Maurus Jókai
Schwarze Diamanten
Maurus Jókai

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Die anderen schwarzen Diamanten.

Iwan hatte diese Nacht mit seinen Experimenten kein Glück. In seinen Berechnungen irrte er sich fortwährend, und nach einer halbstündigen Arbeit kam er darauf, daß er in dem Grundposten einen Buchstaben verfehlt habe. Dieser Buchstabe brachte dann die ganze Kette von Berechnungen in Verwirrung. Auch seine chemischen Versuche gelangen ihm nicht. Er war ungeschickt. Er verbrannte sich die Hand, denn er erfaßte anstatt des isolierten Griffes die glühende Zange. Er wußte nicht, was ihn heute betroffen habe.

Immer klang ihm das melancholische Volkslied, das er heute abend gehört hatte, in den Ohren. Er hatte Ohrenklingen.

Das passiert selbst dem pedantischsten Gelehrten. Er hört eine Melodie und sie geht ihm den ganzen Tag nicht aus dem Ohr; dort klingt sie bei all seinen Studien, mit ihr schläft er ein, mit ihr erwacht er, und zuletzt kommt er darauf, daß er alle seine Syllogismen nach dem Rhythmus dieser Melodie gemacht habe. Er möchte sich von ihr befreien, aber es geht nicht. Der Pendel bewegt sich nach ihrem Takt, die Alkohollampe summt sie, das Ventil der Dampfmaschine pfeift sie, und jede Zeile, die er liest, erhält ihren Rhythmus.

»Wenn ich das Haar dir strich,
Zerrt' ich am Haare dich?
Wenn ich dich wusch, mein Kind,
War ich je ungelind?«

Die Melodie ist sehr einfach; vielleicht aber hatte die Stimme etwas Bezauberndes. Es war eine so schwermütige, melancholische und dabei so warme Stimme, welche das Lied sang. Es muß irgendein Bauernmädchen gewesen sein.

Es ist jedenfalls lästig, störend.

Morgen abend wird er in Erfahrung bringen, welche von den Frauen singt, und diese wird er dann gleich beim Kohlendestillierofen anstellen. Von dort dringt der Ton nicht bis hierher.

Das Lied ging ihm nicht aus dem Kopfe.

Am andern Tag eilte Iwan am frühen Morgen in den Stollen; der Luftwechselofen arbeitete wacker, es war schon nur mehr ein Zehntel Wasserstoffgas der Grubenluft beigemengt und die Ventile konnte man halb schließen. Iwan konnte die Zeit außerhalb der Grube zubringen.

Als die Mittagsglocke den Arbeitern das Zeichen gab, die Arbeit zu unterbrechen, klang das berückende Lied wieder herauf. Es sang eine von den zum Mittagessen eilenden Bauerndirnen.

Es war eine prächtige hellklingende Stimme, wie die der Waldamsel, die noch nicht abgerichtet wurde, nach der Drehorgel zu singen, und nur ihre eignen angeborenen Lieder schmettert.

Unter den Mädchen, die in einer Gruppe vor ihm vorübergingen, konnte er die Sängerin leicht herausfinden.

Es war ein junges Mädchen von höchstens sechzehn Jahren. Das blaue Leibchen ließ die vollkommensten, von keinem drückenden Mieder zusammengepreßten Formen erraten, und da der kurze rote Rock an einer Seite aufgeschürzt und in den Gürtel gesteckt war, ließ das noch kürzere Hemd die Beine bis über die Knie sehen. Vollkommenere sind nie für eine Hebe gemeißelt worden. Zarte Knöchel, schöngeschwungene Füße und ebenmäßige Schönheitslinien. Der Kopf des Mädchens war mit einem bunten Tuch umwunden und all ihr Haar darunter gepreßt. Ihr Gesicht war wie bei den übrigen von Kohlenstaub geschwärzt, aber auch durch den Kohlenstaub konnte man die Schönheit schätzen, so wie ein Kunstkenner trotz dem Rost die Antike zu schätzen weiß. Ein eigentümlicher Zauber lag in diesen Zügen, Sanftheit und Milde, Regelmäßigkeit und Ausnahme, dichte, schwarze, sich schlängelnde Augenbrauen und sanfte, lächelnde, rote Lippen; irdischer Schmutz und überirdische Glorie.

Und etwas war in dem Gesicht, was der Kohlenstaub nicht verdecken konnte – die zwei großen schwarzen Augen, die zwei großen schwarzen Diamanten. Eine Finsternis voller Sterne.

