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In Daniel Dark verstärkte sich die Kreiselbewegung. Er wollte die Wohnung der Tante aufsuchen, ging aber noch längere Zeit auf der an ihrem Hause vorüberführenden Chaussee auf und ab. Und als er die Richtung wieder nach dem Kirchdorf einschlug, stieß er auf eine Gruppe Marktgäste, diese im Gespräch mit einem jungen Mädchen, das an sie herangetreten war. Er hörte, wie das Mädchen sich nach dem Hause der Frau Martens, die hier an der Straße wohnen solle, erkundigte. Die Erfragte war seine Tante, er trat deshalb heran, um Auskunft zu geben, und stand – Helene Springe gegenüber.
Seit dem Abenteuer hinter dem Weidenbaum hatte er sie so unmittelbar vor sich überhaupt nicht wiedergesehen. Und es war Mondlicht und dämmernde, webende Helle. Das verstärkte noch den Eindruck. Und der Zauber ihrer Person legte sich auf seine Seele und auf sein Herz. Selbst im Mondlicht sah er, sie war größer geworden, ein zum Geben wie zum Empfangen leidenschaftlicher Liebe reifes Menschenkind, und noch immer sah er den überirdischen Zug einer über die Wogenkämme des Tages hinwegschreitenden Gestalt. So schien es ihm; freilich, wären Licht und Helle nicht so trügerisch gewesen, hätte er sich nicht so gern in Selbstbetrug eingelullt, dann hätte er auch anderes gesehen, hätte in ihren Zügen, in ihrem Blick auch irdische Schwere wahrgenommen, den Ausdruck eines Wesens, das nicht besser und edler sein wollte, es auch nicht war, als die anderen, die sich vom Strom des Lebens treiben lassen. Schließlich sah er auch davon ein Teil, aber er verschloß seelisch davor die Augen.
»Daniel«, sagte sie.
»Lene!« antwortete er.
»Es ist lange her«, sagte sie.
»Ja«, entgegnete Daniel.
»Seit der Konfirmation nicht mehr«, bemerkte Helene.
»Doch, ich habe dich mal auf dem Tanzboden gesehen.«
»Wann?«
»Im Frühjahr!«
»Da weiß ich nichts von.«
»Nein, du sahst mich nicht, ich blieb auf der Galerie.«
»Warum kamst du nicht zu mir?«
»Du hattest zu viele.«
Die Marktgäste, die Helene befragt hatte, waren weitergegangen, die jungen Menschen standen allein beieinander und schwiegen eine Weile.
»Was wolltest du bei Tante?« fragte Daniel.
»Dich suchen.«
»Und warum?«
»Ich wollte dich bitten, nicht zu uns zu kommen nach Reiherwisch.«
»Du willst mich da nicht haben?«
»Nein.«
»Das heißt, dein Bräutigam will es nicht.«
»Ich habe keinen Bräutigam.«
»Nicht Julius Kirchner?«
»Nein.«
»Hast dich mit ihm erzürnt?«
»Ja, und ich werde mich nie mehr mit ihm vertragen.«
»Du magst ihn nicht mehr?«
»Hab ihn nie gemocht.«
»Weshalb wolltest du ihn denn heiraten?«
»Weil die Tanten und die Kirchners mich überredeten und weil der, den ich lieber hatte, sich nicht um mich kümmerte.«
»Und wer war das?«
»Du!«
Er hatte es im Lindenweg bereits gehört, ohne daß er es hatte hören sollen, nun sagte sie es ihm selbst, sagte ihm, daß sie ihn lieber habe als Julius Kirchner, überhaupt lieber als alle anderen Menschen, nun wußte er, daß sein Gebet, seine Beschwerde, seine Klage hinauf bis zu dem Ewigen gedrungen war. ›Auch ich bin dein Sohn‹, hatte er gefordert, ›ich lasse dich nicht, auch mir bist du die Stunde schuldig, die ich in fremder Seele erleben durfte, ich harre ihrer.‹ Nun war sie da, die Stunde. Und er erschauerte ob der Güte des Schöpfers.
»Ja dich, dummer Daniel Dark, dich allein habe ich lieb, dich immer lieb gehabt«, wiederholte Helene Springe.
»Und deshalb lässest du Julius Kirchner?«
»Ja und nein, ich glaube, den hätte ich auch ohne dich laufen lassen.«
Inmitten der Freude stieg ein Verdacht in Daniel auf. »Ich muß dich was fragen, Lene«, sagte er.
»Sprich!« antwortete sie.
»Wenn Julius Kirchner zur Bedingung gemacht hätte, daß ich nicht zu euch käme, und du mich nur deshalb bätest, nicht nach Reiherwisch zu gehen ...«
Helene Springe sah ihn erst verdutzt an, dann lachte sie, und selbst bei Mondschein war es ein reizendes Lächeln; er fühlte den warmen Strahl ihrer Augen.
