Maurus Jókai
Schwarze Diamanten
Maurus Jókai

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Der Menschenfresser.

Die Morgendämmerung fand Iwan noch vor der Lampe seines Schreibtisches.

Als die Dämmerung und die Lampe schon ein zwiefaches Licht auf seine Papiere warfen, löschte er die Lampe aus.

Er kam zu sich.

In seinem Geist war der Plan entworfen, den er durchführen wird.

Ein reiner, von Engeln gutgeheißener Plan.

Es war Sonntag morgens.

Die Maschinen der Steinkohlendestillieröfen rasten. Das große Wasserbassin, welches die Dampfpumpen speist, ist am Sonntag morgens den Arbeitern übergeben, damit sie darin den Schmutz der ganzen Woche von sich abwaschen.

Von sechs bis sieben ist die laue Flut des Bassins den Arbeiterinnen überlassen und nach diesen von halb acht bis neun den Arbeitern.

Den zur Pumpmaschine des großen Bassins führenden Schlüssel pflegt der Maschinenmeister Samstag abends Iwan zu übergeben – damit kein neugieriger, mutwilliger, lästiger Mensch hinein könne.

Iwan war es nie eingefallen, daß er diesen Schlüssel brauchen könnte.

Im Verschluß der Pumpmaschine ist ein kleines Spiegelglasfenster angebracht, durch welches man auf das Bassin sehen kann – ob zum Beispiel der Wasserstand desselben nicht gestört ist, wenn die Pumpen arbeiten.

Aber Sonntag morgens um sechs Uhr könnte man hier einen olympischen Anblick genießen!

Auch Evila ist dort!

Iwan nahm den Schlüssel vom Nagel und steckte ihn in die Tasche.

Das tat er aber nicht zwischen sechs und sieben, sondern erst nach acht Uhr. Er wollte die männlichen Arbeiter belauschen.

Warum?

Weil er die Gebräuche des Grubenvolkes kannte und wußte, daß, wer eine Geliebte oder eine Braut hat, den Namen derselben auf seinen nackten Leib mit Nadelstichen einzuätzen pflegt. Er wollte den Mann ausfindig machen, der sich den Namen Evila eintätowiert hat.

Woher kam zu unseren Grubenarbeitern diese wilde Indianerzärtlichkeit? Es ist ein alter Gebrauch, der auch bei anderen europäischen Völkern vorkommt.

Die Männer tätowieren sich den Namen der Geliebten auf die Schulter, auf die Arme mit Nadelstichen und reiben diese dann mit einer ätzenden roten oder blauen Farbe ein. Eine solche Schrift ist dann unauslöschlich. Gewöhnlich sieht man da ein Paar Herzen mit einem Pfeil durchbohrt oder zwei Tauben oder die Bergarbeiterzeichen: Schlegel und Haue und darunter den Namen.

Von den Frauenzimmern ahmen nur diejenigen diesen Gebrauch nach, die nicht heiraten. Sie punktieren aber den Namen und die Zeichen nicht auf ihre Arme.

Zuweilen kommt es vor, daß die Betreffenden den Namen aus dem Album gern entfernen möchten. Auch das ist einfach; sie kleben ein Zugpflaster auf den ganzen Namen, und dann verschwindet die Schrift mitsamt dem Pergament. Es wächst eine neue Haut, und auf diese kann man einen neuen Namen tätowieren. Ein wahres Palimpsest.

Manche sind jedoch nicht so skrupulös. Sie punktieren den neuen Namen unter den alten und lassen das Register wachsen, bis alle leeren Stellen voll sind.

Es kostete Iwan keine große Mühe, zu finden was er suchte. Sowie die rußbedeckten Gestalten den Schmutz von ihren Schultern wuschen, fand er gleich an einem den Namen Evilas. Die Buchstaben waren blau, das doppelte Herz darüber war rot.

Es war einer der intelligentesten, fleißigsten Arbeiter. Er hieß Peter Saffran, bei seinen Kameraden aber führte er den Spitznamen: »der Menschenfresser«.

Iwan war dieser Mensch wegen seines eigentümlichen Benehmens längst aufgefallen.

Es war ein schweigsamer Mann, der nie mit jemandem zu zanken pflegte. Wenn man ihn neckte, verspottete, so tat er, als ob er nichts sähe, nichts hörte. Er klagte niemals über etwas und ging mit seinen Kameraden weder in die Kirche noch ins Wirtshaus.

