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Um dieselbe Zeit fing man mit der »Regulierung« der Branderau an, die an Lohe vorbeifließt. Sie ist gar kein so ganz unbedeutendes Gewässer. Was sie im Höhenland gesammelt hat, führt sie dicht bei Lohfelderkamp ins Tiefland hinab. Erst glucksen noch kleine Strudel auf, dann wird der Lauf ruhig und immer ruhiger. Und in blanker, gemächlicher Breite des Schilf- und Binsenbetts wandelt sie durch Wiesen, den Hauptstrom des Landes zu suchen.
Genau ausgedrückt, galt das von der Branderau vor der Gradelegung und vor dem Schleusenbau an der Ausmündung in den großen Strom. Weich und ruhig gewunden war sie, und scheinbar auch sanft und unschuldsvoll. Bei trockener Zeit war sie es wirklich, anders aber nach nassen, stürmischen Tagen. Denn da trat sie aus den Ufern und nahm den Fleiß des Bauern und den Segen der Natur hinweg.
Dem Zustand hat der Schleusenbau ein Ende gemacht, der Branderau hat man die kühnsten und schönsten Windungen weggenommen, und mit den Windungen den Saum von Ried und Rohr. Wo früher darin ein guter Wind melodische Wellen bis zur Mündung rollte, fließt der blanke Strom jetzt in nüchterner Linie, in tückischem Schweigen daher. Er hat Deiche erhalten, deren Erde zum Teil der aufsteigende Uferrand der Kämpe hergeben mußte, zieht daher nun auch bei rauher Zeit, wie geschwollen und unwirsch er dann auch tut, zwischen Wällen und Dämmen die gerade Straße bin.
Wenn man von Lohfelderkamp über die großen Steinfindlinge hinweg, die durch die Wegnahme der Deicherde bloßgelegt sind, nach Westen sieht, dann starrt über und hinter dem Wiesenplan ein öder, schwarzer Strich auf, dahinter dehnt sich die Fläche des Bilsener Moors. Bei reiner Luft und blauem Duft sieht man am Rand ein emporstrebendes Ding, ein Etwas, bei stimmender Helle von verwaschenen Formen. Es ist das Joch einer Zugbrücke, Überrest aus der Zeit, wo noch keine Schleuse war. Von dem Brückenjoch eine schmale Linie dem Mittag entgegen am Moorrand vorbei. Das ist der Sommerdeich, auf dessen Krone ein Fußsteig nach der großen Landstraße über den Hof Reiherwisch führt.
Ein Mensch, ein Mann auf diesem Pfad gegen den Abendhimmel gesehen, ein Bauersmann, ein Arbeitsmann, der auf dem großen einsamen Moor Torf gegraben hat und nun dahin geht, wo die Herdflamme glüht, nach seinem Heim, wo Weib und Kind seiner harren.
Es ist ein Mensch nüchterner Prosa, wenn Verstand und Vernunft es wollen. Aber ein Heiliger, ein Überirdischer, ein Verklärter, einer, vor dem die Tore der Ewigkeit klingend aufspringen, wenn der warme Strom deines Gemüts es will.
Daniel Dark kann nicht Bilder kann nicht Worte finden für das, was er fühlt; um so tiefer tastet und stammelt er die Empfindung in sich hinein.
»Hier ist es aber einsam« sagte Daniel Dark zu dem Reisemeister Klaus Frahm; da waren sie auf dem Damm mitten in dem großen Bilsener Moor.
Wenn man von Lohfelderkamp über das Brückenjoch nach Westen schaut, reckt sich in der Ferne, einem langen Sargdeckel vergleichbar, ein schwarzer Rand auf. Das ist das steil abfallende Ufer des bald hinter der Schleuse beginnenden großen Bilsener Moors.
Der Reisemeister und Daniel Dark waren zusammen. Vollborn hatte sich zur Ruhe gesetzt, ein Nachfolger im Lehramt war noch nicht ernannt: inzwischen verwaltete der Reisemeister, wie in Aussicht genommen worden war, die Stelle.
Daniel war eigentlich kein Knabe mehr, der Lehrer zog den frühreifen, nachdenklichen, in die Dorfschule nicht mehr passenden Jüngling zu sich heran. Aus ihm hörte er den Wiederklang eigener Jugendtage, die er für glückliche hielt; auf einsamen Spaziergängen war er mehr ein älterer Kamerad als der Lehrer von Daniel Dark.
