Maurus Jókai
Schwarze Diamanten
Maurus Jókai

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Dies irae!

An einem düsteren Herbsttage ging Iwan von seinem Hammerwerk zu Fuß zu seinem Bergwerk zurück. Und auf dem Wege hing er seinen Gedanken nach.

Das ist eine wunderliche Welt.

Nicht der Weisen ist das Brot, nicht der Starken der Triumph.

Gerade so, wie zur Zeit Salomons des Weisen.

Alles, geht zurück.

Ein schlechtes Jahr folgt auf das andere.

Auch die Natur ist stiefmütterlich gegen die Menschen.

Das Volk hungert und bettelt um Brot.

Und wenn es Brot bekommen hat, so vergißt es, von wem es dasselbe erhalten.

Die Unwissenheit ist unser größter Feind.

Große herrschaftliche Besitzungen gehen zugrunde, ohne daß die Besitzer an der Nation, am Lande eine der Aufzeichnung werte Wohltat ausgeübt hätten. Alle Lasten der Gegenwart und der Zukunft liegen auf einer geringzähligen, ausgebeuteten Klasse.

Weder die großen Herren noch die mittleren Klassen sind zu Hause anzutreffen.

Das schmierige Volk hält schon im geheimen Beratungen, wen es als seinen Abgeordneten in den Reichsrat wählen soll.

Und Peter Saffran läßt sich, seit er aus Wien zurückgekommen, mit seinen Bekannten in gar kein Gespräch mehr ein – so ist ihm der Kamm geschwollen.

Die Narren haben sich der Welt bemächtigt.

Niemand rafft sich mehr zu einer kühnen Tat auf.

Die trauernden Patrioten seufzen nur, singen nur das »Szózat«, weinen ins Weinglas, ballen die Faust in der Tasche; aber niemand rafft sich zu einer kühnen Tat auf.

Alle Kraft ist verloren gegangen. Es gibt keinen einzigen Mann im Lande.

Gibt es aber Frauen? Ja, Menschen weiblichen Geschlechts.

Da ist eine, die sich dem Menschen, der sie verleumdet hat, hinwirft, nur um ihre erhabene Verachtung dem Elenden gegenüber ausdrücken zu können, der sie verteidigt hat.

Und die andere? Sie ist ein Günstling der Fürsten und eine Betrügerin, welche die ganze Welt täuscht.

Von der vornehmen Dame bis zur gemeinen Dirne herab, alle sind sie herzlos.

Und selbst unter der Erde ist es nicht besser. Im Bergwerk unten zieht seit Tagen das böse Wetter. Das Wasserstoffgas ist so häufig, daß man unten nicht arbeiten kann.

Wenn mir nur das Ganze auf den Kopf fallen würde, während ich unten bin! –

Gedanken, wie sie zu der schwarzen Landschaft paßten.

Als Iwan auf dem vom Hammerwerk herabführenden Wege vor den letzten Arbeitshäusern vorüberging, sah er beim allerletzten dieser Häuser einen Arbeiter zur Tür herausstolpern. Es war die Tür einer Branntweinbude.

Der Arbeiter hatte ihm den Rücken zugewendet, er konnte ihn daher nicht erkennen. Man sah, daß es den Mann Anstrengung kostete, gerade zu gehen und nicht hin und her zu wanken.

Wer mag das sein, der schon so früh am Morgen betrunken aus der Kneipe kommt? dachte sich Iwan, und begierig zu erfahren, welcher Arbeiter das sei, eilte er ihm nach, um ihm ins Gesicht sehen zu können.

Als er ihn eingeholt hatte, erkannte er ihn staunend. Es war Peter Saffran.

Die Sache fiel Iwan auf. Er erinnerte sich, daß Saffran an dem Tage, an welchem Evila verschwand, gelobt habe, niemals mehr Branntwein zu trinken.

Er wußte auch, daß Saffran seitdem sein Gelübde stets gehalten habe.

Aber er erinnerte sich auch, daß Saffran eben damals auch ein Wort fallen ließ, er werde noch einmal trinken, und daß er an dieses Wort eine geheimnisvolle Drohung geknüpft habe.

Möge er trinken, das ist seine Sache.

Aber warum kommt er auf Iwans Grund und Boden Branntwein trinken? Bekommt er in den Butiken seiner Kolonie nicht genug Branntwein?

Nun, vielleicht schmeckt ihm dieser besser.

Iwan grüßte den Mann.

»Guten Morgen, Peter!«

Peter erwiderte den Gruß nicht, sondern staunte einem tollen Hunde gleich, der seinen Herrn nicht mehr erkennt, Iwan starr und wild ins Gesicht. Er preßte die Lippen zusammen und seine Nüstern erweiterten sich; die Mütze hatte er bis über die Augenbrauen herabgezogen.

Iwan wollte von ihm etwas erfahren.

»Zieht auch in euren Gruben das böse Wetter?« fragte er ihn.

Der Angeredete antwortete auch darauf nicht, sondern schob sich die Mütze von der Stirne, und die Augen weit aufgerissen, neigte er sich ganz nahe zu ihm hin und hauchte, den Mund stumm öffnend, auf den Fragenden. Und hiermit wandte er sich wieder ohne ein Wort zu sprechen um und ging auf dem zum Aktienbergwerk führenden Wege weiter.

Ein Schauder rieselte Iwan über den ganzen Leib, als der auf ihn gehauchte Branntweinduft sein Gesicht berührte.

Er schaute, stehen bleibend, dem sich Entfernenden nach, der, sowie er von Iwan zwanzig Schritte weit entfernt war, den Kopf noch einmal umwandte, um ihm das drohende, wie von Wahnsinn verzerrte Gesicht zu zeigen. Er zog die Lippen auseinander wie ein drohender Hund, so daß seine weißen Zähne und das rote Zahnfleisch sichtbar wurden.

