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Elysium lag in einer Seitengasse, wo die Straßenbeleuchtung spärlich war. Sie hätte heute, wenn der Mond auch erst nach Mitternacht im Kalender stand, vielleicht ganz gespart werden können, denn der im Elysium geleugnete Herr der Welten hatte seine schönste Sternenhalle über Gläubige und Ungläubige gewölbt. Im feuchten Flußtal der großen Stadt hatte ein leichter Regen die Luft gewaschen, das Pflaster war noch feucht, und die Lichter des Himmels und der Erde wiederglänzten darin. Himmel und Luft von erquickender Reinheit und Zartheit. Harro Horstens Schritt hallte in der Gasse nach. So einsam war es. Ein zweiter trottete hinter ihm her, das Gefühl des Alleinseins wurde dadurch nur vertieft. Die Wände nahmen Schritt und Tritt auf, auch das war lebendige Veranschaulichung der Einsamkeit.
An der Ecke, wo die Elysiumsgasse in die große Verkehrsstraße fiel, kam es rascher, wie um ihn einzuholen. Das war denn auch wirklich der Fall, eine Stimme rief ihn sogar an. Harro wendete sich, er sah im Lampenlicht einen alten, hageren, ärmlich gekleideten Mann.
»Verzeihen Sie«, sprach der Fremde, »daß ich Sie aufhalte, aber ich muß Ihnen danken.«
»Mit wem habe ich die Ehre?«
Darauf die Antwort: »Mein Name tut nichts zur Sache, ich will nur danken, danken muß ich. Ich war im Elysium. Mir werden Ihre Worte nicht nur ein schwaches Rohr, sie werden mir ein starker Stab sein, eine Stütze, die ich nicht wieder aus der Hand lege.«
Und er erzählte seine Geschichte – eine Alltagsgeschichte, weil sie öfter vorkommt, eine traurige für den, der sie am eigenen Leibe erfährt. Er war in guten Verhältnissen groß geworden, aber (nicht ohne eigene Schuld) wirtschaftlich und sittlich heruntergekommen und nun ein armer Mann, im Tiefstande irdischer Not, glücklicherweise aber auch im Beginn sittlichen Sichwiederfindens, da er angefangen hatte, an die eigene Brust zu schlagen. – Schon lange hatte er geglaubt, das Leben nicht länger ertragen zu können, hatte beschlossen, nach dem Elysium zu gehen, zu sehen und zu hören, ob es wahr sei, was die Welt sage, daß alles Lug und Trug, das mit dem Glauben an Gott und an Gottes Güte. Und bei dem Vortrag des Propheten hatte er gedacht: ›Es ist so. Hänge dir einen Stein um den Hals und ersäufe dich im Fluß, wo er am tiefsten ist.‹
»Aber da kamen Sie mit Ihrem herrlichen Wort, mit Ihrem Gottvertrauen. Nun bin ich gerettet, nun bin ich entschlossen, geduldig hinzunehmen, was kommt, und so glücklich zu sein, wie ich werden kann. Ich muß Ihnen danken.« Und er ergriff beide Hände von Harro und bedeckte sie mit Küssen.
Harro bot ein Goldstück, aber das wies der Mann lebhaft zurück. »Es würde das Andenken an diese Stunde verunreinigen. Sie müßten annehmen, daß es schließlich doch auf eine Bettelei abgesehen gewesen sei. Auch jetzt sage ich Ihnen nicht Namen und Wohnung. Das Bewußtsein, eine Seele gerettet zu haben, soll Ihnen rein erhalten bleiben. Ich will auch nicht wissen, wer Sie sind.«
*
Die Erlebnisse des Abends hatten Harro erregt. Er fürchtete, nicht gleich schlafen zu können, suchte daher ein Kaffeehaus auf und vertiefte sich in die Tageszeitungen. Es war nicht mehr früh, als er vor seiner Herberge anlangte.
Die nannte sich noch immer nicht ›Hotel‹, sondern ›Gasthof‹, ›Gasthof zur Sonne,‹ sah alt und konservativ aus, und war es auch. Zentralheizung, Fahrstuhl – unbekannte Dinge, aber elektrische Beleuchtung, die hatte man angelegt.
Harro mußte den Hausdiener herausklingeln, das Haus schlief in allen Ecken und Winkeln.
Eine Kurbelbewegung, und Flur und Treppe waren hell erleuchtet. »Ich warte«, sagte der Hausgeist, »bis Ihre Türe geht, dann drehe ich aus. Da haben Sies überall hell.«
Und es war gut, daß es überall hell war. Denn selbst im Hellen begegnete dem Professor etwas Wunderliches. Als er die Treppe hinaufstieg, war ihm, als ob ein Schatten neben ihm und mit ihm die Stufen nehme.