»Da redest du etwas, wovon dein Herz nichts weiß. Ja. es ist wahr, er hat so was hergeredet, aber das ist einerlei, denn mit mir und mit ihm ist es aus. Nein, so falsch, so hinterlistig bin ich nicht.«
»Dann sag mir noch das: wenn du mich lieb hast, weshalb soll ich denn nicht zu euch kommen nach Reiherwisch?«
»Weil ich dich und mich nicht in Versuchung bringen will, weil wir nicht zueinander passen, weil du viel zu gut für Reiherwisch und auch viel zu gut für mich bist.«
Das war das, was Daniel Dark sich selbst eingeredet hatte, um sich gleich darauf wieder wegen seines Hochmuts auszuschelten. Nun sagte sie es selbst. Sie hatte es schon im Lindenweg gesagt, aber da durfte er annehmen, daß es nur halb im Ernst gemeint sei. Nun sagte sie es ihm selbst mit aufrichtigem Herzen.
»Wie meinst du das, Lene?« fragte er.
»Mich will ich nicht schlechter machen, als ich bin«, entgegnete sie, »aber du bist so ganz anders als all die andern jungen Leute auf dem Lande. Mich will ich nicht schlecht machen, aus bösem Willen tue ich niemand was zu Leide, aber ich liebe die Fröhlichkeit des Lebens und die Lust und denke nicht viel. Bei mir ist viel Lachen, und wenn jemand auch nur auf dem Kamm bläst, tanzen die Füße von selbst. Aber du – du bist ... Aber du – – du – ich glaub, du überlegst bei jedem Schritt, ob du ihn auch verantworten kannst, denkst dabei immer an den lieben Gott. Ich liebe einen tüchtigen Spaß mit Mannsleuten, und wenn es auch irgendwo mal ein Küßchen regnet, das nicht gleich auf Verspruch berechnet ist. Es kann so was vorgekommen sein, ist aber immer kindhaft gemeint gewesen. Aber ich sehe ein, daß man sich in acht nehmen muß mit solchen Kindereien. Aber du, du mit deiner Klugheit und Gottesfurcht ... Daniel, geh hin und priestere! Julius sagte mir, ich sei es, die dich so lange davon abgehalten hätte. Vielleicht ist was Wahres daran, das soll ein Ende haben, ich will es so. Und deshalb sollst du nicht nach Reiherwisch, sollst hingehen und das werden, was du immer hast werden wollen!«
Daniel Dark wußte nichts zu antworten, er konnte nur die Hände seines Mädchens halten und murmeln: »Was bist du für ein liebes Mädchen!«
»Ich muß nach Hause«, fuhr Lene fort, »habe aber noch eine Bitte.«
»Alles, was du willst.«
»Weißt du, als wir hinter dem Weidenbusch standen und Abschied nahmen ... da wußten wir nicht, wie wirs anfangen sollten, aber wir hätten uns sicherlich doch noch umarmt und geküßt, wenn der Reisemeister nicht dazu gekommen wäre.«
»Ja, ja.«
»Und es ist schade, daß der sonst so liebe Mensch kam. Ich habe immer das Gefühl, es wäre besser gewesen, es wäre damals geschehen. Denn das ist was anderes, was Heiliges, das, was aus herzinnigster Liebe geschieht. – Einmal muß ich deine Lippen haben. Deshalb tu es jetzt!«
Sie machte ihre Hände los, ihn zu umarmen; er aber trat einen Schritt zurück. »Es geht nicht, Lene.«
»Weshalb geht es nicht?«
Einen Augenblick sah sie ernst aus, dann kam wieder Leben und Lächeln. »Du denkst gewiß, Julius Kirchner hat mich heute auch geküßt. Was?«
»Ja.«
»Dann bist du es gewesen, der in die Hinterstube kam, wo Julius und ich ...«
»Ich war es.«
»Ich will nichts beschönigen, Daniel. Es war nicht recht. Aber wir waren versprochene Brautleute. Und Julius sagte, wir wollten ein Glas Wein trinken, das haben wir auch getan. Gleichviel, es ist so gewesen, wie du gesehen hast. – Und dann haben wir uns erzürnt«, fuhr sie fort. »Wie wir nach Hause gingen. Im Lindenweg. Und es geschah deinetwegen ...«
»Ich weiß«, erwiderte Daniel, »ich war dabei, saß an der Mauer, habe alles mit angehört.«
»Sieh, ist nicht alles, als ob es hat sein sollen? Aber sein Kuß ist nicht mehr an mir. Als wir auseinander waren, Julius und ich, hatte ich das Gefühl von Schmier und Schmutz an meinem Munde. Und an Burmesters Pumpe kam eine Art Wut über mich, mich von allem zu reinigen, was Julius betraf. Da habe ich Mund und Lippen gespült und nun ist alles weg. – Sollte es da nicht gehen?«
Es ging. Zum ersten mal trank er den Feuerwein der Frauenliebe, in seiner Seele rollte dabei Bild auf Bild. Zuerst der See Genezareth, der Gott-Erlöser lachte ihn freundlich an. Dann sah er den Ewigen selbst über den goldenen Sternen auf seinem goldenen Stuhl. ›Ich habs eingesehen, Daniel Dark‹, sagte er, ›ich war in deiner Schuld. Zwei weiche Arme umwinden deinen Nacken, zwei junge Lippen bieten dir süßen Trank.‹
»Zum erstenmal, Daniel, und wohl nie wieder. Aber die Lippen, die der Priester Daniel Dark geküßt hat, will ich brav hüten.«