Beim Anblick dieses Gesichtes griff Iwan in die Tasche, und als er so seinen Revolver berührte, durchzuckte ihn ein Augenblick der Gedanke, daß er, wenn er diesen Menschen jetzt niederschießt, damit irgendeine gottgefällige Tat verüben würde. Iwan war seit einiger Zeit genötigt, einen Revolver bei sich zu tragen, denn die Arbeiter des benachbarten Bergwerks hatten gedroht, ihn, wenn sie ihn einmal allein anträfen, in eine Kohlengrube zu werfen, wenn sie ihn nicht sonstwie aus der Welt schaffen könnten; von der mit rohen, aufgehetzten, fremden Elementen untermengten Schar war alles zu erwarten.

Aber er ließ Peter Saffran gehen. Er wandte sich und ging zu seinem Bergwerk, um den Ventilator zu untersuchen.

In der Grube war die Proportion zwischen dem Wasserstoffgas und der Luft 3 : 7. Daher verbot Iwan an diesem Tage die unterirdische Arbeit, bis das gefährliche Gas herausgepumpt sein werde.

Er beschäftigte alle Arbeiter mit dem Wegschaffen der zutage geförderten Kohle, und beim Bergwerk blieben nur diejenigen, die bei den Ventilationsöfen zu tun hatten.

Iwan selbst blieb den ganzen Tag bis zum späten Abend dort, um die Aufsicht zu führen.

Abends entließ er seine Arbeiter, denn Nachtarbeit werde es heute nicht geben.

Er selbst zog sich ebenfalls zeitig in sein Häuschen zurück.

Es war ein häßliches, nebliges, düsteres Wetter, durch welches auch das menschliche Gemüt verdüstert wurde. Der Mensch leidet mit der Natur.

Wenn der Himmel melancholisch ist, so ist es auch der Mensch. Wie erst, wenn auch die Erde krankt! Die Steinkohle haucht tödliche Gase aus und vergiftet mit ihrem stinkenden Atem die Luft; Würmer und Schimmel verderben das Obst, der Brand zerstört das Getreide, und die Seuche richtet unter den Tieren Verheerungen an. Selbst der Mensch kränkelt.

Iwan hatte den ganzen Tag den namenlosen Schauder empfunden, der schon sonst zuweilen seinen Körper durchrieselt hatte.

Unangenehme Welt!

Als er sich in seiner öden Wohnung allein befand, überkam ihn das frostige Gefühl noch stärker. Eine Gänsehaut lief ihm über alle Glieder. Er war unruhig.

Er hatte unangenehme Gedanken, wohin er sich auch immer wenden mochte. Wenn er an seine eignen materiellen Verhältnisse, wenn er an die Angelegenheiten seines Vaterlandes, an gute Freunde, an schöne Frauen dachte, so fühlte er stets nur Ekel und Abscheu.

Auch die Wissenschaft, das blinde Tappen in der Finsternis, tröstete ihn nicht.

Die Arbeit behagte ihm nicht, was das schlimmste Krankheitssymptom ist.

Wenn einem Essen und Trinken nicht schmeckt, wenn man nicht schlafen kann, wenn einen die Ansprache einer schönen Frau nicht erwärmt, so ist man noch immer nicht so krank, wie wenn man keine Lust zu arbeiten hat. Das ist die wahre Krankheit.

Sein Körper war nicht schlafbedürftig, und seine Seele fand kein Gefallen am Wachsein.

Er legte sich nieder, um nicht auf zu sein; er schloß die Augen, um sie nicht offen zu halten.

Und vor seinen geschlossenen Augen belebte sich die Welt. Es kam ihm allerlei aus der Vergangenheit in den Sinn.

Mit gut sich erinnerndem Abscheu – denn der Abscheu hat das beste Gedächtnis – dachte er an Peter Saffrans von Branntwein duftenden Hauch, und dieser Abscheu führte ihm die Worte ins Gedächtnis zurück, welche der Arbeiter einst gesprochen hatte.

»Nie im Leben trinke ich mehr Branntwein. Aber noch einmal werde ich es tun. Wenn Sie an mir riechen werden, daß ich Branntwein getrunken habe, oder wenn Sie mich aus einem Wirtshaus kommen sehen, so bleiben Sie an dem Tage zu Hause; denn an dem Tage kann niemand wissen, warum, wieso und wodurch er stirbt.«

Aber was geht mich deine Trunkenheit an? Schlaf' du zu Hause, ich schlafe da in meinem Bett.

Allein das Gespenst wollte durchaus nicht zu Hause schlafen. Es wollte durchaus mit Iwan in einem Bette liegen.

Sowie Iwan ein wenig einschlummerte, fühlte er gleich den unangenehmen Geruch in seiner Nähe und sah mit geschlossenen Augen das zu ihm sich niederbeugende Gesicht Peters, wie er ihn mit blutunterlaufenen Augen anstarrte und mit geöffneten Lippen und zusammengepreßten Zähnen ihn anhauchte.

Er strengte sich an, ihn von sich wegzustoßen.

Endlich wurde Iwan aus seinem Schlummer von einem schrecklichen Krachen erweckt, als ob der jüngste Tag dröhnend angebrochen wäre.

Er wurde nicht allein erweckt, sondern auch aus dem Bett geschleudert; auf der Erde raffte er sich empor.

Sein erster Gedanke war: Das schlagende Wetter hat mein Bergwerk zertrümmert!

Er brauchte nur noch diesen Schlag auf sein Haupt, um ganz vernichtet zu sein.

Er stürzte hinaus ins Freie.

Draußen war eine rabenschwarze Nacht und in der Stille war ein gewisses Sausen vernehmbar, wie wenn man Ohrensausen hat.

Er wußte nicht, wohin er sich wenden soll, ob er rufen, wen er rufen soll, ob in diesem Tal noch ein lebendes Wesen existiere, ob nicht alles gestorben und begraben sei, oder ob die Menschen zwar, noch lebend, aber verstummt seien wie er selbst.

Was war das? Woher kam dieses Krachen, von welchem die Erde jetzt noch bebt, die Luft jetzt noch saust.

Der nächste Augenblick brachte Antwort.

