ja, es stimmt; Bellew reicht seine Klage ein. Ich bin dabei, Schritte in der Angelegenheit zu tun. Was das von Dir geforderte Versprechen betrifft, so kann ich kein Versprechen dieser Art geben. Du kannst Bellew sagen, eher soll ihn der Teufel holen.

Dein Dich liebender Sohn
George Pendyce.

 

Mr. Pendyce erhielt diesen Brief beim Frühstück, und während er ihn las, entstand ein Schweigen, denn alle hatten die Handschrift auf dem Briefumschlag erkannt.

Mr. Pendyce las ihn zweimal durch, einmal mit und einmal ohne Brille, und als er mit dem zweiten Mal fertig war, steckte er ihn in seine Brusttasche. Kein Wort kam über seine Lippen; seine Augen, die in den letzten Tagen ein wenig eingesunken waren, hafteten ärgerlich an dem bleichen Gesicht seiner Frau. Bé und Nora blickten auf ihre Teller, und auch die vier Hunde verhielten sich, als ob sie begriffen, ganz still. Mr. Pendyce schob seinen Teller zurück, erhob sich und verließ das Zimmer. Nora blickte auf.

»Was ist dir, Mama?«

Mrs. Pendyce schwankte. Im nächsten Augenblick aber hatte sie sich wieder in der Gewalt.

»Nichts, Kinder. Es ist sehr warm heute morgen, findet ihr nicht auch? Ich gehe gleich mal hinauf und nehme etwas Riechsalz.«

Sie ging hinaus, gefolgt vom alten Roy, dem Skyeterrier; der Spaniel John, dem der Hausherr die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, trottete vor ihr her. Nora und Bé schoben ihre Teller zurück.

»Ich mag nicht essen, Nora«, sagte Bé; »es ist schrecklich, wenn man nicht weiß, was los ist.«

Nora entgegnete:

»Einfach gemein, daß man kein Mann ist. Ebensogut könnte man ein Hund sein wie ein Mädchen, denn kein Mensch erzählt einem irgend etwas!«

Mrs. Pendyce ging nicht in ihr Zimmer; sie suchte die Bibliothek auf. Ihr Gatte, der an seinem Schreibtisch saß, hatte Georges Brief vor sich liegen. In der Hand hielt er eine Feder, aber er schrieb nicht.

»Horace«, sagte sie still, »da ist der arme John!«

Mr. Pendyce antwortete nicht, aber er streckte die Hand, die nicht die Feder hielt, nach unten. Der Spaniel John begann sie zärtlich zu lecken.

»Laß mich den Brief sehen, ja?«

Mr. Pendyce reichte ihn ihr wortlos. Dankbar berührte sie seine Schulter, denn sein ungewohntes Schweigen ging ihr zu Herzen. Mr. Pendyce nahm keine Notiz davon; er starrte auf seine Feder, als wundere er sich, daß sie nicht aus eigenem Antriebe die Antwort schrieb. Aber plötzlich schleuderte er sie von sich und blickte zu seiner Frau herum, und sein Blick schien zu sagen: ›Du hast diesen Jungen in die Welt gesetzt; jetzt sieh, was daraus geworden ist!‹

Er hatte so viel Zeit gehabt, nachzudenken und die schwachen Stellen in seines Sohnes Charakter herauszufinden. Während dieser ganzen Woche war es ihm mehr und mehr klargeworden, wie George ohne den Einfluß seiner Mutter ihm selbst ganz und gar ähnlich geworden wäre. Worte traten auf seine Lippen und blieben ersterbend da haften. Der Zweifel, ob sie seine Meinung teilen würde, die Empfindung, daß sie zu ihrem Sohn hielt, die Gewißheit, daß etwas in ihm jenen Worten zustimmte: ›Du kannst Bellew sagen, eher soll ihn der Teufel holen –‹ all das und der Gedanke, der ihn keinen Augenblick verließ, ›der Name – das Gut!‹ ließen ihn schweigen. Er wandte den Kopf zur Seite und nahm die Feder wieder auf.

