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Zweiter Teil

1

Die Kunst des Deichbaues ist von Holland hergekommen, auch hat die Bevölkerung in der Ecke des deutschen Vaterlandes, wo unsere Geschichte spielt, nach Behauptung der Geschichtschreiber eine starke niederländische Beimischung. Wie in den Niederlanden, so geht auch hier Frau Natur hochgeschürzt mit einem Füllhorn reicher Gaben durch das Land, und auf Schritt und Tritt begegnen dem Wanderer Gestalten, so hoch und blond und gesund, als kämen sie aus dem Rahmen von Meister Rubens' Bildern herausspaziert.

Eine fruchtbare grüne Ebene, nach Ansicht mancher ein wenig eintönig und langweilig – fast immer in gesammeltem Ernst, mögen nun der Nordsee Stürme über sie hinfegen oder auf weiten Flächen Kornähren und Halme Wellen schlagen. Feld an Feld, strotzender Reichtum goldener Ähren, Smaragdgrün der Weiden, dazwischen dunkle Streifen von Bohnen und Raps. Ringsum, wenn Hans Horsten von seinem Hofe Umschau, hielt, Kraftproben der Natur. Er sah es nicht ohne Stolz. Weizen und Hafer und Raps und Bohnen. Früher hatte er viel auf Ölfrucht gehalten; in der letzten Zeit wendete er sich mehr der Bohnenfrucht zu. Die Preise hielten sich, der Anbau lohnte. Die Bohnen reifen später, das Getreide ist zumeist schon eingescheuert oder gar gedroschen, wenn die Wagen zur Bohnenernte auf die, Tenne rasseln.

Hans Horsten war ein alter Mann geworden, denn es war manches Jahr vergangen, seitdem der Sohn der Kanzlei gekommen und wieder gegangen war. Er hatte schwer daran getragen, Kummer und Jahre hatten sein Haupt mit Schnee bedeckt, aber fest und aufrecht schritt noch immer seine Gestalt, noch immer im Dienste des Herrn und des ihm anvertrauten Hofs.

Und wieder war die Zeit der Bohnenernte, reich und voll wuchs sie ihm in die Hand.

Ein wundervoller Tag. Altweibersommer mit tiefen blauen Augen, die Frage nicht schlafen lassend: »Wohin? Warum? Wozu?« Saat und Ernte, Leben und Werden und Sterben. Überall lud man dunkle Garben, überall strebten schwere Bohnenwagen an tiefen Gräben vorbei von den Feldern auf die harte Klinkerstraße, überall abgefallene Blätter und welkes Gerank in den Geleisen.

Und auf den Weiden bunte Rinder. Am Hecktor, das die von breiten Graben eingefaßten Fennen verschließt, scheckige Kühe, die die Milch drückt und die nach den Melkern rufen. Einklagender, ergebener Ton, an die Güte und Gerechtigkeit der Herren sich wendend, wenn man auch ganz gut wisse, ein rechtlos Volk zu sein, den Menschen zu eigen mit dem Leib, ja auch mit dem Leben. Schön ist die fromme Sklavenklage eigentlich nicht; trompetenartig, im Unterton sogar ein wenig Trotz und Drohung, so klingt sie zu uns her. Es ist aber ein der reinen Herbstluft vertrauter, von ihren Flügeln weithin getragener Laut-Trompetenstöße dumpfer Kuhgemüter und Achsenstöße schwerer Bohnenwagen.

Von der Hofstelle der Kanzlei rasselten die Wagen, der Bauer hatte sich selbst in den Dienst gestellt und führte ein Gespann. Bartel stakte auf, das Fuder war zur Not gefüllt als der Bauer mit dem leeren Wagen herangekommen war.

»Es ist genug, Bartel, wollen den Baum auflegen.« Das geschah, und Hans Horsten fuhr mit der vollen Fuhre davon.

Und im Fahren dachte er an die Bibel, die auf der Schatulle seines Arbeitszimmers, und an das Lesezeichen, das an einer Stelle lag, wo geschrieben stand, daß die, die nicht das Wort des Herrn ehrten, Schandflecken seien und nicht Kinder. »Und wer zu seinem Sohne spricht, ich weiß nichts von ihm, der hält meine Rede und bewahret meinen Bund.« So ungefähr ... Daran dachte er und an sein Gelöbnis, seinem Gott den Bund zu halten. Er tat es, freilich mit Weh im Herzen, denn er hatte nur einen Sohn.