In der pechschwarzen Nacht erhob sich plötzlich eine blendende Feuersäule aus der Mitte der Aktienbergwerksgebäude, und im Nu darauf erdröhnte ein noch stärkeres Krachen als das vorige; die Fenster aller Häuser fielen klirrend zu Boden und die erschütterten Schornsteine stürzten auf die Dächer, und Iwan wurde durch den schrecklichen Luftdruck in die Tür seines Hauses zurückgeschleudert.

Und beim Licht des höllischen Feuers sieht Iwan seine Arbeiter vor seinem eignen Bergwerk auf den Knien, mit dem Ausdruck des Schauderns, des Entsetzens in ihren vom Feuerschein beleuchteten Gesichtern. Vor den nahen Häusern stehen Frauen und Kinder, starr vom ersten Anprall des Entsetzens.

Das ganze Tal gleicht dem Krater eines eingestürzten Vulkans, einem unter dem Feuerregen versunkenen Gomorra.

Die schreckliche Flamme schlägt bis zu den Wolken hinan und lehrt den Himmel donnern, wie er nie in einem Ungewitter donnern wird.

Und nach zwei Minuten erlischt die Flamme; die ganze Gegend ist wieder in schwarze Nacht gehüllt, nur über dem Aktienwerk schwebt noch eine weiße Wolke.

»Die Nachbargrube ist explodiert!« schrie Iwan mit der Stimme der Verzweiflung, als glaubte, er nicht, daß die höllische Explosion ohnedies jeden aufgeweckt habe, den sie nicht tötete. »Zu Hilfe, zu Hilfe!«

Jetzt dachte er nicht mehr daran, daß die Welt wunderlich, daß die Menschen seine Feinde seien; er wußte nur, daß unter der Erde – gleichviel wessen diese Erde ist – ein schauderhaftes, mit Worten nicht zu beschreibendes Unglück geschehen sei.

»Zu Hilfe, ihr Leute!« schrie er noch, einmal, lief dann zur Sturmglocke und begann aus Leibeskräften Sturm zu läuten.

Nach kurzer Weile kamen von allen Seiten seine erschrockenen Arbeiter herbei und jeder mit dem Ruf: »Die Nachbargrube ist explodiert!« als ob jemand da wäre, der es noch nicht weiß.

Dann folgte eine lange stumme Pause. Die Bergleute mit ihren Grubenlichtern in den Händen, umringten Iwan und schauten ihn fragend an, erwartend, was er sagen werde.

»Wir müssen sie retten!« war das erste Wort, welches Iwan an seine Leute richtete.

O! wie hat er ihre Gedanken erraten!

Diejenigen, die unter Gottes freiem Himmel geblieben sind, müssen alles tun, um die zu retten, die unter der Erde verschüttet sind und vielleicht noch leben. Hier gibt es jetzt keine Feinde, sondern nur Menschen und Menschen.

»Wir müssen schnell den Ventilator, die Schöpfeimer herbeischaffen!« rief Iwan. »Jeder Mann versehe sich mit einem Tuch zum Schutz des Mundes. Bringt Brecheisen, Stricke, Leitern und die Kautschukschläuche. Niemand soll hier bleiben, nur die Frauen. Vorwärts!«

Er selbst zog rasch einen schlechten Rock an, nahm eine große eiserne Stange auf die Schulter und eilte voran, um seinen Arbeitern den Weg zum Aktienbergwerk zu bahnen.

Die neuen Eigentümer hatten ihre Besitzung stark mit Brettern umplankt, damit Iwans Wagen nicht darüberfahren könnten.

An den Torflügeln war mit großen Buchstaben aufgeschrieben: »Es ist strenge verboten, ohne Erlaubnis durch dieses Tor zu fahren.«

Jetzt kümmerte man sich freilich nicht viel um die Erlaubnis.

War das Tor verschlossen, so stemmte Iwan sein Eisen an, die Bänder krachten und das Tor ging auf.

Die Menschen nahmen sich nicht Zeit, die Maschinen mit Pferden zu bespannen, sondern sie spannten sich selbst ein, andere schoben nach, und so wurden die Maschinen über Stock und Stein, den kürzesten Weg, in der Richtung des großen Schlotes fortgezogen.

Wie ein Heer von fliehenden Irrwischen, so sah der Zug der zur Rettung eilenden Arbeiter in der Nacht aus, denn jeder hatte am Gürtel sein Grubenlicht hängen.

Bald wurde es für sie helle. Eine Wölbung des neben dem Aktienbergwerk befindlichen Hammerwerks stürzte infolge der heftigen Erschütterung ein und der Feuerschein der glühenden Schmelzöfen erfüllte die Gegend plötzlich mit seinem roten Licht.

Die Arbeiter wichen der Richtung des Glutscheines aus: der Strom des geschmolzenen Eisens konnte sich hierhin und dorthin ergossen haben.

Ein grauenhaftes Bild entfaltete sich vor den zum Bergwerk gelangenden Arbeitern.

Die über dem Schacht befindlichen runden Ventilationsöfen waren verschwunden, ihre Ziegelsteine waren in einem Umkreis von tausend Klaftern über die Felder gestreut.

Der Hebekran, der aus Gußeisen war, lag weit von seinem früheren Platz umgekehrt auf dem Boden, und von dem turmartigen Gebäude stand bloß eine Mauer da, von der die ausgerissenen Eisenbänder herabhingen. Und von den in der Nähe gelegenen Gebäuden waren alle Dachziegel abgerissen.

Die nördliche Mündung des Bergwerks aber war eingestürzt. Das prächtige, aus behauenen Steinen gebaute Portal lag zertrümmert, gleich der Mündung eines verlassenen Steinbruchs.

Steine, Balken, Eisenstangen, Kohlen waren wunderbar untereinander gemengt, als ob ein Vulkan sie ausgeworfen hätte.

Und das schreckliche Weinen!

Hundert und hundert Frauen und Kinder weinten, vielleicht waren es ebenso viele Witwen und Waisen.

Unter ihren Füßen liegen die Männer, die Väter begraben, und sie können ihnen nicht helfen.

Mehr aus Unüberlegtheit als aus Mut hatten mehrere Männer nacheinander in die eingestürzte Grubenmündung einzudringen versucht.