Mrs. Pendyce hatte den Brief jetzt dreimal gelesen und ihn instinktiv in ihre Taille geschoben. Er gehörte nicht ihr, aber Horace wußte ihn sicher auswendig, und in seinem Ärger wäre er imstande, ihn zu zerreißen. Dieser Brief, auf den sie so lange gewartet hatte, erzählte ihr nichts Neues. Sie hatte alles gewußt, was es zu erzählen gab. Ihre Hand war von Mr. Pendyces Schulter herabgeglitten, und sie legte sie nicht wieder dorthin, sondern sie schlang ihre Finger ineinander, indes das Sonnenlicht, das durch die schmalen Fenster drang, sie vom Haar bis zu den Knien zärtlich einhüllte. Hier und dort bildete jener Strom von Sonnenlicht kleine, schimmernde Seen – so in ihren Augen, denen er einen rührenden, angstvollen Glanz verlieh, dann in einem herzförmigen Medaillon von ziseliertem Stahl, das ihre Mutter und Großmutter schon getragen hatte, und das jetzt eine Locke von George barg; und in ihren Brillantringen und einem Armband aus Amethysten und Perlen, das sie aus Vorliebe für hübschen Schmuck trug. Und in dem warmen Sonnenlicht ging ein feiner Lavendelduft von ihr aus. Ein scharrendes Geräusch an der Bibliothektür verriet, daß die lieben Hunde wußten, sie sei nicht in ihrem Schlafzimmer. Auch Mr. Pendyce nahm jenen Lavendelduft wahr; und ohne bestimmten Grund steigerte dieser sein Unbehagen. Selbst ihr Schweigen quälte ihn. Es fiel ihm aber nicht ein, daß sein Schweigen ihr qualvoll sein könnte. Er legte die Feder nieder.

»Ich kann nicht schreiben, wenn du da stehst, Margery.«

Mrs. Pendyce trat aus dem Sonnenlicht heraus.

»George schreibt, daß er Schritte unternimmt. Was soll das heißen, Horace?«

Diese Frage, die den Brennpunkt aller seiner Zweifel traf, machte dem Schweigen des Gutsherrn ein Ende.

»Ich laß mich nicht so behandeln!« rief er. »Ich will in die Stadt und ihn selbst sprechen.«

Er fuhr mit dem Zehn-Uhr-zwanzig-Zug und wollte mit dem Sechs-Uhr-Zug wieder zurück sein.

Bald nach sieben Uhr am selben Abend bog ein Dogcart, von einem jungen Reitknecht kutschiert, mit einer großblässigen Stute bespannt, in die Bahnstation von Worsted Skeynes ein und fuhr beim Schalter vor. Das Coupé von Mr. Pendyce, das, von einem Braunen gezogen, etwas später kam, war genötigt, hinter dem ersten Wagen stehenzubleiben.

Eine Minute vor Ankunft des Zuges rollte ein Break, mit zwei Apfelschimmeln bespannt, der Lord Quarryman gehörte, heran, fuhr an den beiden andern vorüber und reihte sich als erster ein. Abseits von dieser kleinen Gruppe von Fuhrwerken standen die Bahnhofsdroschke und zwei Pächter-Gigs, ihre Rückseite dem Bahnhofsgebäude zugekehrt. Und in dieser Reihenfolge lag etwas Harmonisches und Passendes, als ob die Vorsehung selbst sie alle geleitet und jedem einzelnen seinen Platz angewiesen hätte. Die Vorsehung hatte dabei nur ein Versehen begangen – indem sie nämlich Hauptmann Bellews Dogcart direkt dem Schalter gegenüber placiert hatte, anstatt Lord Quarrymans Break und ihm zunächst Mr. Pendyces Coupé. Mr. Pendyce war der erste, der herauskam. Er warf einen ärgerlichen Blick auf den Dogcart und begab sich zu seinem eigenen Wagen. Als zweiter erschien Lord Quarryman. Sein massiver, sonnverbrannter Kopf, dessen spärlich mit Haaren besetzte Rückseite ganz gradlinig in den Hals überging, war von einem grauen Zylinderhut bedeckt. Die Schöße seines grauen Rockes waren eckig, ebenso wie die Spitzen seiner Stiefel.