»Hier ist es aber einsam«, hatte Daniel Dark gesagt. Und er hatte recht. Der schwarze Grund des überall federnden, überall wassersüchtigen Moors, Gruben und Gräben und Fährlichkeiten überall, die graubraune Decke der Sumpfheide, in den Nebelschauern des Herbstes alles Blühen und Wachsen verleugnend, für jedes Auge, das die spröde Kruste der Erscheinung nicht zu durchbrechen versteht, einförmig, niederdrückend, trostlos, Verzweiflung herausfordernd.
Daniel hatte recht – es war einsam im Moor. Was sie umgab, schrie förmlich nach Hilfe vor dem Alleinsein.
»Hier ist es einsam.«
»Meinst du?« erwiderte der Reisemeister. »Und es ist wohl so. Aber die richtige, die eigentliche, die tiefste, die schrecklichste Einsamkeit ist es nicht.«
Daniel sah ihn fragend an.
»Ich spreche von dem ganz und allein auf sich Gestelltsein eines Menschen und von seinem Wissen darum, dabei millionenfach verstärkt durch den Resonanzboden der Natur. – Freilich«, setzte er hinzu, »an die Einsamkeit, die Faust auf dem Weg zu den Müttern fand, reicht auch das nicht hinan. Aber das wollen wir ausschalten, das ist zu hoch für dich und vielleicht auch für mich.«
Für einen Augenblick schwieg der Sprecher. Dann sagte er: »Das um uns her – ja, es ist Einsamkeit. Sonne dahin die Tagestiere der Wildnis zur Ruhe, das Nachtgetier sich noch nicht aus seinen Höhlen und Winkeln getrauend – einzig in der Ferne ein Strich Wandergänse – von Sibirien herkommend, bei uns offenes Wasser suchend – gick – gack – a – ai – gick-gack – ai –. Im Röhricht kaum ein Rauschen, und alles öde und grau und greis – die Natur ringsum kalt und fühllos, du und ich ihren lieblosen Gesetzen überantwortet. Das ist Einsamkeit, meinen wir und ich wiederhole: wir haben recht.
Und doch haben wir unrecht. Wir sind, wenn wir das sagen, Schauspieler vor uns selbst. Denn unsere Furcht, unser Entsetzen, unsere Beklemmung ist eingebildet, vorgestellt, wenn man will: erheuchelt.
Wenn ich frage: »Daniel, hast du Furcht?« Dann sagst du: Nein. Und ich frage weiter: Warum nicht? Dann sagst du: Warum sollte ich Angst und Furcht haben? Ich bin bei meinem Lehrer und er ist bei mir. Wir haben gesunde Glieder, es bedarf nur unseres Entschlusses, und unsere Füße tragen uns zurück nach Lohfelderkamp und Lohe, nach den Stätten, wo unser Heim ist. Was uns hier an unserm Alleinsein reizt und rührt, ist im Grunde ein Genuß, eine Freude, meinetwegen eine ideale, aber eine Freude, Hervorhebung einer von uns begünstigten Idee, die wir mit dem Schwert umgürten, damit sie für diese Stunde alle anderen unterjoche. Man nennt das »phantasieren«. Vielleicht ist gar ein bißchen Flügelschlag des Himmelsboten dabei, den man »Poesie« heißt.«
In solchem Ton sprach Klaus Frahm. Daniel verstand ihn wohl nicht im letzten Grunde, ahnte aber doch den Sinn seiner Rede, und das Wort: »Weißt du wirklich, was Einsamkeit ist?« hallte in ihm nach. Da wagte er die Frage: »Herr Lehrer, haben Sie einmal die Einsamkeit kennen gelernt, die die eigentliche ist?«
»Ich habe«, entgegnete der Angeredete. Er sah dabei scharf durch seine Brille nach einem Strauche, der sich vor ihm auf dem Moordamm erhob.
»Ich habe«, wiederholte der Reisemeister: »Und wenn das Ding, das vor uns steht, eine Weide ist, dann ist es der rechte Ort, dir zu erzählen.«
Es war eine Weide, Daniel Darks junge Augen hatten das gleich erkannt. Wenige Minuten auf dem schmalen Moorboden, dann standen sie vor ihr und legten Hand an Ast und Zweig.