Vom herausdringenden Gas betäubt, stürzten sie nieder, und jetzt eben waren ihre Kameraden unter großer Lebensgefahr damit beschäftigt, sie mit Hacken und Schlingen herauszuziehen.

Einer lag schon auf den Rasen hingestreckt. Frauen, die verzweifelt die Hände rangen, standen um ihn herum.

Iwan begann, sowie er hingelangt war, seine Verfügungen zu treffen.

»Niemand nähere sich vorwitzig der Grubenmündung! Jeder soll warten, bis ich zurückkomme!«

Er eilte ins Direktionsgebäude. Es fiel ihm nicht ein, daß er gelobt hatte, nie mehr mit Rauné zu sprechen.

Aber er fand Rauné nicht zu Hause. Der war eben in der benachbarten Stadt; dort gaben die Eisenbahnunternehmer ein Bankett zur Feier der Vollendung des Tunnels. Er mußte dabei sein.

Er traf nur den zweiten Ingenieur an; der kam ihm entgegen.

Es war ein verdammt phlegmatischer Mensch.

Er tröstete sich damit, daß so etwas auch im Ausland passiert. Aus solchen Katastrophen macht man sich dort nichts mehr.

»Man muß die Portale neu aufbauen, die Grubengänge neu mit Pflöcken stützen und vielleicht an einer andern Stelle zu schürfen beginnen. Das wird viel Geld kosten. Voilà tout

»Wieviel Männer haben dort unten gearbeitet?« fragte ihn Iwan.

»Jetzt nur ungefähr hundertfünfzig.«

»Nur? Also, was glauben Sie, daß mit ihnen geschehen wird?«

»Ja! die zu befreien wird schwer sein, denn sie haben jetzt gerade an dem Durchgang gearbeitet, welcher den nördlichen Schacht mit dem östlichen verbinden sollte, damit die Ventilation eine vollkommenere sei.«

»So ist denn kein anderer Eingang in das Bergwerk, nur der, welcher zusammengestürzt ist?«

»Aber auch der östliche Schacht ist zusammengestürzt! Von dort kam die Flamme, die vorhin aufloderte. Sie haben sie wohl gesehen?«

»Es war mir unbegreiflich, wieso die zweite Explosion nach einem Intervall von einigen Minuten nach der ersten erfolgte.«

»Das kann ganz natürlich erklärt werden. Die zu durchbrechende Zwischenwand war schon so dünn, daß die Explosion des nördlichen Schachtes sie umstürzen konnte. Dann hat sich das Gas im östlichen Schacht unzweifelhaft nicht durch die Flamme entzündet, denn diese war schon erloschen, sondern durch den starken Luftdruck, denn auch dieser erzeugt Hitze, und da es durch die einstürzende Kohle gehemmt war, so explodierte es durch die Mündung des Schachtes. Das ist so, wie wenn Sand in einen Flintenlauf kommt und das Pulver lieber den Lauf sprengt, als daß es den Sand herausstieße.«

Das setzte der Ingenieur dem zur Rettung herbeigeeilten Iwan mit so kaltem Blut auseinander, als ob ihn die ganze Affäre nicht weiter berührte, als daß er jetzt neue Portalzeichnungen würde ausarbeiten müssen.

»Um die begrabenen Arbeiter befreien zu können, müßte man zuerst das Gas aus der Mündung der Höhle pumpen, damit man die Wegschaffung der Trümmer in Angriff nehmen könne. Wo ist Ihre Ventilationsmaschine?«

»Dort ist sie!« sprach der Ingenieur, in die Luft zeigend, »wenn sie noch nicht herabgefallen ist.«

»Und haben Sie keinen tragbaren Ventilator?«

»Das Bedürfnis eines solchen hat niemand eingesehen.«

»Gut! Hier ist der meine, verwenden wir den.«

»Ich möchte nur gern wissen, wie. Wenn der Ventilator ein kupfernes Rohr hat, so kann dieses in das Zickzack der Trümmer nicht hineingestoßen werden; wenn er einen Kautschukschlauch hat, so ist dieser zu weich, um vorwärts geschoben werden zu können.«

»Es muß ihn jemand hineintragen.«

»Jemand?« rief der Ingenieur mit kaltem Erstaunen; »sehen Sie dorthin, jetzt zieht man den dritten Menschen tot heraus, der kopflos zwischen dem Trümmerwerk vorwärts gestürzt ist.«

»Na, auch diese sind noch nicht tot; wir rufen sie wieder ins Leben zurück.«

»Aber deshalb glaube ich doch nicht, daß Sie bis heute abend jemanden finden, der das vordere Ende des Schlauchs fünfzig Schritte weit zwischen den Trümmern vorwärts trägt.«

»Ich habe schon einen gefunden! Ich werde es selbst tun.«

Der Ingenieur zuckte die Achsel. Er hielt ihn nicht zurück.

Iwan ging zu seinen Leuten zurück, die sich mittlerweile zur Arbeit angeschickt hatten. Er rief den ältesten Bergmann auf die Seite.

»Lieber Paul! Jemand muß mit dem Schlauch in die Mündung hineingehen.«

»Gut! losen wir!«

»Wir werden nicht losen. Ich gehe selbst. Ihr seid alle Familienväter. Ihr habt zu Hause Weib und Kind; ich habe niemanden. Wie lange kann ein Mensch es im Gas ohne zu atmen aushalten?«

»Hundert Pulsschläge lang.«

»Gut! Gebt mir den Schlauch her. Bindet mir einen Strick um den Leib und laßt ihn mir langsam nachfolgen. Wenn ihr merkt, daß ich den Schlauch nicht mehr weiter trage, so zieht den Strick langsam zurück – aber langsam, damit ihr, wenn ich vielleicht umgefallen bin, mir nicht durch heftiges Zurückreißen den Kopf zerschmettert.«

Iwan löste unterdes von seinem Leibe den wollenen Gürtel, tauchte ihn in ein Gefäß voll Weinessig, preßte ihn aus und wickelte sich ihn um das Gesicht, so daß Mund und Nase davon bedeckt waren.