Den Spruch hatte er, wo er auch ging und stand, im Gedächtnis, denn ihm verdankte er, daß er noch ein aufrechter Mann war, obwohl er den Einzigen verloren hatte, den er besaß. Er hatte gleichsam mit den Händen um sich getastet, um sich gegriffen, einen Halt zu suchen, und glaubte ihn an dem dürren, haßerfüllten Spruch gefunden zu haben.

In der Erinnerung hatte es ihn eine Zeitlang angemutet, was der junge Priester mit dem weichen, elastischen Glauben ihm vorgeredet, dann aber hatte er erkannt, was der gewesen: ein Versucher.

Nun wies er es von sich, nun hielt er sich an den Spruch seiner Jugend von den Halligen: »Wer zu seinem Sohne spricht, ich weiß nichts von ihm, der hält seine Rede und bewahret meinen Bund.« Der war ihm zu eigen geworden, und wie er in der Bibel mit dem Lesezeichen auf der Schatulle, immer aufgeschlagen oder doch aufschlagbar, so lag er auch in seinem Innern, als ein zum Vorzeigen stets bereiter Gnadenbrief dafür, daß er vor seinem Sohn die Tür des Vaterhauses zugeschlagen hatte.

Auf dem Leitpferd reitend führte er die volle Fuhre in der Richtung nach der Kanzlei. »Ich weiß nichts von ihm«, dachte Hans Horsten, »bis er in Person zu mir kommt und Gott bekennt.« Nach dem Himmel über sich sah er nicht, wußte daher nicht, daß ein anderer Gott als der des Zornes auf ihn herniederblickte, einer, der über Jehova und Zebaoth die Hand recken durfte, weil ihn nichts gereute, der die Aufwallungen des jugendlichen Judengotts nicht kannte, kein eifriger Gott war, daher auch keine Zornesschalen in seinen Händen trug, vielmehr seinen Bogen über Gerechte und Ungerechte wölbte und über alles, was Menschenantlitz trug, seine Zelte baute. Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!

So war der Kanzleibauer in seiner Weltanschauung und in seinem Bekenntnis auf dem alten Fleck geblieben (seiner Meinung nach wenigstens) oder gar einen Schritt tiefer hinabgegangen in die Enge der Rechtgläubigkeit, während die Welt um ihn eine andere Richtung genommen hatte, eine, die die alte religiöse Rechtgläubigkeit für rückständig einschätzte, ansah als etwas, worüber man mit mitleidiger Miene zur Tagesordnung übergehen könne. Ein junges, aufstrebendes, durch keine legale Offenbarung sich gebunden fühlendes Geschlecht von Geistlichen füllte die Kanzeln und verkündete eine von Glaubensgesetzen mehr und mehr entlastete Religion. Und das nicht allein. In einem Teil der Presse machte man sogar, anknüpfend an die Lehren eines genialen Umstürzlers, den Versuch, an den ewigen Wahrheiten der sittlichen Werte zu zerren und sie in ihr Gegenteil zu verkehren.

Hans Horsten hatte das wenig berührt, er hatte seine eigenen Gedanken gedacht – kein Liebloser und auch kein Bösewicht, nichts als ein Einsamer. Was sein Herz an bitteren Gefühlen barg, war das Ergebnis innerer Nötigung. Aber ganz losgelöst von der Umwelt war auch er nicht, auch jetzt nicht, wo er die Bohnenfuhre nach Hause leitete. Die reine, zur Klarheit und Andacht führende Luft um ihn, der blaue Himmel über ihm, ein Tag wie dieser – alles weckte auch in ihm mehr als sonst Sehnsucht nach Liebe und Frieden, machte die Kruste seines Inneren poröser und lockerer.

Über Harros Aufenthalt war er unterrichtet. Der lebte in Amerika, war dort im Sinne dieser Welt ein großer Mann geworden, ein berühmter Lehrer an einer berühmten Universität. In den Tageszeitungen las man von ihm, erhebliche Fortschritte seiner Wissenschaft waren mit Harro Horstens Namen verknüpft, das Verzeichnis seiner Werke brachten die Kataloge der Buchhandlungen in erheblicher Länge. Insoweit er durch den Gegenstand dazu Veranlassung hatte, äußerte er sich auch wohl über seine Welt- und Lebensanschauung. Auf der Kanzlei liefen von ihm verfaßte Drucksachen ein, wodurch sein Vater unterrichtet werden sollte, wie er jetzt zu der Frage stehe, die sie geschieden hatte. Es ging daraus hervor: Harro war in der Rückentwicklung zum Gottesglauben. Er hatte sich zu der Annahme eines außerweltlichen Schöpfers zurückgewendet und fühlte sich in dessen Güte geborgen. Der Alte hatte davon Kenntnis genommen, aber mehr mit Schadenfreude und innerem Hohn über den Knaben, als mit Freude. Sein für und für fortglühender Groll ließ bei ihm nicht das aufkommen, was er hätte empfinden müssen. »Ich bin der Davongejagte«, so hatte Harro gesagt und geschrieben, »ein Davongejagter kann natürlich nur zurückkehren, wenn er gerufen wird.«