Gegen Kinder hatte er eine besondere Antipathie. Sowie ihm ein Kind in die Nähe kam, jagte er es fort, blökte er die Zähne und warf ihm nach, was ihm eben in die Hand kam. Es fürchteten sich auch alle vor ihm. Die Frauen verbargen ihre Kinder, sobald sie ihn von weitem erblickten. Uebrigens konnte jeder gut mit ihm auskommen.

Iwan wußte nun, was er hatte wissen wollen, ging nach Hause und stellte sich vor die Türe, wartend, bis die Grubenarbeiter in Gruppen sich ins nächste Dorf zur Mittagsmesse begaben. Er sah auch Evila unter ihnen.

Er sah sie bereits mit kaltem Blut prüfend an, bei sich wissenschaftlich feststellend, daß der ganze Charakter dieses Gesichtes davon herrührt, daß es die Eigenheiten mehrerer Rassen in sich vereinigt. Solche Rassen gibt es nach Cuvier drei, nach Blumenbach fünf, nach Prichard sieben und nach Demoulius sechzehn.

Die vor uns befindliche Gestalt ist ein Gemisch von ural-altaischen mit aramäischen und kaukasischen Eigentümlichkeiten. Die kleinen Hände und Füße, der schlanke Wuchs, die schmale gewölbte Stirn, die gehobene feine Nase, das feine schwarze Haar deuten auf den indischen Typus; aber die aufgeworfene Oberlippe, die schlangenartig gewundenen Augenbrauen zeugen von slawisch-szythischer Abstammung; die brennenden großen schwarzen Augen sind eine aramäische Eigentümlichkeit; das Kinn und die Gesichtsfarbe erinnern an den malayischen Typus, und die Fähigkeit zu erröten ist ein Zeugnis der kaukasischen Abstammung. Nur diesem Stamm ist es gegeben zu erröten, und dies findet im Zellengewebe seine Erklärung.

So klügelte Iwan, als er Evila vor sich vorüberschreiten sah.

Und warum begleitet ihr Bräutigam sie nicht zur Kirche?

Der hat sich vor den Ventilationsofen der Grube hingesetzt und starrt, das Kinn auf beide Hände gestützt, in die Luft.

Iwan ging zu ihm hin.

»Guten Morgen, Peter!«

»Guten Morgen.«

»Was machst du da?«

»Ich höre den Wind, welcher von unter der Erde kommt.«

»Warum gehst du nicht in die Kirche?«

Der Arbeiter blickte zu seinem Herrn auf und antwortete: »Warum gehen denn Sie nicht in die Kirche?«

»Ich bin ein Protestant, und wir haben hier keine Kirche.«

»Sie werden also verdammt sein.«

»Wenn ich allein bin, bete ich.«

»Und ich bete niemals.«

»Warum nicht?«

»Weil ich niemand etwas zuleid tue und nicht stehle; und wenn es einen Gott gibt, so weiß er besser als ich, was mir gut ist.«

»Du hast unrecht, Peter! In dieser Sache ist ein großer Unterschied zwischen studierten Leuten und Kindern der Natur. Mich beruhigt in allen meinen Leiden, in allen meinen Zweifeln die Wissenschaft, das Nachdenken; in allen Versuchungen bewahrt mich der Verstand, die Voraussicht der Folgen; aber Menschen wie du sind anders. Wer keine anderen Kenntnisse besitzt, als die er sich bei seiner Arbeit gesammelt hat, der bedarf des Glaubens, der Hoffnung, des Trostes, der Vergebung.«

»Das alles kann mir der Pfaff nicht geben,« sprach der Arbeiter brummend, legte das Gesicht halb auf seine auf die Knie gestützten Arme und blickte in dieser Stellung wild auf Iwan.

Iwan setzte sich neben ihn auf den Balken und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Dir fehlt etwas, Peter.«

»So ist es.«

»Bedrückt dir etwas die Seele?«

»Meine Seele, meinen Leib, mein alles.«

»Ist es ein Geheimnis?«

»Es ist kein Geheimnis. Wenn Sie es hören wollen, so sage ich es Ihnen.«

»Ein Mord?«

»Mehr als das.«

»Ist es für dich nicht gefährlich, wenn du mir es mitteilst?«

»Ich kann es meinethalben mitten auf dem Markt erzählen; menschliche Gewalt kann mir deshalb nichts anhaben. Es wissen's genug Leute! Sie können es daher gewiß auch erfahren, wenn Sie sich mit so etwas abgeben wollen.«