Dann richtete er sich den ihm um den Leib befestigten Strick zurecht, nahm das Ende des Schlauchs auf die Schulter und machte sich auf den Weg zum Trümmerwerk.

Der alte Arbeiter rief ihm mit dumpfer Stimme nach: »Zähle die Sekunden, Herr! Fünfzig hin, fünfzig her.«

Iwan verschwand hinter dem Trümmerwerk.

Die Arbeiter nahmen die Mützen ab und falteten die Hände.

Der alte Arbeiter umfaßte mit seiner Rechten sein linkes Handgelenk und zählte die Pulsschläge.

Er hatte schon über fünfzig gezählt, und der Schlauch wurde noch immer fortgezogen.

Er war schon bei sechzig, bei siebzig, der Schlauch wurde noch immer fortgezogen. Iwan drang in der tödlichen Atmosphäre noch immer mehr vorwärts.

Dem alten Arbeiter stand der kalte Schweiß auf der Stirne.

Jetzt sind schon achtzig, schon neunzig, schon hundert Sekunden vorbei!

Wir werden ihn nie wiedersehen.

Da rückte der Schlauch nicht mehr weiter.

Jetzt begann man am Strick zu ziehen.

Dieser war schlaff, von keiner Last angespannt. Iwan geht also zurück, und es ist noch nicht nötig, ihn herauszuziehen.

Er geht noch immer, das Seil ist noch immer schlaff. Jetzt plötzlich wird es angespannt. Zieht behutsam! Das Seil wird wieder schlaff. Der alte Arbeiter zählt bereits die hundertsechzigste Sekunde. Da schleppt Iwan sich aus der Mündung heraus, sich auf den herabgefallenen Schlußstein der Wölbung stützend, aber diesen zu überschreiten fehlt es ihm bereits an Kraft; und als die Leute zu ihm hinstürzten, fiel er ihnen taumelnd in die Arme. Sein Gesicht war bleich, wie das eines Sterbenden.

»Es fehlt mir nichts!« stammelte er zu sich kommend, als die frische Luft sein Gesicht berührte und man ihm die Stirne mit Essig einrieb. »O! dort drin ist eine schreckliche Luft. Was müssen die ausstehen, die dort drin eingeschlossen sind!«

Es fiel ihm nicht ein zu denken: Da seid ihr jetzt, ihr Elenden, die ihr mich undankbar verlassen habt, die ihr euch zu meinem Ruin verschworen, meine Getreuen verfolgt, hinter mir Komplotte geschmiedet habt, die ihr mich meuchlings ermorden wolltet, Deputationen abschicktet und bereit waret, zu den Feinden eures Vaterlandes Abgeordnete zu senden! Hier seid ihr nun, in der Finsternis der rächenden Mutter Erde begraben! – Er dachte und sprach nur: Wieviel müssen sie leiden unter der Erde! Befreien wir sie!

Sowie der Ventilator in Wirksamkeit kam, konnte man ans Werk gehen.

Auch jetzt war es ein schwerer, jedoch ein möglicher Kampf.

Iwan teilte seine Leute in verschiedene Abteilungen.

Beim Fortschaffen der Trümmer kann ein Mensch nicht länger als eine Stunde arbeiten.

Jedermann soll sein Gesicht mit einem in Weinessig getauchten Tuch umwinden. Sowie einer zu taumeln anfängt, sollen seine Kameraden ihn augenblicklich forttragen.

Als der Tag anbrach, waren die Trümmer des eingestürzten Portales auf die Seite geschafft. Aber in die Mündung der Grube konnte die Sonne nicht hineinscheinen.

Die Tonschieferwölbung war auf einer Seite herabgefallen, derart, daß Iwan, als er den Schlauch dort hineintrug, kaum Platz hatte, um sich durch die Lücke durchzuwinden. Wo er aber das Ende des Schlauches zurückließ, da war die Wölbung ganz herabgestürzt.

Es war ein übermenschliches Unternehmen; was sonst die Arbeit von Wochen gewesen wäre, mußte jetzt binnen Tagen vollführt werden. Und es mußte geschehen!

Iwans Arbeiter fuhren fort, die Trümmer der eingestürzten Mündung fortzuschaffen, wobei sie von seiten des Aktienbergwerks sehr wenig Unterstützung fanden.

Es stellte sich heraus, daß die Explosion gerade zu der Zeit geschehen sei, als man die Arbeiter ablöste.

Wenn man im Grubengas arbeiten muß, so wird viermal abgelöst.

Die Explosion geschah gerade zur Zeit der mitternächtlichen Ablösung. Ein Teil der Arbeiter fuhr gerade damals ein; diese sind schon im Himmel!

Ein anderer Teil war eben auf dem Weg hinaus; diese wurden durch die Explosion und durch den Einsturz getötet. Aber ein Teil ist wahrscheinlich auf dem Ablagerungsplatz geblieben, wo weder die Flamme noch die Trümmer sie erreichten; diese sind jetzt dort lebendig begraben.

Also waren draußen kaum zwanzig, dreißig männliche Grubenarbeiter des Aktienbergwerks geblieben.

Was aber die Arbeiter des Hammerwerks anbelangt, so schlug der Direktor desselben es rundweg ab, sie zur Räumung der Grube herzuleihen. In allen seinen Oefen ist das Metall im Fluß; wenn er nicht gehörig achtgeben läßt, so bekommt er lauter »Bären«.

(Einen »Bär« nennt der Hüttenarbeiter eine solche Eisenmasse, die infolge fehlerhaften Schmelzens aus dem Ofen nicht herausgenommen werden kann, und die als unbrauchbar samt dem Ofen hinausgestoßen werden muß.)

Und die Hammerwerksarbeiten sind pressant. Die Eisenbahnschienen müssen auf den Tag fertig sein, sonst muß eine riesige Pön bezahlt werden.

Daher mußte Iwan das Werk der Liebe beinahe nur durch seine Arbeiter allein verrichten lassen. Nur die Frauen leisteten Beistand. Galt es doch ihre Männer zu befreien.

Und das war eine schwere Arbeit.