»Hallo, Pendyce!« rief er herzlich. »Habe Sie auf dem Perron gar nicht gesehen. Wie geht's der Gattin?«

Als Mr. Pendyce sich zur Antwort umdrehte, begegnete er den kleinen, brennenden Augen Hauptmann Bellews, der als dritter herauskam. Sie unterließen es, einander zu grüßen, und Bellew riß, in seinen Wagen springend, die Stute herum, umkreiste die Pächter-Gigs und sauste, sich nach vorn beugend, in wildem Trabe davon. Sein Reitknecht rannte eiligst nach, klammerte sich an den Wagen und sprang auf den kleinen Sitz hinten. Lord Quarrymans Break schob sich jetzt rückwärts auf den freigewordenen Platz. Und der Irrtum der Vorsehung war ausgeglichen.

»Verrückter Kerl, dieser Bellew; sehen Sie ihn manchmal?«

Mr. Pendyce antwortete: »Nein; je weniger ich von ihm sehe, desto besser; ich wünschte, er hinge sich an dem ersten, besten Nagel auf!«

Seine Lordschaft lächelte.

»Eine jagdliebende Gegend scheint solche Kerle zu schaffen; in jeder Koppel Hunde gibt es so einen wie den. Wo ist seine Frau jetzt? Hübsche Erscheinung; recht temperamentvoll, was?«

Mr. Pendyce hatte das Gefühl, als ob Lord Quarrymans Augen in den seinen mit wissendem Blick forschten; und mit einem ›das weiß Gott‹ verschwand er in sein Coupé.

Lord Quarryman sah gutmütig auf seine Pferde. Er war nicht der Mann, über das Warum, Wozu und Weil dieses Daseins nachzudenken. Der gute Gott hatte ihn als Lord Quarryman, seinen ältesten Sohn als Lord Quantock geschaffen; der gute Gott hatte die Gaddesdon-Hunde geschaffen; das genügte!

Als Mr. Pendyce nach Hause kam, suchte er sofort sein Ankleidezimmer auf. In einer Ecke nahe der Badewanne lag der Spaniel John, umgeben von einer Anzahl Hausschuhe seines Herrn; denn nur so hatte er vermocht, sich einigermaßen über die Bitterkeit der Trennung hinwegzutrösten. Sein dunkelbraunes Auge, um das ein Halbmond von Weiß schimmerte, war auf die Tür gerichtet. Schweifwedelnd, einen Pantoffel im Maul, kam er auf den Hausherrn zu, und seine Augen sagten deutlich: ›Ach, Herr, wo bist du gewesen? Warum bliebst du so lange? Seit halb elf vormittags hab' ich auf dich gewartet!‹

Einen Augenblick lang wurde Mr. Pendyce das Herz weich, dann zog es sich wieder zusammen. Er sagte nur »John!« und begann sich zum Dinner anzukleiden.

Mrs. Pendyce fand ihn dabei, seine weiße Krawatte umzubinden. Sie hatte die erste Rosenknospe aus ihrem Garten gepflückt; sie hatte es getan, weil er ihr leid tat und weil es ihr Veranlassung gab, ihn sofort in seinem Ankleidezimmer aufzusuchen.

»Ich bring dir etwas fürs Knopfloch, Horace. Hast du ihn gesehen?«

»Nein.«

Von allen Antworten war ihr vor dieser am meisten bange. Sie hatte nicht geglaubt, daß er mit einer Unterredung viel erreichen würde. Den ganzen Tag über hatte sie gezittert bei dem Gedanken an ihre Begegnung; aber jetzt, da die Begegnung nicht stattgefunden, merkte sie durch ihre Enttäuschung, daß alles andere besser gewesen wäre als diese Ungewißheit. Sie wartete, solange es ihr möglich war, dann brach es aus ihr hervor:

»Sag mir doch irgend etwas, Horace!«

Mr. Pendyce warf ihr einen ärgerlichen Blick zu.