Die Bohnenfahrt ging über den Sommerdeich, dann kam man auf die harte Klinkerstraße. Dort lief auch der Fußsteig, der von der Kanzlei und weiter herkommend nach der Kirche und dem Pastorat führte und die seinen Lauf kreuzenden Gräben durch Stege überbrückte. Hans Horsten mußte seine Pferde scharf ausgreifen lassen, die Auffahrt über den Deich zu gewinnen, um so vorsichtiger war der Abstieg zu nehmen.

»Guten Tag!« sagte jemand zu Hans Horsten, als es geschehen war.

»Sieh da, Johann, guten Tag.«

Ein Mann stand auf dem Steg, Hans Horsten kannte ihn, es war Johann Hell, derselbe, den er aus seinem Dienst entlassen hatte, weil dessen Glaube für einen auf der Kanzlei dienenden Knecht, wo ein so frommer Spruch über dem Türbogen stand, nicht genügt hatte.

Er war mit Johann gut Freund geworden oder geblieben, insoweit er es mit einem Mann solcher Weltanschauung sein konnte. Johann war auch nicht mehr der Art wie beim Kartoffellegen, wo er sagte: »Es gibt keinen Gott«, er war sogar für gläubig und kirchlich genug befunden worden, Mitglied des Kirchenvorstandes zu sein. Als solcher schob er den Klingelbeutel durch die Sitzreihen der Besucher, wenn der Gemeindegesang zur Holzdecke der kleinen Kirche aufstieg und zum Gottesacker hinausquoll, geführt, gemildert und auf ergebene Gemütswallungen gestimmt von den weichen Wogen der sanften Orgel.

Mit dem Klingbeutel kamen Johann Hell und seine Kollegen vom Kirchenvorstande, die ›Juraten‹, kurz vor dem Ende des Gesangs. Und wenn das letzte kleine Lauten des immer zum Empfangen bereiten Säckels hinter dem Altar verschwunden war, dann erschien der Geistliche auf der Kanzel und neigte sein Haupt zum Gebet. Die Orgel wob dazu ihren Segen und mit dem Verrauschen des letzten Klangs nahm der Mann im Talar und im Priesterbäffchen das Wort.

Der Kanzelmann war aber nicht mehr Pastor Rau, noch weniger dessen jugendliches Abbild, das Hans Horsten einstmals in dem eigenen Sohn auf die Dorfkanzel gestellt hatte. Rau hatte sich bald nach Harros Kommen und Gehen vom Amt zurückgezogen, hatte noch ein paar Jährchen im benachbarten Städtchen gelebt und war dann gestorben. Als Nachfolger war ein junger Pastor aus Thüringen, übrigens ein Landeskind, des altbekannten Doktor Ranks Sohn – es war mit einem Wort Karl Rank gekommen, den Hans Horsten am Tag der Katastrophe nach eingehender Prüfung einen vom Glauben Abgefallenen genannt hatte.

Das war das, was den Alten von der Kanzlei äußerlich der Ortskirche zu entfremden drohte. In dem Gefühl der Entfremdung konnte ihn auch das Lob nicht beirren, das man allgemein dem neuen Pastor zollte – seinem Wort, seiner Rednergabe und seiner tatkräftigen christlichen Liebe.

Zuweilen aber saß er doch selbst zu Füßen des Pastors. Ja, das mußte auch er sagen, die Beredtsamkeit und die Wirkung der Person waren nicht gewöhnlich. Sie wären imstande gewesen, den Herrn der Kanzlei in die Sphären der Andacht hinauf zu tragen, wenn er hätte vergessen können, daß er denselben Mann einmal einen Abgefallenen hatte schelten müssen. Nun aber mußte er immer denken, daß der quellende Brunnen doch kein lauterer sei.

Indessen, das mußte der Kanzleiwirt zugeben: Karl Rank war nicht schlimmer als die anderen Neuen, gab auch kein Ärgernis. Es war mit ihm und seiner Art auch Gutes aufgekommen, was man früher nicht gekannt hatte, ein neuer Brauch, wenn man will: eine neue Mode christlicher Anschauung – Wohltätigkeit als eine Art sittlichen Sports. An allen Ecken und Enden hieß es: tätiges Christentum, weniger Lehre, mehr Tat! Werktätiges Bekennertum, werktätige Liebe! Der Neue ging ganz in dieser Forderung auf, stellte sich voll in ihren Dienst und opferte vom Eigenen für Arme und Elende mehr, als er vielleicht mit den Pflichten gegen sich selbst und seine Familie verantworten konnte.