Das im Einsturz begriffene Dach des Ganges mußte jede halbe Klafter weit mit Pflöcken gestützt werden, und sowie einmal durch das Trümmerwerk eine Gasse gebrochen war, begegnete man einem neuen Feind.

Nach der Explosion wurde die Grube von Wasser überflutet.

Jetzt mußten auch die Wasserpumpen in Tätigkeit gesetzt werden. Wo man mit diesen nicht hingelangen konnte, da war man genötigt, den schwarzen Schlamm mit Eimern auszuschöpfen.

Bis an die Knie in stinkendem Schlamm stehend, von verpesteter Luft umgeben, von oben fortwährend durch herabstürzende Trümmer bedroht, drangen die wackern Arbeiter Schritt für Schritt immer tiefer in den unterirdischen Raum.

Nachmittags kam auch Herr Rauné an.

Mitten in der besten Unterhaltung hatte er die Schreckensnachricht erhalten. Er war aber auch wütend.

Er kam zum Bergwerk hin und verfluchte die darin zugrunde gegangenen Arbeiter.

»Die Schurken! Sie haben die Gesellschaft um eine Million geschädigt! Wenn sie doch nur alle krepiert wären! Was gibt man sich noch mit ihrer Befreiung ab?! Sie sollen zugrunde gehen! Die betrunkenen Hunde!«

Die arbeitenden Männer ließen sich mit ihm in keinen Wortwechsel ein. Erstens, weil sie dazu nicht Zeit hatten und zweitens, weil jeder den Mund verbunden hatte. Das Räumen eines Stollens ist eine sehr stille Arbeit.

Aber einmal stieß Herr Rauné auf einen Arbeiter, der, als er am besten fluchte und die lebendig Begrabenen verdammte, sich vor ihn hinstellte und ihm fest ins Auge sah.

Das war eine ebenso mit Schlamm und Kohle bedeckte Gestalt wie die übrigen. Sein Gesicht war, wie das der übrigen, bis zu den Augen mit einem Tuch verbunden und über dieses hinaus mit Ruß bedeckt; aber an den Augen erkannte er ihn.

Wer einmal in diese Augen geblickt hat, der vergißt ihren Ausdruck niemals.

Herr Rauné verstummte und machte, daß er mit seinem Ingenieur von da fort kam; von nun an ließ er Iwan handeln, wie es diesem beliebte.

Vier Tage und vier Nächte wurde die anstrengende Arbeit unaufhörlich fortgesetzt.

Die wackern Männer bekämpften jedes Hindernis und brachen sich bis dorthin Bahn, wo der Weg frei war.

Iwan aß während dieser ganzen Zeit an keinem Tische und schlief in keinem Bett. Auf dem nächsten besten Stein sitzend, nahm er etwas zu sich, wenn er eben Zeit hatte, und wenn der Schlaf ihn übermannte, so legte er sich wo immer, wo er niemandem im Weg war, nieder und schlief eine Stunde. Nicht auf eine Stunde entfernte er sich vom Bergwerk.

Am vierten Tage fanden die Arbeiter schon den ersten der vermißten Menschen.

Einen Menschen? Nein! Eine an die Wand gedrückte Masse, die einst Fleisch und Bein gewesen war.

Einige Klafter weiter lag ein anderer Mann auf dem Boden, aber der Kopf desselben war nirgends zu finden.

Dann stieß man auf einen Handwagen, einen derjenigen, auf welchen man die Kohle hinausbefördert, in Stücke zertrümmert; Späne davon steckten nach allen Richtungen in einer menschlichen Leiche.

Dann fand man bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Gestalten. Diese waren also schon vom Feuer ereilt worden.

An einer Stelle waren etwa fünfzehn Männer einer Gruppe von einer herabgestürzten, mehrere hundert Zentner schweren Schieferschicht zerquetscht. Diese mußte man liegen lassen. Tagelang wird es dauern, bis die Steintrümmer von da weggeräumt werden können.

Jetzt ist es dringender, die vielleicht noch Lebenden aufzusuchen.

Ueberall, in allen Stollen des Bergwerks fand man Tote; aber die Zahl der Vermißten war damit noch immer nicht voll.

Die Arbeiter des Aktienbergwerks sagten Iwan, daß wenn irgendwo am Leben Gebliebene sind, das nur auf dem Ablagerungsplatz sein könne, wo sie vor der Arbeit ihre Säcke abzulegen und nach der Arbeit wieder abzuholen pflegen.

Aber in den Gängen herrschte eine solche Zerstörung, daß selbst die da bewanderten Arbeiter sich kaum zu orientieren vermochten; an manchen Stellen hatte die Explosion die Zwischenwände durchbrochen, an anderen Stellen wieder die Eingänge verstopft oder zwischen zwei übereinander befindlichen Gängen die Decke durchrissen. Selbst die hier wohlbewanderten Arbeiter mußten suchen, wo der orientierende Hauptstollen sei.

Endlich schien es Iwan, als ob er unter einem großen Haufen Steinkohlen und Schiefertrümmer wimmern hörte.

»Hier beginnen wir zu graben!« sagte er zu seinen Arbeitern.

Sie fingen an das Trümmerwerk fortzuräumen, und je mehr davon weggeschafft wurde, desto besser begannen die Arbeiter des Aktienbergwerks sich auszukennen.

»Ja! Hier ist die Tür, welche in den Ablagerungssaal führt!«

Gewiß hatte der Luftdruck die Tür zugeschlagen, die Seitenwand darüber gestürzt, und während er so die darin Befindlichen begrub, sie zugleich vor dem Tod durch Verbrennen bewahrt.

So war es!

Das Wimmern, die Hilferufe wurden durch das Trümmerwerk hindurch immer vernehmbarer, schon wurde die Tür sichtbar, und sowie diese aus den Angeln gehoben war, war Iwan der erste, der mit seinem Licht in die Finsternis hineinleuchtete.

Es scholl ihm kein Freudengeschrei entgegen. Die aus der Verdammnis geretteten Gestalten stürzten nicht hin, seine Knie zu umfassen. Vom letzten Ringen des Lebens mit dem Tode lagen sie erschöpft, entstellt da.

