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Neuntes Kapitel

Erklärung der ›Pendycitis‹

Gregory ging in dem schottischen Garten umher und blickte zu den Sternen auf. Einer davon, größer als all die übrigen, schien über den Lärchen spöttisch zu ihm herabzublicken, denn es war der Stern der Liebe. Auf seinem Spaziergange zwischen den Eibenbäumen, die dagestanden hatten, ehe ein Pendyce nach Worsted Skeynes gekommen war, und die noch stehen würden nach dem Letzten der Familie, wurde sein Herz ruhiger bei dem silbernen Licht jenes großen Sterns. Die Iris hielten ihren Duft zurück, um seine Sinne nicht aufzupeitschen; nur die jungen Lärchen und die Felder drüben sandten ihm ihren flüchtig-süßen Hauch durch das Dunkel. Und dasselbe braune Käuzchen, das geschrien hatte, als Helen Bellew im Gewächshaus George Pendyce geküßt hatte, schrie jetzt wieder, da Gregory hier im Garten einherging und Kummer empfand über die Folgen jenes Kusses.

Seine Gedanken waren bei Barter; und mit all der Ungerechtigkeit, die natürlich ist bei einem Manne, der ein warmes, persönliches Interesse an den Dingen nimmt, malte er den Pfarrer in Farben, die schwärzer waren als dessen Kleid.

›Ohne Feingefühl, aufdringlich‹, so dachte er. ›Wie darf er es wagen, so von ihr zu sprechen?‹

Mr. Paramors Stimme unterbrach seine Betrachtungen.

»Warten Sie hier immer noch? Weshalb haben Sie uns drinnen so arg zugesetzt?«

»Ich hasse jede Heuchelei«, sagte Gregory. »Die Ehe meines Mündels ist eine Heuchelei. Sie täte besser daran, vor aller Welt mit dem Manne zu leben, den sie wirklich liebt!«

»Ja, das haben Sie uns erklärt«, entgegnete Mr. Paramor; »aber würden Sie das bei jedem richtig finden?«

»Gewiß.«

»Na«, sagte Mr. Paramor mit einem Lachen, »nur ein Idealist kann die Dinge so durcheinanderbringen! Einmal haben Sie mir, wenn Sie sich erinnern können, erzählt, die Ehe sei Ihnen etwas Heiliges!«

»Das sind meine ganz privaten Gefühle, Paramor. Aber hier ist das Unglück schon längst geschehen. Und jetzt ist es eine Heuchelei, eine elende Heuchelei, und sie sollte ein Ende nehmen!«

»Das ist alles gut und schön«, entgegnete Mr. Paramor; »aber wenn Sie diese Dinge in die allgemeine Praxis übertragen wollen, dann kämen wir, weiß Gott, wohin. Es hieße die Ehe auf eine Basis zurückführen, die von der jetzigen gänzlich verschieden ist. Es wäre die Ehe auf einer Basis des Empfindens und nicht auf einer Basis des Besitzes. Sind Sie gesonnen, in Ihren Forderungen so weit zu gehen?«

»Ja, das bin ich.«

»Sie sind in Ihrer Art genauso extrem wie Barter in der seinen. Und ihr Extremen seid es, die allen Schaden anrichten. Es gibt eine goldene Mitte, lieber Freund. Ich stimme dem bei, daß manches geändert werden muß. Aber was Sie übersehen, ist die Tatsache, daß die Gesetze passen müssen für diejenigen, denen sie als Richtschnur dienen sollen. Sie schweben zu sehr in höheren Regionen, Vigil. Jede Medizin muß dem Patienten allmählich beigebracht werden. Menschenskind, wo haben Sie Ihren Humor gelassen? Stellen Sie sich Ihre Auffassung der Ehe auf Pendyce und seine Söhne angewandt vor oder auf seinen Pfarrer, oder seine Pächter und die Tagelöhner seines Gutes.«

»Nein, nein«, sagte Gregory, »nie und nimmer glaube ich –«

»Die Landbevölkerung«, fuhr Mr. Paramor ruhig fort, »ist ganz besonders rückständig in all diesen Dingen. Sie hat starke, fleisch-genährte Instinkte, und nun gar die Abgeordneten der Provinzen, die Geistlichkeit, die Pairs, die ganze Erbmacht des Landes, die noch am Ruder ist! Und dann ist da noch ein gewisses Übel – man könnte es mit einem dummen Wortspiel ›Pendycitis‹ nennen –, von dem die meisten dieser Leute angesteckt sind. Sie sind töricht. Sie tun allerlei, aber sie tun's verkehrt. Sie quälen sich so durch mit einem größtmöglichen Aufwand an Mühen und Leiden. Das gehört zum Prinzip der Überlieferung! Ich habe nicht umsonst fünfunddreißig Jahre lang mit ihnen zu tun gehabt!«

Gregory wandte den Kopf ab.