»Wie kann ich dir etwas sagen, wo es nichts zu sagen gibt? Ich ging in seinen Klub; aber da wohnt er jetzt nicht. Er hat sich Zimmer gemietet, aber kein Mensch weiß, wo. Ich habe den ganzen Nachmittag gewartet. Endlich hinterließ ich ihm eine Zeile, daß er morgen zu uns herauskommen möchte. Ich schickte zu Paramor und ließ ihn bitten, gleichfalls zu kommen. Ich will die Sache jetzt selbst in die Hand nehmen.«

Mrs. Pendyce sah zum Fenster hinaus, obgleich es da nichts zu sehen gab als die Gartenhecken, die Wiesen, den Kirchturm und die Hüttendächer, die ihr bisher die Welt bedeutet hatten.

»George wird nicht herauskommen«, meinte sie.

»George wird tun, was ich ihn heiße.«

Wieder schüttelte Mrs. Pendyce den Kopf, in der unbewußten Überzeugung, daß sie recht behalten würde.

Mr. Pendyce hielt mitten im Anziehen der Weste inne.

»George soll sich lieber in acht nehmen«, sagte er. »Er hängt ganz und gar von mir ab.«

Und als ob er mit jenen Worten die augenblickliche Lage, die Zukunftsaussichten seines Sohnes präzisiert hätte, so blickte er jetzt zufrieden drein. Auf Mrs. Pendyces aber übten jene Worte eine seltsame Wirkung. Sie wühlten banges Entsetzen in ihr auf. Ihr war, als sähe sie ihres Sohnes Rücken entblößt unter einer hocherhobenen Peitsche; als sähe sie, wie man in einer Schneenacht die Tür vor ihm zuschlug. Aber neben dem Entsetzen wühlten jene Worte noch eine weit brennendere Empfindung in ihr auf: als ob jemand gewagt hätte, ihr selber mit der Peitsche zu drohen, gewagt, Trotz zu bieten jenem Etwas, das ihrer Seele teurer war als das Leben, jenem Etwas, das zu ihrem Blute gehörte und durch die Jahrhunderte so ganz und heimlich in jede Fiber ihres Wesens gedrungen war, daß nie zuvor irgend jemand daran gedacht hatte, ihm Trotz zu bieten. Und mit fast lächerlicher Gegenständlichkeit stieg der Gedanke in ihr auf: ›Ich habe dreihundert Pfund eigenes Einkommen im Jahr.‹

Dann wich diese ganze Empfindung von ihr, etwa so wie im Traum ein quälendes Erlebnis uns packt und wieder schwindet, nur ein stumpfes Unbehagen, dessen Ursache vergessen ist, zurücklassend.

»Da tönt der Gong, Horace«, sagte sie. »Cecil Tharp bleibt zum Dinner da. Ich habe auch Barters gebeten, aber die arme Rose fühlt sich nicht wohl genug; natürlich, sie erwarten es jetzt sehr bald. Sie glauben, es wird der fünfzehnte Juni sein.«

Mr. Pendyce nahm den Rock aus den Händen seiner Frau und ließ die Arme in die seidegefütterten Ärmel gleiten.

»Wenn ich unsere Bauern dazu bekäme, sich so viele Kinder anzuschaffen«, meinte er, »dann brauchte ich um die Feldarbeit nicht bange zu sein. Aber das ist eine dickköpfige Gesellschaft – tun nichts von dem, was sie sollten. Gib mir etwas Eau de Cologne, Margery.«

Mrs. Pendyce ließ aus dem Korbflakon etwas auf ihres Gatten Taschentuch träufeln.

»Deine Augen sehen müde aus«, sagte sie. »Hast du Kopfschmerzen?«

 


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