Es waren ihrer über hundert.

Alle lebten noch! Aber was für ein Leben war das! Abgezehrt von Hunger und Durst, halb erstickt von der Grubenluft, gebrochen von Verzweiflung, hoben hundert menschliche Gerippe beim Anblick des Lichtschimmers die schlaffen Hände und den matten Kopf empor. Es war der Morgenstern im Grabe. Das Beinhaus regte sich auf den Ruf der Auferstehung.

Und ein herzerschütterndes Wimmern, in dem kein menschlicher Ton mehr war, erscholl von hundert Lippen, so, daß wer es hörte, sein ganzes Leben darüber schaudern mußte.

Diese wurden im Augenblick der Explosion hier verschüttet. Der Luftdruck hatte auf einmal ihre Lampen ausgelöscht, und es wäre Wahnsinn von ihnen gewesen, sie wieder anzuzünden. Seitdem sind sie hier in der Finsternis begraben.

Ihre Gefahr vermehrte noch der Umstand, daß sie bald nach der Verschüttung zu bemerken anfingen, daß das Wasser langsam in den Raum sickerte, der ihnen als Zuflucht und Grabstätte diente. Dieser Raum liegt eine halbe Klafter tiefer als der Stollen.

Da fingen sie in der Finsternis an, aus den hier befindlichen Brettern und Pflöcken ein Gerüste zusammenzustellen. Auf dieses Gerüste kletterten sie alle, und da erwarteten sie den vielfachen Tod, den durch Hunger, durch die Grubenluft, oder durch das steigende Wasser verursachten Tod.

Als die Retter die Tür öffneten, reichte das Wasser bereits bis zur Schwelle und benetzte die Unterlage des Gerüstes.

Auf Iwans Anordnung wurden die Armen in Ruhe und Stille aus ihrem Grabe hinausgetragen. Sie drängten sich nicht vor. Jeder lag ruhig an seiner Stelle und wartete, bis die Reihe an ihn kam.

Der Vorgeschmack des Todes hatte sie zu sehr stillen Leuten gemacht.

Manche waren nicht einmal imstande, die Augen zu öffnen; aber Iwan fand, daß alle noch lebten und daß die menschliche Natur wunderbar ist.

Diese waren also gerettet.

Aber damit war die Arbeit noch nicht beendet.

Wie, wenn noch beim Durchbruch lebendig begrabene Menschen sind?

Man mußte sich Gewißheit verschaffen, ob es wirklich so geschehen, wie der Ingenieur es voraussetzte, ob nämlich die erste Explosion den Durchbruch zwischen den beiden Stollen vollendet habe, so daß man ietzt von einem in den andern gehen kann. Dies würde die Arbeit der Retter hinsichtlich der Opfer des östlichen Stollens bedeutend erleichtern.

Bei der Mündung des Durchbruchtunnels lag eine bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Gestalt.

Der Tote hatte noch jetzt die Davysche Lampe geöffnet in der Hand.

Also dies war der Verdammte, welcher die Schreckenstat verübt hatte!

Also wirklich hatte menschlicher Wahnwitz diese höllische Explosion ersonnen.

Die Leiche war unkenntlich, die Kleidung verbrannt. Aber am ledernen Gürtel war ein stählernes Kästchen befestigt. In diesem Kästchen fand man eine goldene Uhr, auf deren emailliertes Deckblatt das Brustbild einer sehr schönen Dame gemalt war.

Iwan erkannte in diesem Bild Eveline.

Und bei der Uhr befand sich eine Hundertguldennote, stark gebräunt, jedoch nicht verbrannt.

Auf der Rückseite dieser Banknote stand geschrieben: »Heute vor einem Jahre habe ich dieses Geld erhalten, heute zahle ich es zurück!«

Es war eine schreckliche Rückzahlung!

* * *

Iwan begriff jetzt den ganzen Zusammenhang zwischen den Taten und den Worten dieses entsetzlichen Menschen, den die Erinnerung an das Menschenfleisch, das er einst genossen, zu einem so kolossalen Menschenmord getrieben hatte.

Die Drohung nach der Entführung seiner Braut – der plötzliche Eintritt in den Dienst des Aktienbergwerks, die letzte Gelegenheit, bei welcher Peter Branntwein trank, und der verhängnisvolle Hauch auf Iwans Gesicht – das alles fiel Iwan jetzt im Zusammenhang ein.

Das war ein Charakter wie ein Antichrist, ein in einen menschlichen Körper gehüllter Dämon, der sich aufgeopfert hat, um sich an allen zu rächen, die ihn beleidigt, bestohlen, ausgelacht, verhöhnt, verachtet, zum Narren gehalten, mit Toasten beehrt, mit ihrem Reichtum insultiert, mit ihrem Luxus gereizt, seine Einfalt bei der Nase herumgezogen haben!

Wie werden alle nach ihm fallen, weil er den Grundstein unter ihren Füßen weggestoßen, wie werden sie alle nacheinander aus ihrer Höhe auf sein Grab stürzen: der Geistliche, der Bankier, der Kapitalist, der Diplomat, der Minister und die Komödiantin!

Der braucht in der Hölle nichts mehr zu lernen.

* * *

Iwan stand in Gedanken vertieft vor der Leiche, und in diesem Augenblick ragte er mit seinem Haupt bis zum Himmel empor, obgleich er unter der Erde war.

Auch in seinem Herzen tobten alle Leidenschaften.

Auch ihn haben sie bestohlen, beraubt, mit ihrem Reichtum erdrückt, sein Herz mit giftigen Dolchen verwundet – dieselben Menschen, über die dieser andere das Gift seiner Rache ausgeschüttet hat!

Und er eilt jetzt, das Leben, das Vermögen seiner Feinde zu retten – nicht allein das Menschenleben sondern geradezu auch das menschliche Vermögen.

Der ungeheure Schatz, der hier unter der Erde liegt, ist ja nicht bloß der Schatz seiner Feinde, sondern auch der Menschheit; dies ist die verborgene Schatzkammer des Staatsvermögens, bestimmt zur Hebung der Industrie zu dienen.