Als sie mit diesen Augen einen raschen Blick in Iwans Augen warf, fühlte der Gelehrte, als ob diese Diamanten etwas auf die Glasphiole geritzt hätten, in welcher er sein Herz aufbewahrte, gut konserviert, unberührt. Sie werden diese Glashülle noch völlig durchschneiden, diese schwarzen Diamanten.

Die Dirne grüßte ihren Herrn, und begleitete ihren Gruß mit einem Lächeln, und ihre lächelnden Lippen ließen zwei Reihen der schönsten Perlenzähne sehen.

Iwan fühlte, daß er bezaubert sei. Er vergaß, warum er hierher gekommen, und was er hatte sagen wollen. Er blieb wie festgewurzelt stehen und sah den sich entfernenden Frauenzimmern nach. Er wartete, bis das Mädchen sich umsehen würde. Das hätte den Zauber von ihm genommen. Denn jedes Mädchen möge sich es wohl merken, daß sie die erste Pfeilspitze, welche sie mit ihrem ersten Blick ins Herz des Mannes geschossen, wieder herauszieht, wenn sie auf ihn zurückblickt. Der Mann sagt darauf: »Ein gewöhnliches Weib!« und der Zauber schwindet.

Aber das Mädchen blickte nicht zurück, obgleich eine hinter ihr gehende Kameradin sie bei ihren Namen: »Evila!« rief. Die Kameradin mag ihr vielleicht mutwillige Dinge ins Ohr geflüstert haben, das Mädchen zuckte bloß die Achsel. Dann ließ sie sich mit ihren Kameradinnen in einer langen offenen Scheuer nieder, setzte sich dort auf die Erde, nahm aus ihrer Tasche ein Stück schwarzes Brot und einen wilden Apfel und aß ihr Mittagsmahl.

Iwan kehrte in seltsamer Stimmung nach seiner Wohnung zurück. Zum erstenmal in seinem Leben fiel es ihm ein, wie leer das Haus sei. Das Sternensystem interessiert ihn jetzt nicht. Er fühlte sich wie ein Komet, der in seiner Laufbahn gestört wird.

Er war gewohnt, über alles Notizen aufzuschreiben. Er hatte ein Buch, in welchem über alle seine Arbeiter Bemerkungen aufgezeichnet waren. Er führte dieses Buch aus praktischen Gründen. Er wußte, daß ein rechtschaffener Arbeiter von guter Aufführung bei größerem Lohn von mehr Nutzen ist als ein träger Arbeiter von verdächtigem Lebenswandel bei geringem Lohn. Darum pflegte er von jedem Arbeiter aufzuzeichnen, was er über dessen Aufführung erfahren hatte.

Bei dem Namen »Evila« stand die Anmerkung: »Eine junge Waise, erhält mit ihrem Erwerb ihren verkrüppelten jungen Bruder, der auf Krücken geht und mit schwerer Zunge spricht. Sie geht nie in die Stadt.«

Gewiß hat er das Mädchen auch schon ein anderes Mal gesehen, aber auf sie nicht geachtet. Er pflegt ja seinen Arbeitern jeden Samstag selbst den Lohn auszuzahlen; da sieht man aufs Geld und nicht auf die Augen.

Wie kommt es aber, daß er diese Augen jetzt bemerkt hat?

Die chemischen und astronomischen Studien erhielten jetzt in seinem Tagebuch keinen Zuwachs. Es gibt ja noch andere Zweige der Wissenschaft, zum Beispiel den archäologischen Mystizismus.

Für einen Geologen und Anthropologen ist auch das sehr interessant, wie die alten Weisen das Schöpfungswerk abbildeten, was sie sich von den vorsintflutlichen Zeiten für Vorstellungen machten.