»Ihr Wortspiel taugt wirklich nichts«, meinte er. »Ich glaube nicht, daß die Menschen so sind! Ich mag es nicht wahrhaben. Wenn ein solches Übel existiert, ist's an uns, ein Heilmittel dagegen zu finden.«

»Da kann nur operativer Eingriff helfen«, erklärte Mr. Paramor; »und bevor man operiert, ist ein vorbereitendes Verfahren notwendig. Lister hat es erfunden.«

Gregory entgegnete:

»Paramor, Ihr Pessimismus ist gräßlich!«

»Aber ich bin gar kein Pessimist«, sagte er. »Keine Spur.«

»Wenn Primeln gelb und Veilchen blau
Und Maßlieb silberweiß im Grün,
Und Kuckucksblumen rings die Au
Mit bunter Frühlingspracht umblühn,
Des Kuckucks Ruf im Baum erklingt. –«

Gregory wandte sich zu ihm herum.

»Wie können Sie Verse zitieren und dabei solche Ansichten haben? Neu aufrichten sollten wir –«

»Sie wollen bauen, bevor Sie den Grundstein gelegt haben«, unterbrach ihn Mr. Paramor. »Sie lassen sich von Ihren Empfindungen fortreißen, Vigil. Die Formel des Ehegesetzes ist nur ein Symptom. Das eben ist das Übel: dieser böswillige, beschränkte Geist in den Menschen, der solche Gesetze notwendig macht. Lieblose Menschen, lieblose Gesetze – wie soll es wohl anders sein?«

»Ich glaube es nie und nimmer, daß wir uns damit abfinden werden, weiter in einem Sumpf von –«

»Von Philistern zu leben!« ergänzte Mr. Paramor. »Sie sollten sich mit Gärtnerei befassen; da lernt man erkennen, worüber ihr Idealisten hinwegzusehen scheint – nämlich, lieber Freund, daß die Menschen sind wie die Pflanzen, Geschöpfe, unterworfen den Gesetzen der Vererbung und den Einflüssen ihrer Umgebung; ihre Entwicklung ist eine langsame. Sie können keine Trauben von Dornen erwarten, Vigil, und nicht Feigen von Disteln – wenigstens nicht in der ersten Generation – wie fleißig und hungrig Sie auch immer sein mögen!«

»Ihre Theorie setzt uns alle auf das Niveau von Disteln herab!«

»Die Macht der sozialen Gesetze bemißt sich nach dem Schaden, den sie zuzufügen imstande sind, und die Macht dieses Schadens bemißt sich nach der Höhe der Ideale desjenigen, den der Schaden trifft. Wenn Sie die Ehebande aufheben, oder auf persönlichen, materiellen Besitz verzichten wollen, um sich in Nächstenliebe aufzuopfern, dann wird für Sie eine Distelzeit anheben; aber das wird Ihnen nichts ausmachen, wenn Sie selbst eine Feige geworden sind. Und so weiter ad lib. Aber wundersam ist's doch, wie bald man die Disteln, die sich für Feigen hielten, heraus erkennt. Es gibt mancherlei, was ich hasse, Vigil! Eines davon ist Überspanntheit, und ein zweites, Humbug!«

Aber Gregory stand da und blickte zum Himmel.

»Wir scheinen von der Hauptsache abgekommen zu sein«, meinte Mr. Paramor, »und ich glaube, wir gehen lieber hinein. Es ist fast elf Uhr.«

An der ganzen Front des niedrigen weißen Hauses waren nur drei Fenster erleuchtet, drei Augen, die nach dem Mond blickten, der wie ein Zaubernachen über den Nachthimmel glitt. Die Zedern standen da, schwarz wie Pech. Das alte, braune Käuzchen hatte mit seinem Schreien aufgehört. Mr. Paramor faßte Gregory beim Arm.