Nun durfte man freilich nicht sagen, daß solche Gesinnung dem Eigner der Kanzlei fremd war, daß man seine Hand überall geschlossen fand. Aber fremdartig mutete den alten Bauer diese Zerbröckelung des alten Narren Eigentumsbegriffs, der mich was dogmatisch Gebundenes gehabt hatte, doch an. Früher gab und schenkte man wohl auch in besonderen Fällen, im allgemeinen aber war doch jeder auf seine eigene Verantwortlichkeit gestellt. Als er, der Kanzleibauer, im Werden gewesen, war der Glaube die Hauptsache, die guten Werke dessen Frucht. Nun schien es beinahe, als sei das bekannte Korintherkapitel das Hauptstück der Bibel: »Und wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen und hätte der Liebe nicht, so wäre es mir nichts nütze.« Wer aus anderen Gründen, so ungefähr hatte auch die Erklärung des geistlichen Herrn gelautet, als aus Liebe gut handelt, wer sich selbst von seiner Guttat irgend etwas verspricht, wer dabei das Seine sucht, der hat seinen Lohn dahin. Die Tat mag gute Wirkungen auslösen, einen sittlichen Wert hat sie für den Täter nicht. So hatte er gesprochen mit Feuer und Wärme und mit eigener Liebe.

Und Hans Horsten auf harter Kirchenbank hatte sich einige male sogar sittlich durchschauert gefühlt, gewissermaßen geläutert, gereinigt und gebessert, ja erlöst ... erlöst auch von dem harten, in seinem Innern aufgeschlagenen Spruch. Nachher aber wehrte er sich wieder gegen den Einfluß des Mannes, den er noch immer als Versucher ansehen wollte. Zu Hause angekommen, redete er sich ein, daß es doch eine unreine Quelle sei, schüttelte es wieder ab, glaubte wenigstens, es wieder abgeschüttelt zu haben.

Und neben und unter solchem Pastor war Johann Hell Mitglied des Kirchenvorstandes.

»Guten Tag!« hatte der gesagt, als Hans Horsten mit dem Bohnenwagen über den Deich gekommen war.

»Sieh, Johann, guten Tag!« war die Antwort gewesen.

Johann stand auf der Stegbrücke des Grabens, beide Hände auf das Geländer gestützt und das Brückenbrett mit dem Fuß in schwingende Bewegung setzend. »Sehens mal«, fing er an, ein frischer, rotbäckiger, hagerer, in den besten Jahren stehender Mann. »Das Ding«, sagte er, »hat ein Loch, ist morsch, da kann leicht ein Malör passieren. Bei Tage gehts wohl, aber bei Nacht ...«

Die Unterhaltung der Brücken lag den Anliegern ob. Hans Horsten dankte und versprach, das Erforderliche zu veranlassen.

Nun stand Johann auf dem Wegboden. »Leute beim Bohnenfahren«, sagte er, »darf man nicht aufhalten, das weiß ich wohl, und doch hätte ich gern ein Wort mit Ihnen geredet. Darf ich nebenher gehen? – Es handelt sich um Peter Jansens Pacht«, fügte er hinzu.

Johann ging nebenher, sie sprachen über Peter Jansens Pacht. Der frühere Dienstknecht hatte es durch Sparsamkeit und durch eine passende Heirat zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht und besaß jetzt nicht weit von der Stadt einen kleinen Eigenbesitz. Zur Kanzlei gehörte ein vom Hoffeld abgelegenes Stück Land, dicht bei Johann Hells Grund. Bisher hatte es ein Peter Jansen in Pacht gehabt, der war gestorben, die Witwe wollte nicht mehr, nun meldete sich Johann, er kannte den Vertrag, die gezahlte Pachtsumme, die Größe, die Art der Benutzung, die Befugnisse des Pächters und ihre Begrenzung – alles wurde zwischen Johann und Hans Horsten nach Art geschäftsmäßiger Männer erörtert.

Sie waren bald einig. Johann sollte die Pacht zu den alten Bedingungen fortsetzen. Anlaß zu einem Hin und Her gaben nur ein paar Nebenpunkte, aber auch die kamen bald ins reine. Über das Ganze sollte eine kleine Handschrift aufgesetzt werden, wie es dem Ordnungssinne der Parteien entsprach.

Zu Hause angekommen, sorgte Hans Horsten für seine Vertretung und bat Johann in die Stube.


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