Von Mammuts und Sauriern wußten sie noch nichts. Aber sie wußten von Engeln und Teufeln, von Riesen und Gottessöhnen. Der Mystizismus nannte die »gefallenen Engel«: »Söhne Gottes«. In einer alten Schrift heißen jene Engel, welche den Himmel um der Erde willen verließen und herabkamen, um die Sünde süß zu machen, Egregores. Wenn es ein männlicher Engel war, so konnte ihm kein Weib widerstehen, wenn es ein weiblicher Engel war, so huldigte ihm jeder Mann und eilte mit ihm in Verdammnis zu geraten. Zur Zeit Jareds kamen sie aus dem Himmel und stiegen vom Berg Harmon herab. Es waren ihrer zweihundert. Aus den Umarmungen der Sterblichen und der gefallenen Engel entstammten die Eliuds, die Nephitim und die Riesen. Die Riesen waren Menschenfresser. Unter den abgefallenen Engeln war der sündhafteste Azael, der verführerischeste Semiazaz; beide liegen gebunden mitten in der Wüste Dudael, wo sie von den Erzengeln Raphael und Michael unter schweren Steinen begraben wurden. Und dort werden sie liegen sechshundertundzehn Menschenalter hindurch und dann werden sie vom Herrn verurteilt werden. Kainans Söhne waren die ersten, die sich von den in Flammen gekleideten weiblichen Engeln verführen ließen, und seitdem brannte die Erde unter ihren Füßen, wohin sie immer traten.

Was für einfältige Märchen, welche die Gelehrten der alten Zeit so ernst vortrugen.

Vor der Sintflut hat ja noch kein Mensch gelebt. Die Knochen der Nephitim und Eliuds sind nichts als die Ueberreste des alten Nashorns, und wenn die Egregores mit ihrem Anführer Semiazaz auf sechshundertundzehn Menschenalter zum Gefängnis verurteilt waren, so ist diese Frist längst verstrichen, und jetzt müßten wir sie schon sehen.

Aber wer weiß, ob sie nicht unter uns wandeln.

Dieses Gesicht ist ein solches, wie das Gesicht jener gewesen sein mag.

So mögen die Teufel ausgesehen haben, als sie noch Engel waren.

Wie viel Licht und höllische Finsternis, die sich in einem irdischen Wesen vereinigen wollen.

Die ganze Tradition von den Nephitim und Eliuds ist ein Märchen, absurd, ein Schimäre! Aber dieses Gesicht kann keine Geologie, keine Archäologie wegdisputieren! Das ist eine Tochter der Nephitim!

Aber was ist das im Gehirn eines ernsten, wissenschaftlich gebildeten Menschen? Was ist das für ein Phänomen, das alle Systeme über den Haufen wirft? Was für einen Namen führt dieses neue chemische Produkt, das gegen alle Berechnungen zum Vorschein kommt?

Liebe? Das kann nicht sein. Das ist nach der Definition der Weisen die Sympathie zweier Gegensätze, die Zentralsonne des Mikrokosmos, welche mit ihrer Wärme Leben erweckt usw. Eigentlich wissen die Weisen selbst nicht, was sie ist. Aber es bedarf des Begegnens zweier Seelen, damit Liebe entstehe.

Ist es also ein tierischer Instinkt? Wer würde dann darauf achten? Der Weise gebietet seinen Trieben, nicht diese ihm.

Endlich hatte er es herausgeklügelt. Es ist ein ganz normales und neutrales Gefühl, ohne betäubendes Sublimat, ohne korrosives Präzipitat. Es ist das Gefühl des Mitleids. Mitleid mit einem armen jungen Kind, das nicht Vater noch Mutter mehr hat und überdies noch einen armen Krüppel erhalten muß, den es nicht von Haus zu Haus betteln gehen läßt, und mit dem es seinen Bissen teilt; es kauft ihm in der Apotheke teure Arzneien und begnügt sich mit trocknem Brot und einem wilden Apfel; und dennoch ist es gut gelaunt und sittlich, rechtschaffen; es wendet nicht einmal den Kopf um. O! gewiß beruhigte sich Iwan vollständig darüber, daß, als er dieses kohlenbedeckte Najadengesicht erblickte, nur Mitleid sich in seinem Herzen regte; und als er diese bis über das Knie entblößten Nymphenbeine sah, dachte er nichts anderes, als wie schade es sei, daß diese zarten Beine in dem rauhen Kohlenschutt waten müssen.

Er nahm sich vor, dieses durchaus menschenfreundliche Gefühl nicht von sich zu weisen, ja es konsequent sich entwickeln zu lassen.

Nach der Metaphysik sind Wohltätigkeit, Mitleid und Dank Gefühle, die mit der Liebe und Wonne verwandt sind; allein eben weil sie mit diesen Gefühlen verwandt sind, sind sie mit denselben nicht identisch, so wie Geschwisterliebe nicht mit der Liebe der Ehegatten eins und dasselbe ist.

Es ist wahrhaftig etwas ganz anderes, armen, verwaisten Bauernmädchen Gutes zu tun, als in sie verliebt zu sein.