»Laß hören.«

»Es ist eine kurze Geschichte. Als ich ein zwanzigjähriger Bursche war, ging ich aufs Meer, um mein Glück zu suchen; ich verdingte mich als Heizer auf ein Triester Dampfschiff. Wir gingen mit einer Mehlladung nach Brasilien. Unsere Fahrt dorthin war glücklich; bei der Rückfahrt luden wir Kaffee und Baumwolle. Diesseits des Aequators erfaßte uns ein Tornado, machte unsere Maschine unbrauchbar, brach unsere Mastbäume und schleuderte das Schiff auf eine Sandbank, wo es zugrunde ging. Ein Teil der Passagiere rettete sich auf einem kleinen Boot; sie kamen nicht weit, das Fahrzeug ging unter und sie ertranken. Der andere Teil machte sich aus Balken des gestrandeten Schiffes ein Floß und überließ sich auf demselben dem Meere. Auf diesem Floß war auch ich. Wir waren unser neununddreißig, darunter der Schiffskapitän, der Steuermann und ein junger Kaufmann aus Rio-Janeiro mit seiner Frau und einem dreijährigen Söhnchen. Mehr Frauen und Kinder waren nicht mit uns; denn die übrigen hatten sich alle zu ihrem Unglück in das Rettungsboot gedrängt. Doch nein! nicht zu ihrem Unglück! zu ihrem Glück! Sie hatten es bald überstanden. Von den neununddreißig haben sich nur neun gerettet. Ich wollte, ich wäre auch zugrunde gegangen!

»Acht Tage lang wurden wir mit dem Floß auf dem Meere hin und her geschleudert. Es zeigten sich Schiffe in unserem Gesichtskreis, die uns nicht bemerkten. Da trat Windstille ein, und wir waren unbeweglich, wie angenagelt an das offne Meer, ohne Tropfen Wasser, ohne Bissen Brot.

»Damals hatten wir schon zwei Tage lang nichts gegessen, und zehn von uns waren bereits Hungers gestorben.

»Auch der neunte Tag brachte keine Rettung; die Sonne schien glühend herab und das Wasser strahlte die Hitze zurück, so daß wir zwischen zwei Feuern schmachteten.

»Abends faßten wir den Beschluß, einen von uns aufzuopfern, das heißt, durch das Los zu bestimmen, welchen von uns die übrigen aufessen sollten. Wir warfen unsere Namen in einen Hut und überließen es der Unschuld, dem Kinde, das Los zu ziehen.

»Das Kind zog seinen eignen Namen heraus.

»Erlassen Sie mir es, Herr, zu erzählen, was hierauf folgte. Oft, wenn ich das Ganze durchträume bis zu dem Augenblick, wo die unglückliche Mutter uns alle verfluchte, daß wir nach dieser schrecklichen Mahlzeit niemals Ruhe finden sollen, springe ich von meinem Lager auf und laufe in den Wald und warte, wann ich denn schon in einen Wolf verwandelt werde. Es würde mir ja nur recht geschehen.

»Von den Teilnehmern an der verfluchten Mahlzeit blieben nur neun am Leben.

»Das drückt mich, das lebt, das brennt in mir fortwährend.

»Außer meinem eignen Blut kreist noch das Blut eines fremden Menschen in mir.

»Schreckliche Gedanken verfolgen mich. Am Tage des Jüngsten Gerichts wird ein Gerippe umhergehen und von siebenundzwanzig Menschen das ihm geraubte Fleisch zurückverlangen!

»Das Stück Menschenfleisch, das ich gegessen habe, hungert in mir!

»Ich verstehe die Wonne der Kannibalen! Ich kann kein rotwangiges Kind sehen, ohne daß es mir einfiele, welch ein guter Bissen diese runde Schulter wäre! Sehe ich aber ein bleiches, kränkliches Kind, so erfaßt mich Wut: wozu lebt das, könnte man es nicht gleich ...?«

Den Sprechenden verließ hier seine menschliche Stimme; nur die geöffneten Lippen, das Knirschen der Zähne, das Zucken des Kopfes zeigten an, was er mit wilder Gebärde sagen wollte.

Dann schauderte er und stand auf.