Und noch eine große Furcht beherrschte ihn.

Er wagte es nicht, jemandem etwas davon zu sagen; denn wenn er seine Gedanken seinen Arbeitern mitteilte, die ihm bisher durch alle Gefahren gefolgt sind, so würden sie sich plötzlich umwenden und eiligst ins Freie zu kommen suchen.

Die Drahtwalze der Davyschen Lampen ist bis hinauf mit einer roten Flamme erfüllt, was anzeigt, daß noch immer ein Drittel der Atmosphäre Wasserstoffgas ist, und nur zwei Drittel belebende Luft sind.

Aber vor dem Grubengas fürchten sie sich nicht mehr. Diesem schrecklichen Geist sehen sie schon kühn in die Licht sprühenden Augen – selbst während sie die Leichen seiner Opfer auf die Tragbahre legen.

Doch es ist noch ein anderer Geist da, und dieser geht mit geschlossenen Augen umher. Diesem wagt es niemand entgegenzutreten. Es ist das Kohlengas im Bergwerk.

Die Anwesenheit desselben ist schrecklich!

Als sie zum Durchbruch des Tunnels gelangten, fanden sie es in der Tat so, wie der Ingenieur es gesagt hatte.

Die Explosion hatte die Zwischenwand durchstoßen, und jetzt brauchte man nur die Trümmer derselben fortzuräumen, um die Verbindung mit dem östlichen Stollen herzustellen.

Keiner der damit beschäftigten Arbeiter vermochte lange bei dieser Arbeit auszuhalten.

Nach einigen Minuten kamen sie alle nacheinander zurück, hustend und klagend, daß die Lampe an jener Stelle schlecht brennt.

Im Stollen erfüllt die Flamme der Lampe erschreckend genug die ganze Walze; in der Nähe des Trümmerwerks flackert sie kaum. Das ist noch fürchterlicher.

Der zuletzt zurückgekommene Arbeiter sagte, als er ein großes Stück Kohle wegschob, sei ein so unangenehmer Geruch durch seine Mundhülle gedrungen, daß er es kaum auszuhallen vermochte. Dieser Geruch glich dem Gestank verdorbenen Sauerkrauts.

Die alten Arbeiter wußten schon, was der Sauerkrautgeruch im Stollen bedeutet.

Der alte Paul ermahnte Iwan, der selbst hinging um nachzusehen, er möge sich hüten durch das Mundtuch zu atmen und eiligst zurückkommen.

Iwan ergriff die Eisenstange und die Lampe, und eilte, den Atem zurückhaltend, zum Trümmerwerk hin.

Die Eisenstange mit beiden Händen fassend, stieß er sie mit aller Kraft in die Kohlenmasse, worauf diese mit großem Geräusch in den andern Raum hinüberstürzte.

Dann befestigte er seine Lampe an den Haken der Eisenstange und steckte sie durch die entstandene Lücke durch.

Die Lampe erlosch augenblicklich.

Und als er aus der Finsternis durch die Lücke hindurch sah, bemerkte er schaudernd im anderen Stollen einen rötlichen Glutschein, der sich über den ganzen Raum erstreckte.

Er wußte wohl, was das zu bedeuten habe.

Er wußte es so gut, daß er erschrocken die Eisenstange zurückließ und aus Leibeskräften laufend, von dort wegeilte.

»Der östliche Stollen brennt!« rief er entsetzt den Arbeitern zu.

Diese sprachen kein Wort mehr, sondern ergriffen zu beiden Seiten Iwan an den Armen und zogen ihn eiligst mit sich, damit er nicht zurückbleibe.

Was hinter ihnen kommt, das ist der entsetzliche Gestank, das ist nicht mehr das schreckliche böse Wetter, das droht und zerschmettert, wenn man seinen Zorn erregt, sondern das tückische Kohlengas, das sich aus dem Grubenbrand entwickelt, das nicht mit sich trotzen läßt, das mutige Herz nicht ehrt, und wen es einmal erstickt hat, nicht mehr mit Frottieren oder Beten ins Leben zurückrufen läßt. Da hilft nichts als die Flucht.

Nach einigen Augenblicken war der Stollen leer.

Als sie ans Tageslicht hinauskamen, wo zahllose Frauen und Kinder die geretteten lebendig Toten vor Freuden weinend oder mit Wehgeschrei umringten, fand Iwan den Ingenieur.

Iwan riß sich jetzt das Tuch vom Mund.

»Nun, mein Herr, jetzt kann ich Ihnen sagen, was dort drin vorgeht. Es ist der gänzliche Ruin. Der östliche Stollen brennt! Er muß schon seit mehreren Tagen brennen, denn ich sah den ganzen Stollen glühen. Ich werde den Anblick nie vergessen. Das ist nicht ein Werk menschlicher Bosheit, und nicht der strafenden Hand Gottes, sondern das Werk der Nachlässigkeit der Aufseher. Sie als großer Physiker werden wissen, daß die Steinkohlengrube sich entzündet, wenn man den mit Schwefelkies untermengten unbrauchbaren Steinkohlenschutt auf einem Haufen liegen läßt. Er wird dort warm, und sowie die freie Luft ihn berührt, entzündet er sich von selbst. Ihre Stollen sind voll mit solchem feuergefährlichem Mist. Und jetzt ist's aus mit Ihrem und auch mit meinem Bergwerk. Das Grubenfeuer löscht kein Mensch. Sie kennen wohl den brennenden Berg zu Duttweiler? Es sind hundertundzwanzig Jahre, seit darin die Steinkohle sich entzündet hat. Sie brennt heute noch. Hier werden wir ein ähnliches Schauspiel haben. Gute Nacht, mein Herr!«

Der Ingenieur zuckte die Achsel. Was geht das ihn an?

Iwan verließ mit seinen Arbeitern die von Gott geschlagene Kolonie.

Und was war seitdem aus seiner Kolonie geworden? An seinen Besitz hatte er seit vier Tagen und Nächten gar nicht gedacht ...


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