Am nächsten Samstag abend, als die Arbeiter kamen, um ihren Wochenlohn von dem Herrn zu empfangen, der selbst auch der Kassierer war, blieb Evila die letzte. So ziemte es sich, denn sie war die jüngste.

Das kleine Wohnhaus hatte einen offenen Gang, in diesem stand ein unangestrichener Tisch, auf welchen Iwan den Lohn der Arbeiter abzuzählen pflegte, nachdem er in ein großes rastriertes Buch eingeschrieben hatte, wieviel jeder gearbeitet hat und wieviel ihm zukam.

Auch Evila trat zu dem Tisch hin. Einige Kameradinnen, mit welchen sie nach Hause zu gehen pflegte, warteten im Tor auf sie.

Das Mädchen war auch jetzt so gekleidet wie die ganze Woche hindurch; nur war jetzt nach vollendeter Arbeit der rote Rock nicht aufgeschürzt. Ihr Gesicht war auch jetzt von Kohlenstaub bedeckt.

Als das Mädchen vor den Tisch hintrat, sagte Iwan zu ihr mit der philosophischen Ruhe der wohltätigen Großmut: »Mein Kind, ich habe beschlossen, dir von nun an doppelten Taglohn zu geben.«

»Warum?« fragte das Mädchen, die großen, Wolken zerstreuenden Augen zu ihm aufschlagend.

»Darum, weil ich höre, daß du einen verkrüppelten Bruder hast, den du mit deinem Erwerb erhältst; es bleibt dir kaum genug, dir Kleidung anzuschaffen. Ich weiß, daß du ein rechtschaffenes, gut gesittetes Mädchen bist. Ich liebe es, diejenigen zu belohnen, die sich gut aufführen. Von heute an bekommst du doppelten Taglohn.«

»Aber ich nehme das nicht an.«

Jetzt war an Iwan die Reihe zu erstaunen.

»Warum nicht?«

»Darum; wenn Sie mir mehr Lohn geben als meinen Kameradinnen, so wird jeder sagen, daß ich Ihre Geliebte bin, und dann würden meine Kameradinnen mich so viel necken, daß ich es nicht aushalten und nicht dableiben könnte.«

Iwan war ganz verwirrt durch diese naive, natürliche, einfache und kühne Antwort.

Es fiel ihm gar nichts ein, was er ihr darauf hätte sagen können.

Er zahlte dem Mädchen den gewöhnlichen Wochenlohn aus. Sie faltete die Guldennoten ganz gleichgültig zusammen, öffnete vor den Augen ihres Herrn ohne die geringste Ahnung von Koketterie das Kleid an ihrem Busen und steckte das Geld unter das Hemd.

Dann wünschte sie ihm gute Nacht, verbeugte sich und ging fort.

Iwan kehrte schwindelnd in sein Zimmer zurück.

Diesen Gemütszustand hatte er noch nicht gekannt. Er hatte viel gelesen, war auch viel in der Welt herumgekommen, hatte viele Frauen kennen gelernt; aber was er jetzt erlebt hatte, konnte er sich nicht erklären.

Sie will nicht, daß man von ihr glaube, sie sei meine Geliebte! Sie fürchtet, daß sie dann nicht in der Kolonie bleiben könnte. Sie hat also noch keinen Begriff davon, daß die Geliebte eines »Herrn« nicht mehr Kohlenkarren schiebt. Auch weiß sie nicht, was das für eine Bedeutung hat: eine Geliebte sein. Wohl aber weiß sie, daß sie sich davor hüten muß. Wie ernst sie sprach, und wie sie dabei lächelte. Sie hatte auch keine Kenntnis davon, daß sie lächelte, noch daß sie ernst sprach. Ein wilder Mensch – im Stadium des Engels.

Das weiß sie schon, daß sie schön ist; sie weiß aber noch nicht, was die Schönheit wert sei. Sie spricht von Dingen, welche zu ahnen eine Tugend, welche aber zu wissen Sünde ist.

Wie sehr verschieden ist sie von den übrigen Frauenzimmern! – von den in Seide, wie von den barfuß gehenden!