»Es ist die richtige Art«, sagte Klaus Frahm, »die, der ich in Freundschaft verbunden bin. Sicherlich frei aus der Hand der Natur gesät, ein Samenstäubchen, das der Wind verwehte. Einst mag sich ihr Fuß im Tümpel gebadet haben, es mögen Zeiten kommen, wo sie es wieder tut, jetzt steht sie auf trockenem und einigermaßen festem Boden. Ein wunderlich gewundener Stamm, dicht über dem Boden die heilige Dreiteilung, für müde einsame Menschenkinder gleichsam freundliche Einladung, Sitz und Ruhe zu suchen. Weiche, kosende Wipfel und Blätter und Zweige, alles wie bei meinem Kameraden.«
Und er erzählte:
»Es war in der Gegend eines großen Stromes« (Klaus Frahm nannte ihn), »dessen Ufer vor der Mündung von großen wilden Mooren aufgequollen sind. Es war im Herbst, die Tage im Abnehmen, den sonnigen, hellen Horizont verschleierte ein feiner Dunst. Auf dem höher gelegenen Hügel und Sandland hatte ich ein Dorf passiert und sah über ein scheinbar nicht sehr breites Sumpf- und Moorland ein anderes, dessen Turmspitze wie ein feiner Stab herwinkte Nach meinem ursprünglichen Plan wollte ich dort, wo ich war, übernachten. Aber ich maß die Tageszeit und maß die Breite des Moors und traute mir zu, vor Abend die Wildnis zu überschreiten.
Aber als ich mit Rucksack und Stab den Weg zum Moor hinabstieg, rief mich ein alter Mann an, der, seinen Torfspaten auf der Achsel, mir entgegenkam. »Wohin des Wegs?« Ich gab ihm Bescheid, wir kamen in ein Gespräch.
Er warnte mich. Es sei viel weiter, als es scheine, der Blick über die Ebene täusche. Ich würde den Ort nicht erreichen, im günstigsten Fall die Nacht im Moor zubringen müssen. Es könne aber auch anders kommen, das Moor rede nicht nur von einem Verirrten und Ertrunkenen.
Ob denn keine Wegweiser da seien?
Ja, es seien ein paar hingesetzt, aber die taugten nur für Tageslicht. »Wenn Sie«, sagte er, »den Rat eines alten Mannes hören wollen, dann lassen Sie ab von dem Plan.«
Ich kann nicht sagen, daß die Worte des Wohlmeinenden an meinem Ohr vorbeigingen. Aber es kam mir vor, als müßte ich mich schämen, wenn ich die paar Minuten zurückginge nach dem Dorf, das ich soeben verlassen hatte. Und dabei das Gefühl der Jugend, die sich so gerne einredet bei dem lieben Gott Anspruch auf eine Extrawurst zu haben, unserem eitlen Ich zuliebe die Naturgesetze auszuschalten. So blieb ich bei meinem Vorhaben, dankte dem Wohlmeinenden und – ging hinab ins Moor.
Es kam, wie der Mann gesagt hatte, die Dunkelheit überraschte mich, ich mußte die Nacht im Moore zubringen.
Du siehst, mein Junge, daß ich nicht ertrunken bin. Vielleicht bin ich nur deshalb vor dem Sterben behütet worden, um dir zu sagen: Es ist schrecklich, eine lange Nacht hindurch allein in einer Umgebung zu sein, wie diese hier«, (die Hand des Erzählers beschrieb einen Halbkreis) »den glucksenden und gähnenden Tod zur Linken, und – zur Rechten Graben und Gruft.
Als ich am frühen Morgen zum Dorf, das mein Ziel gewesen war, hinaufstieg, bildete sich um mich ein freier Raum der Achtung, des Staunens, als sei ich ein Wundertier. »Er ist die Nacht im Moor gewesen, der Herr des Himmels hat seine Hand über ihn gehalten, er lebt, er ist nicht im grundlosen Schlamm versunken, nicht ertrunken, ist nicht erstickt wie so viele.«
Im Dorf wohnten zwei Leute, denen es ebenso ergangen war wie mir. Der eine war immer ein bißchen wunderlich und absonderlich gewesen, seit der Nacht im Moor aber ganz dusselig; der andere, früher umgänglich und beredt, war ein stiller Mann geworden, über die Abenteuer der Nacht verlor er nie ein Wort.
Sieh dich um, Daniel, Graben hier und Graben dort, Moorkuhle hier und Moorkuhle dort: Wer hineintappt, und wäre er auch der beste Schwimmer, den läßt es nicht wieder.
Und dunkle Nacht, die Hand vor Augen kaum zu sehen, Weg und Steg unbekannt. Kein Vorwärts, kein Zurück, der Weggrund weich und feucht, nicht zum Stehen, nicht zum Liegen, und bis zum Morgengrauen viele Stunden.