»Eine Nachtigall! Hörten Sie sie, da drüben im Gebüsch? Ein schönes Fleckchen Erde, das! Mich wundert's nicht, daß Pendyce dran hängt. Sie sind kein Angler, nicht wahr? Haben Sie jemals einen Zug von jungen Fischen beobachtet, der am Ufer entlangzieht? Wie hilflos sie sind, und wie sie ihrem Anführer folgen! In unserm eigensten Element kennen wir Menschen uns ungefähr so wenig aus wie die Fische. Eine blinde Gesellschaft sind wir, Vigil. Wir nehmen die Dinge von so niedrigem Standpunkt, wir sind verdammt philiströs!«

Gregory preßte die Hände gegen seine Stirn.

»Ich versuche mir auszumalen, was für Folgen diese Scheidung für mein Mündel haben wird.«

»Lieber Freund, hören Sie auf ein offenes Wort: Ihr Mündel sowohl wie deren Gatte und George Pendyce sind eben diese Art von Leuten, für die unser Scheidungsgesetz gemacht ist. Sie haben alle drei eine gute Portion Mut, sie sind rücksichtslos und eigensinnig – und – verzeihen Sie – dickhäutig. Wenn ihre Sache zur Verhandlung kommt, wird eine Woche lang kräftig geschworen werden, wird das Publikum eine Woche lang Geld und Zeit opfern. Sie wird wundervolle Gelegenheit bieten zur Enthüllung intimster Angelegenheiten, zu glänzenden Verteidigungsreden, kurz, das Publikum wird auf seine Rechnung kommen. Es wird ein richtiges Freudenfest für die Zeitungen werden. Ich wiederhole: das sind eben die Leute, für die unser Ehescheidungsgesetz gemacht ist. Es läßt sich viel zugunsten der öffentlichen Verhandlung sagen, aber gleichzeitig setzt sie eine Prämie aus auf die Schamlosigkeit und verursacht unschuldigen Menschen beträchtliche Qualen. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, um eine Scheidungsangelegenheit durchzuführen, darf man, selbst wenn man im Recht ist, kein Gefühlsmensch sein. Jene drei werden die Sache tadellos überstehen; aber Ihnen und unseren armen Freunden hier draußen wird jedes Stückchen Haut heruntergerissen, werden, und das Resultat wird schließlich eine unentschiedene Schlacht sein! Das heißt, wenn sie ausgefochten wird; und wenn die Sache vor Gericht kommt, sehe ich nicht, wie es ohne Kampf abgehen soll; es wäre gegen meine Gefühle. Wenn wir den Kampf aber gar nicht erst aufnehmen, dann werden Ihr Mündel und George Pendyce einander überdrüssig sein, noch ehe das Gesetz ihnen die Ehe gestattet; und George wird, damit, nach seines Vaters Meinung, der Moral Genüge geschieht, eine Frau heiraten, die von ihm längst genug hat, und aus der er sich nichts mehr macht. So, da haben Sie meine Meinung, und jetzt gehe ich zu Bett. Es ist starker Tau gefallen. Machen Sie die Gartentür hinter sich zu.«

Mr. Paramor ging auf das Gewächshaus zu. Dann hielt er inne und kam noch einmal zurück.

»Pendyce«, begann er, »begreift das alles vollkommen, was ich Ihnen da gesagt habe. Er würde seine beiden Augen hergeben, wenn die Sache nicht zur Verhandlung zu kommen brauchte; aber Sie werden sehen, er wird doch alles möglichst verkehrt machen, und es wird schließlich ein Wunder sein, wenn der Erfolg auf unserer Seite ist. Das nenne ich die ›Pendycitis‹! Wir alle haben eine Spur davon in uns. Gute Nacht!«

Gregory stand allein draußen vor dem Herrenhaus mit seinem großen Stern. Und da seine Gedanken selten unpersönlicher Art waren, dachte er nicht über die ›Pendycitis‹ nach, sondern über Helen Bellew. Und je länger er nachdachte, desto mehr sah er sie vor sich, wie er sie zu sehen wünschte, denn das lag in seiner Natur; und immer spöttischer wurde das Blinken seines Sterns über dem Gebüsch, in dem die Nachtigall sang.

 


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