Und nebstdem ist sie ein wahrhaftes Musterbild der biblischen Eva. Nicht wie die Archäologen sie konstruieren, sondern wie der größte der Dichter, wie Moses sich sie vorstellte. Sie ist Eva, die noch nicht weiß, daß sie wegen ihrer Nacktheit erröten müsse, der Typus der Schönheit, wild, in primitiver Ursprünglichkeit, ungewaschen; die noch kein Band in ihr Haar windet, die noch ahnungslos im Paradies wandelt und mit der Schlange spielt; die dem Manne gegenüber ein vollkommenes Weib, vor sich selbst ganz Kind, und dennoch schon zur Mutterliebe entwickelt ist einem verkrüppelten Bruder gegenüber. Ihr Wuchs ist ein plastisches Muster, ihr Gesicht voller Seele, ihre Stimme voller Gefühl, ihre Augen sind bezaubernd, und in der Hand hat sie die Karrenstange, in der Seele die Sorge um das tägliche Brot; auf ihrem Gesicht liegt der schwarze Ruß der Arbeit, und ihre Lieder hat sie von der Straße aufgelesen. Wie schade um sie!

Dann dachte er noch hinzu: Welch ein Schade für einen anderen!

Iwan war aus seiner ganzen früheren Gemütsstimmung gerissen.

Die gewohnten überirdischen Geister hatten ihn verlassen, und dafür waren andere über ihn gekommen, die er bis dahin nicht gekannt hatte,– die Dämone, die den heiligen Anton in der Wüste versuchten – die ruhelosen Geister, die Kobolde des heißen Bluts, welche die Asketen mit stacheligen Gürteln von sich fernhielten, welche die sich kasteienden Einsiedler damit bekämpften, daß sie ihre Kleider mit beißenden Ameisen anfüllten.

Ueberall stand die verführerische Gestalt zwischen ihm und den Instrumenten der kalten Wissenschaft. Wenn er an seine chemischen Versuche ging, wenn unter dem Schmelztiegel die Kohlen zu glühen anfingen, so sah er darin die schwarzen Augen, die glühen und glühend machen. Wenn die aus ihren Verbindungen freigewordenen Gase betäubend zischten, so schien es ihm, als ob er auch durch dieses Zischen hindurch die Worte des Mädchens hörte, und als er einmal die Feder in die Hand nahm, um physikalische Figuren an den Rand seiner Studien zu zeichnen, bemerkte er plötzlich, daß er das Gesicht des Mädchens hingezeichnet und ihre Züge gut getroffen habe.

Was er immer vornahm, alles führte ihn auf diesen Gedanken zurück.

Ein Buch voller Schimmelgeruch, das er zu seiner Zerstreuung vornahm, erzählte ihm von Männern, die für in niederem Rang geborene Frauen schwärmten. Lord Douglas verliebte sich in eine Schäferin, und da sie nicht um seinetwillen eine Fürstin werden wollte, so wurde Mylord ihr zuliebe ein Schäfer und hütete mit ihr die Schafe. Graf Pelletier nahm ein Zigeunermädchen zur Frau und zog mit ihr als Straßenmusikant herum. Bernadotte, der König von Schweden, begehrte eine Gänsehüterin zur Frau, und es wurde nur deshalb nichts aus der Sache, weil sie ihn nicht wollte. Erzherzog Johann heiratete die Tochter eines Dorfpostmeisters, und ein anderer österreichischer Erzherzog erhob eine Provinzschauspielerin zu seiner Gemahlin. Die Gemahlin des Zars Peter des Großen war die Tochter eines Dorfpopen. Ein Napoleonide heiratete eine Wäscherin, die vormals seine Geliebte war.

Und warum nicht? Gibt es nicht auch in grober Hülle Schönheit, Anmut, Treue, wahres Gemüt, so gut wie in Seide?

Im Gegenteil! Haben nicht die vornehmen Kreise ihre eignen Verbrechen?

Zoraja läßt von Albohacen ihre eignen Kinder töten; und sie war doch eine Prinzessin. Faustina besuchte das Lupanar und nahm Lohn von ihren Liebhabern, obgleich ihr Vater Kaiser und ihr Mann ein Divus (göttlich) war. Die Marquise Astorgas stößt ihrem Manne eine lange Haarnadel ins Herz. Semiramis bevölkert einen ganzen Friedhof mit den Leichen ihrer getöteten Männer. König Otto wird von seiner Gemahlin mittels eines Handschuhs vergiftet. Johanna von Neapel dreht selbst die Schnur, mit welcher sie ihren Gatten erdrosseln läßt. Jeanne la Folle martert ihren Mann zu Tode. Die Zarin Katharina betrügt ihren Herrscher und Gemahl und läßt ihn töten. Und die Borgias, Tudors, Cilleys, deren Frauen alle dadurch berüchtigt sind, daß sie um ihre Krone den Gürtel der Aphrodite gewunden trugen!