Und ganz sonderbar – ein Schatten, den er nicht mit Augen, sondern nur mit seinen Gedanken wahrnahm. Und in diesem nicht mit Sinnen sondern nur in Gedanken wahrgenommenen Schatten tauchten je und je die Züge eines ihm bekannten Antlitzes auf – harte, gemeißelte Linien, trotzige Augen, hochgewölbte Brauen ... Nur in Gedanken ... Gesehen hatte er nichts, hatte es aber im Gefühl, daß neben ihm ein Mensch, ein Schatten, der trotzige Augen und hochgewölbte Brauen habe, die Treppe hinaufgehe.
Auf dem Treppenpodest wandte Harro sich rasch dahin, wo er es neben sich spürte. Aber es war niemand da. Seine Augen starrten in die leere Helle. Wie er aber weiter ging, war es wieder neben ihm. Wieder kehrte er sich scharf dahin um und wieder war nichts zu sehen.
So ging es einen langen Gang bis zu seiner Zimmernummer, der Gang in voller Ausdehnung erleuchtet, Harro aber fühlte bei jedem Schritt neben sich den unsichtbaren Begleiter. Einmal, zweimal stand er still, er hatte Atemzüge gehört, richtige Atemzüge ... tiefe, pfeifende. Früher hatte er einen gekannt, der so atmete, wenn ihn etwas drückte oder erregte. Das war sein Vater. Bei ihrer letzten Unterredung hatte er es auch getan. Damals, als ihn noch der Zorn beherrscht hatte, noch nicht die unnatürliche eisige Ruhe über ihn gekommen war.
Und wieder stand Harro still und sah sich um. Alles Körperliche, Gegenständliche sah er: das braunrote Gewebe des hingebreiteten Läufers, die von den schlafenden Gästen vor die Zimmertüren gestellten Stiefel und Schuhe, die zum Reinigen hingehängten Kleider, die Ziffern der Stubennummern – alles sah er, nur nicht die Ursache dessen, wonach er suchte.
Er betrat sein Zimmer, und in demselben Augenblick erlosch die Beleuchtung im Gang. Harro drehte die Stubenflammen auf. Der Raum war leer. Er untersuchte alles, die Ecken, die Erker, die Schränke, sah unters Bett. Alles leer und unverdächtig. Er war allein im Zimmer. Und doch verließ ihn nicht das Gefühl, daß jemand bei ihm sei und nur auf den Augenblick warte, wo er das, was sie nach noch unbekannten Gesetzen schied, durchbrechen dürfe.
Darüber kam er in eine wunderliche Stimmung, in der sein Gleichmut, den er als die Grundlage aller seelischen Gesundheit ansah, ins Wanken geriet. Und er sann auf Mittel, sich davon zu befreien.
Auf dem Schreibtisch standen Bücher, darunter Jens Peter Jacobsen – nun wußte er sich geborgen. Die Blätter fielen bei ›Frau Föns‹ auseinander.
Er legte sich aufs Bett und las ›Frau Föns‹, diese so traurige und doch so unendlich beruhigende, uns wie mit weicher Frauenhand liebkosende Geschichte, die Geschichte der nie versiegenden Mutterliebe. Ja, was gehts den, dem man seine Liebe schenkt, denn auch groß an? – Und als er gelesen hatte, legte er das Buch weg, drehte die Flamme aus und räkelte sich unter die Decke ...
Er versuchte einzuschlafen, es gelang aber nicht gleich. Er hatte versäumt, die Rolläden des Eckfensters herunterzulassen. Der Mond war über die Dächer gestiegen und schien herein, an seinem Bett vorbei auf die Tapetenwand. Und auch der Schatten von Fensterrahmen und Vorhängen fiel darauf. Und immer war ihm, als ringe etwas ihm Unbekanntes mit dem Mond ... Ja, der Mond und sein in diesem Zimmer fremdes Licht, das fühlte er, das mußte weg, eher würde er nicht schlafen. Er stand auf, sperrte es ab, nun lag er in angenehmer Dämmerung. Nun mußte der Schlaf kommen.
Er schlief auch wirklich ... Ziemlich lange.
Wenigstens hatte er den Eindruck, recht lange geschlafen zu haben. Aber dann wachte er mit einer Art Ruck auf ... Er war beim Namen gerufen worden ... »Harro, komm!« ... Und noch einmal: »Harro, komm!«
Er richtete sich auf und sah – sah einen Schatten wie eines Mannes Gestalt und Angesicht – zu seinen Füßen am Bett ... Und der Schatten breitete seine Arme aus und sagte: »Harro, mein Sohn, komm!«
»Ja, Vater!«
Bei dem Laut von Harros Stimme verschwand die Erscheinung, der Schläfer saß aufrecht im Bett – der Mond lag noch immer auf den Rolläden.
›War es ein Traum? oder mehr – war es der Ruf eines Vaters nach seinem Sohn? Ich will es dafür nehmen!‹