Er drückte beide Hände an die Brust und nach einer Weile seufzte er und sprach: »Sagen Sie jetzt, Herr, wo gibt es für dieses Leiden eine Kirche, eine Apotheke? wo einen Geistlichen, der mir Absolution erteilt, wo einen Doktor, der mir Heilung verschafft? Ich habe es dem Geistlichen gesagt, und der hat mir aufgetragen, zu fasten, mich zu kasteien; ich habe es dem Doktor geklagt, und der hat mir geraten, keinen Branntwein zu trinken und mich schröpfen zu lassen. Das alles taugt nichts und macht die Sache nur um so schlimmer.«

»Ich will dir etwas raten!« sagte Iwan, »heirate.«

Saffran blickte überrascht auf seinen Herrn, und der schwache Schimmer eines Lächeln glitt über sein Gesicht.

»Ich habe schon selber daran gedacht. Vielleicht, wenn ich eigne Kinder hätte, würde dieser Abscheu vor Kindern verschwinden.«

»Warum tust du's also nicht?«

»Weil ich ein armer Teufel bin. Wenn aus zwei Bettlern ein Paar wird, so sind beide doppelte Bettler. Erst muß man zu leben haben.«

»Das kommt schon. Du bist ein fleißiger, verständiger Arbeiter. Ich habe dich schon längst zum Grubenburschen befördern wollen; ich wartete nur, bis du heiratest. Es ist bei mir Prinzip, daß ich nur Verheiratete zu besser bezahlten Stellen verwende. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß wenn ich unverheirateten Burschen eine bessere Bezahlung gebe, sie gewöhnlich nur liederlich werden. Auf einen verheirateten Arbeiter kann man sich besser verlassen. Sie lassen ihren Platz auch nicht so leicht im Stich. Also überlege dir die Sache. Nach dem ersten Sonntag, an welchem du mir anzeigst, daß man dich heute in der Kirche mit deiner Braut verkündigen wird, fängst du gleich an als Grubenbursche zu arbeiten und bekommst ein besonderes Haus zur Wohnung.«

Ueber die Wange des Arbeiters rann eine Träne. Er fiel Iwan zu Füßen, umfaßte dessen Knie, schluchzte und stammelte unzusammenhängende Laute.

»Nun? also?« sprach Iwan mit freundlicher Aufmunterung. »Auch heute ist ein Sonntag, fällt dir da nichts ein?«

Der Arbeiter sprang auf und wischte sich die Tränen aus den Augen, als ob er klar sehen wollte, was ihm wirr im Kopf herumging.

Iwan half ihm.

»Der Gottesdienst hat noch nicht angefangen, die Leute sind noch auf dem Wege zur Kirche, wenn du sehr eilst, so kannst du sie noch vor der Kirchentüre einholen und sowohl mit deiner Braut als auch mit dem Geistlichen sprechen.«

Der Arbeiter sagte nichts, sondern fing an zu laufen, und nicht auf der Straße, sondern geradeswegs in der Richtung nach dem Turm. Er vergaß selbst den Hut; Iwan mußte diesen nach Hause mitnehmen, damit er nicht verloren gehe.

Iwan sah dem Laufenden nach, bis dieser durch die Krümmung des Tals seinen Augen entzogen wurde.

Wie glücklich ist er!

Dann kehrte er in seine Wohnung zurück. Er schrieb in sein Geschäftsbuch, daß Peter Saffran vom künftigen Montag angefangen die Bezahlung eines Grubenburschen erhält, und daß anstatt seiner ein anderer Tagwerker aufzunehmen sei. Nun, bist du mit mir zufrieden, fragte ihn sein Herz, du grausamer Herr?

Iwan aber war mißtrauisch und sagte zu seinem Herzen: Ich glaube dir nicht, seitdem du mich hast aufs Eis führen wollen. Von nun an werde ich auf dich acht geben. Wer weiß, ob du jetzt nicht daran denkst, daß das Mädchen auch als junge Frau schön sein, und nicht so teuer und unzugänglich sein werde. Doch mich betrügst du nicht mehr – warte nur!

Dann holte sich Iwan wieder Rat bei seinem Geschäftsbuch und fand, daß die Steigerung der heurigen Einnahme ihm gestatte, einen Grubenaufseher mit fünfzehnhundert Gulden Gehalt anzustellen.

Er schrieb sogleich die betreffende Anzeige und schickte sie einigen ausländischen deutschen und französischen Blättern als Inserat.

Auf diese Art wird er nicht mehr täglich mit seinen Arbeitern in Berührung kommen.


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