Und sind in den niederen Kreisen nicht hohe Tugenden zu finden?

Die Komödiantin Gaussin, die auf die carte blanche des reichen Liebhabers anstatt der Millionen schreibt, daß sie ihn ewig lieben werde; Quintilie, die andere Komödiantin, die sich die Zunge abbeißt, um ihren Geliebten, der ein Verschwörer war, auf der Folterbank nicht verraten zu können; Alice, die für ihren Mann ein Duell annimmt und fällt; die Abeleren, die sich für ihre Geliebten mit Opium töten, und alle diejenigen, die hienieden dulden, leiden, schweigen und lieben!

Selbst Philosophie und Geschichte verschworen sich gegen die Ruhe Iwans.

Und erst die Träume!

Der Traum ist der Zauberspiegel, in welchem der Mensch sich so sieht wie er wäre, wenn seine Triebe und Wünsche allein maßgebend wären. Der Kahle hat im Traum Haare.

Die Angebetete, die er im wachem Zustand nicht zu erreichen vermag, zwingt der Mensch ihm im Traum zu erscheinen und so zu erscheinen, wie es ihm beliebt. Der Traum ist der ruchloseste Kuppler.

Gegen Ende der folgenden Woche begann Iwan zu bemerken, daß er den Gebrauch seines gesunden Verstandes vollständig verloren habe.

Je mehr er seinen Geist zwang, zu den abstrakten Theorien zurückzukehren, desto mehr empörten sich seine Dämone gegen ihn.

Zuletzt passierte es ihm eines Abends, daß er, als er sich mit einem Chlorgasexperiment abmühte, eine Retorte so stark heizte, daß sie sprang und sein anderswohin starrendes Gesicht so mit Glasscherben und Glut überschüttete, daß er voller Wunden war, die er alle mit englischem Pflaster bekleben mußte. Daran dachte er freilich nicht, daß sein Gesicht um nichts schöner wurde dadurch, daß er ein schwarzes Pflaster quer über die Nase geklebt hatte.

Nun wurde er schon ernstlich ärgerlich über sich.

Das ist ja ein verrückter Mensch, mit dem er da zu tun hat. Dem muß er ein Ende machen. Entweder so oder so.

Nun meinethalben werde verrückt aus Liebe, dem werden wir schon abhelfen. Meinetwegen, heirate das Mädchen! Ich bin allein meine ganze Familie, es hat mir niemand etwas zu befehlen. Heirate sie, und dann sehen wir zu den anderen Geschäften. So kann es nicht weiter fortgehen!

Eine Mesalliance!?

Sechs Meilen in der Runde ist kein Mensch, der dieses Wort versteht.

Und wenn auch?

Er soll mir nachkommen unter die Erde, wenn ich dort unten herumhantiere und mein Gesicht schwarz ist von Kohle, und dann sehe er, ob ich deshalb sehr erröte.

Bis zum folgenden Samstag sah Iwan das Mädchen nicht.

An dem Tage erschien sie wie gewöhnlich, im offenen Gang vor dem Zahltisch.

Diesmal hielt Iwan, nachdem er Evila den Wochenlohn in die Hand gezählt hatte, diese Hand fest. Das Mädchen lächelte – vielleicht über die Pflaster, mit welchen Ivans Gesicht kreuz und quer beklebt war.

»Höre, Evila, ich will dir noch etwas sagen.«

Das Mädchen sah ihn an und schwieg.

»Ich will dich zur Frau nehmen.«

Das Mädchen schüttelte verneinend den Kopf.

»Was?« rief Iwan zweifelnd.

»Das ist nicht möglich,« antwortete das Mädchen.

»Nicht möglich? Warum nicht?«

»Weil ich schon einen Bräutigam habe, mit dem ich verlobt bin.«

Iwan ließ die Hand des Mädchens los.

»Wer ist es?«

»Das sage ich nicht!« antwortete das Mädchen mit mißtrauischem Blick. »Denn wenn ich es sage, so würden Sie ihn gewiß von da fortjagen, oder ihn nicht vorwärts kommen lassen. Er kann mich aber nicht eher heiraten, als bis er Grubenbursche wird.«

»Ist es also ein Tagwerker?«

»Ja.«

»Und du schätzest ihn höher als mich, der ich ein Herr bin?«

Das Mädchen zuckte die Achsel, bog den Kopf zur Seite, warf einen zweifelnden Blick auf Iwan, der ihm noch mehr den Kopf verwirrte, dann nahm sie sich zusammen und antwortete ihm auf die Frage.