Ich sprach vorher davon, daß wir gewisse Ideen mit dem Schwert umgürten, damit sie die anderen umbringen. So lange es noch hell war, hatte ich meine Rüstkammer geleert, um das Unrecht festzustellen, das dem armen Moor angetan werde. Im Dunkel der Nacht erging es mir aber wie Goethes Zauberlehrling; die von mir gerufenen Geister wurde ich nicht los, ich hatte das Wort vergessen, das sie wieder zu Besen macht.
Und da geschah das Fürchterliche, da vernahm ich mit wirklichen Sinnen, was sonst in unserem Empfinden nur innerlich mitschwingt. Mit eigenen Ohren habe ich es gehört.
Es machte nicht viel aus, ob ich es hören wollte oder nicht, ich hörte das Umgnadeflehen des verlassenen Moors, des vor so vielen anderen Landschaften in die Finsternis verstoßenen, wo Heulen und Zähneknirschen, das Jammergeschrei einer unglücklichen Natur vor dem Herrn in der Höhe. Und es machte nicht viel aus, ob ich die Augen schloß oder öffnete, immer und immer sah ich das, was sonst unseren Augen verschlossen ist, Hände – in Verzweiflung emporgerungene Hände bis an der Welt Ende – bis zum Himmelsrand – emporgestreckt zum Himmelstor, wo der Ewige sitzt und die Wage über dem Erdball hält.
Ich wäre wahnsinnig geworden, wenn ich nicht einen Freund, einen Kameraden in diesem fürchterlichen Alleinsein gefunden hätte. Es war einer, wie dieser hier«, sagte der Sprecher und legte die Hand an den Stamm der Weide. »Ich wäre wahnsinnig geworden, wenn ich den nicht gefunden hätte.
Ich hatte um Hilfe geschrien, es war verhallt, aus allen Kräften hatte ich das Jammern der ausgestoßenen Natur zu übertönen versucht – es war verweht wie Wind in der Wüste. Da sah ich durch die Dunkelheit den Schimmer einer Wolke vom Boden aufsteigen.
Was ist es? Ein Tier? – Ich weiß nicht, es ist etwas, ein Ding ist es, das ich nicht deuten kann.
Will es mich verschlingen? Mich in den Sumpf hinabziehen? Wohlan – auch das ist Zuflucht vor dem, was mich bedrängt.
Ich gehe, ich stolpere ein paar Schritte dem Ungeheuer entgegen ... Da ... da ... hielt ich die Zweige, hielt Ast und Stamm meines Freundes.
Es war eine Weide – ich war gerettet vor der unheimlichen Gabe, zu hören und zu verstehen, was die Natur den Menschen verbirgt, ihr Klagelied vor dem Thron des Ewigen.
Und gerettet war ich, weil ich nicht mehr allein war, nicht mehr einsam im Moor, weil ich einen Freund und Kameraden hatte.
Mir war, als hörte ich weiche, tröstende Worte aus dem Gezweig. ›Ich bin bei dir‹, sagte die Weide, ›wir bleiben zusammen, bis der Morgen graut. Tritt nur herein in mein Zelt, ruhe dich aus auf dem Dreifuß meines Stammes. Ich schütze dich und hüte dich, ja, vielleicht rauscht meine Krone dir noch ein kleines Lied zum Schlummer und zum Traum.‹
Meine Weide war, darauf schwöre ich, ein lebendes Wesen. Bis zur Morgenröte ruhte und wohnte ich in ihrem Gezelt in dem Gefühl der Geborgenheit und der Ruhe. Mein stürmendes Blut ergoß sich in ihre Adern, und es erwärmten sich Stamm und Zweig.«
Der Reisemeister wandte sich zum Gehen. »Nicht wahr, Daniel, wir wandern heim. Dämmerung senkt sich auf Wiese und Moor, und sich von eigenen Ideen totschlagen zu lassen, lohnt nicht. Das lehrte mich die Nacht im Moor.«
Klaus Frahm stand still und sah seinem Schüler voll in die Augen: »Hast mal erlebt, Daniel, daß sonst tote Dinge um dich her Gestalt und Stimmen annehmen, mit dir zu reden?«
»Das nicht«, antwortete Daniel, setzte aber gleich hinzu: »Und doch wohl.« Und erzählte sein Gesicht vom See Genezareth.
Der Reisemeister hatte daran herzliche Freude. »Deinen See Genezareth«, sagte er, »den und seine Wogen laß nur immer rauschen und plantschen, das halte fest! Und vor allen Dingen den über den Wassern schreitenden Herrgott mit seinem »Es war nicht so schlimm«. Es liegt etwas Tröstliches darin, vielleicht auch die tiefere und wirkliche Wahrheit. Und zu allermeist: bewahre in deinem Herzen den Gott, der nach den Sternen weist!«