»Ich bin längst mit ihm versprochen, noch von der Mutter her, und das muß man halten.«

»Der Teufel hole deinen Vater und deine Mutter!« brach Iwan außer sich vor Zorn aus; »was kümmert's mich, was sie einem Büffel versprochen haben. Ich frage dich, willst du deinen Bräutigam mit mir vertauschen?«

Evila schüttelte wieder verneinend den Kopf.

»Es geht nicht! Mein Bräutigam ist ein wütender, wilder Mensch. Er wäre imstande mich umzubringen und Ihnen die Grube anzuzünden, wenn das böse Wetter am besten im Zuge ist. Gute Nacht.«

Hiermit lief sie plötzlich fort und mengte sich unter ihre vor dem Tor wartenden Kameradinnen.

Iwan schlug sein Notizbuch so heftig auf den Tisch, daß es an allen Ecken und Enden auseinanderging.

Eine gemeine Dirne, ein karrenschiebendes, weibliches wildes Tier weist seine Hand und sein Herz zurück!

Und für wen?

Für einen schmutzigen, lumpigen, elenden, unter der Erde wühlenden gemeinen Burschen! Für einen Maulwurf!

Iwan hatte einen großen Kampf zu bestehen, als er in der Einsamkeit der Nacht allein war.

Asmodai und Leviathan harrten seiner.

Jener ist der Teufel derjenigen, die aus Liebe wahnsinnig werden; dieser der böse Geist derjenigen, die aus Wahnsinn morden.

Die unterdrückte Leidenschaft des Asketen flammte in ihm auf.

O hütet euch vor dem kalten, marmorstarren Heiligen, vor dem ruhigen, sanften, rechtschaffenen Manne, der sich von einem Frauengesicht abwendet, der vor fremden Reizen die Augen niederschlägt, der kein Gelüste trägt nach dem, was eines andern ist; denn wenn bei dem die unterdrückte Flamme ausbricht, so rächt sie sich und entschädigt sich für die bisher erduldete Sklaverei. Die Liebe des Flatterhaften ist ein kleiner Hund, die Leidenschaft des Einsiedlers ein Löwe.

Mit diesem entfesselten Löwen im Herzen ging der Mann der Wissenschaft die ganze Nacht in seiner engen Wohnung auf und ab und warf sich von Zeit zu Zeit auf sein Lager, ohne jedoch ruhen zu können, denn seine wütenden Dämone jagten ihn immer wieder auf.

Es fiel ihm alles ein, was er je in alten Schriften gelesen, die schrecklichen Geschichten von im Ruf der Heiligkeit gestandenen Männern, die eine ganze Gegend schätzte, verehrte, und die plötzlich wegen eines Paares schwarzer Augen verrückt wurden, alle sieben Todsünden begingen und daraus siebenundsiebzig machten; – die Geschichten von den Wahnsinnigen, welche wegen des Gegenstandes ihrer Leidenschaft Gottes Gebote brachen. Es fiel ihm die Geschichte Cencis ein, die Geschichte von den mit verfluchtem Blut abgewaschenen noch verfluchteren Küssen. Er dachte an den Sohn Ninons, der sich tötete, weil er seine Mutter schön fand – an Oedipus und Myrrha, an Salome mit dem Kopf des heiligen Johannes als Lohn für einen Tanz, an Thamar mit den von Absalon zerrissenen Kleidern, an Dinah auf einem Hügel von Männerleichen in einer ausgerotteten Stadt, an das lächelnde Haupt der Sultanin Irene, das durch einen liebenden Mann abgeschlagen wurde – an den ganzen Pitaval mit all jenen schrecklichen psychologischen Rätseln, in welchen der Uebergang vom Heiligen zum Teuflischen ein so plötzlicher ist.

Iwan konnte den Zustand jenes Geistlichen begreifen fühlen, der sich in eine schöne Bäuerin verliebte, sie unter dem Vorwand der Beichte zu sich lockte, sie wegen eines Kusses tötete, dann die Leiche, die er nicht anders zu verbergen wußte, in Stücke zerriß und einige ins Wasser warf, andere vergrub oder verbrannte.

O! Alles das könnte er tun und viel geschickter als der Geistliche.

Es gibt süße Gifte, geheimnisvolle Zaubertränke, die im Blut Feuer entzünden und die Schamhaftigkeit verlöschen. Er kennt sie. Wer mit solchem Gift den Mysterien der Astarte geopfert wurde, der wird wahnsinnig, verfällt der Abzehrung und geht zugrunde.

Aber das würde nie ans Tageslicht kommen.

Und wenn sie zugrunde geht, stirbt, getötet wird! Die Leiche wird nichts aussagen, auch weiß er einen sehr guten Platz, wo er sie verbergen kann.

Wenn der Teich in der Steinkohlenhöhle sich zurückzieht, so gibt es im Labyrinth jenes geheimnisvollen Raumes manches stille Plätzchen, wo man den Leichnam eines getöteten Mädchens verbergen kann. Niemand kann ahnen, daß die Vermißte dort sei. Niemandem wird es einfallen sie dort zu suchen. Dieses Wasser ist kein Verräter, dieses wirft seine Leichen nicht aus. Erst nach späten Jahrhunderten, wenn man auch diese Felsen aufreißt, wird man einen menschlichen Leichnam finden, der mit Kristallen überkrustet und auch selbst zu Stein geworden ist; und die Gelehrten jener Zeit werden Folianten vollschreiben über das Rätsel, wie nach dem Zeitalter der Eozän in die Steinkohlen- und Porphyrformationen eine menschliche Gestalt geraten ist!

Hahahah!

Er lachte. So weit ist es schon mit ihm gekommen!

Oder vielleicht wäre es besser, die Leiche chemisch zu zersetzen, daraus alles, was Metall ist, auszuziehen, aus diesem dann ein Armband zu verfertigen und so das ganze Mädchen für immer am Handgelenk zu tragen.

Das wäre eine Ehe!

Was?! Wenn es tausend und tausend Sternen gestattet wäre, sich gegen Gott, gegen die Sonne zu empören, von der Bahn abzuweichen und in einer wahnsinnigen Parabole unter die Fixsterne zu stürzen – sollte es nicht einem Menschen gestattet sein?

Iwan hatte in seinem Herzen ein Gefühl, als ob er der Komet wäre, den sein Feuer ins Unendliche fortreißt. So pochte, so wogte sein Herz, wie wenn ein Sklave frei wird und seinen Herrn mit Füßen tretend, ihm Befehle erteilt.

Wehe dem, der ihm in den Weg kommt!

Iwan lag auf dem Bette, aber fürchterliches Herzpochen jagte ihn auf.

»Wer« ist das Herz?

Bin ich »es« oder ist es »ich?«

Iwan streckte sich empor und mit seiner schweren Faust – es war eine tüchtige Männerfaust – schlug er sich so aufs Herz, als ob der Schlag einem schlimmen Feind gegolten hätte.

Wirst du schweigen?!

Wer ist hier der Herr? du oder ich?

Verrichte deine Arbeit Sklave! Ich bin dein Herr, dein König! Deine Arbeit aber besteht in nichts anderem, als aus der blauen Ader den Kohlenstoff aufzusaugen, ihn in die Lunge zu treiben, aus der Milchdrüse den Chilus zu pumpen, die Arterien in Bewegung zu halten, die Schleusen der Venen zu öffnen! Deine Krankheit heißt Atrophie, Hypertrophie, aber ein Herr bist du da nicht! Denn der Herr ist der Wille!

Und als der Mann sein Herz so grausam schlug, schien es ihm, als ob er sich selbst wie eine von einem Zauberspiegel reflektierte Gestalt vor sich sähe, und als ob sein Ich mit dieser seiner zweiten Gestalt einen Kampf eingehen würde. Als ob dieses nach Sünde lechzende Gesicht vor seinen Augen als ein Fremder stünde, der ihm seine Züge geraubt hat.

Und als er seine Faust gegen sich stieß, war es ihm, als ob er der vor ihm schwebenden Erscheinung einen niederschmetternden, vernichtenden Schlag versetzen und als ob er ihr sagen würde: »daß du mir nie mehr so vor die Augen tretest!«

Und hiermit zwang er, wie der Magier den überwundenen Dämon, sein Herz, sich ruhig mit ihm zum Schreibtisch zu setzen, still aufzumerken auf die prosaischen Rechnungen, mit Aufmerksamkeit die ewigen Wahrheiten des kalten Einmaleins zu verfolgen, bis rings um ihn die in Blut und Rosenschimmer schwimmende Luft allmählich klar und durchsichtig wird, wie der Weltäther, in welchem die für menschliche Gehörorgane unvernehmbare Spärenmusik der Planeten tönt.


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