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5

So betrat Hans Horsten mit dem ›Kandidaten‹ allein die Hinterstube. Sie lag still und ruhig. Zwei Fenster nach der Straße hin, vom grüngoldenen Schatten des Frühlings überwölbt, ein kleines Fensterchen westwärts nach dem Hühnerhof.

›Es ist ein kleines Aber dabei.‹ Dies kleine Aber lag Harro schwer auf der Seele, mußte er sich doch durch die Miene seines Vaters überzeugen, wie fest seine Laune, sein Stolz, ja sein Wesen und sein Glück darin wurzelten, daß Harro geprüfter Kandidat der Gottesgelahrtheit sei. Und das kleine Aber wuchs für ihn zu einem großen Aber aus und stand mit Flammenschrift an den Wänden des kleinen Gemachs.

Die Schatten der Laubwolken der Buchen fielen durch die Fenster auf den weiß gescheuerten Fußboden. Von den Höfen her klang einförmiges Geräusch – weiche, sanfte Schläge: die Rapsaatleinen wurden geklopft. Zwei Hühner, eine grobe, eine feine Stimme, kakelten auf dem Hühnerhof unter dem Fenster. Und es klang müde und schläfrig, wie im Verdauungsfieber nach gutem Essen, nach Pudding und Käse und Brot und Früchten und Kaffee. »Gott, o Gott«, kakelte eine feine ergebene Hennenstimme, »wat is dat warm!« Einmal unterbrach sie der Hahn laut und sicher: »Ward ok weller kold.«

An den Wänden stand das Aber, Natur und All waren still, sie hätten gerne gewußt, was es mit dem Aber auf sich habe.

Beide, Vater und Sohn, rauchten, der Alte aus seiner langen Staats- und Prachtpfeife, der Junge Zigarren. Beide saßen in Lehnstühlen an den Schmalseiten eines Tisches. Hinter dem Tisch reckte sich ein breites Sofa. Die Schatulle an der Westwand nach dem Hühnerhof zu, die Federzeichnung vom lieben Gott hing darüber, und in dem Rahmen der Zeichnung steckte Harros Depesche: ›Es ist ein kleines Aber dabei.‹

Ja, das Aber!

»So, mein Junge«, fing Hans Horsten an, »nun komm mal mit deinen Examenspapieren heraus!«

»Jawohl, Vater!« Es lag eine ziemliche Festigkeit in diesem Jawohl.

Harro hatte eine kleine Handtasche mit ins Zimmer gebracht, darin kramte er. Nun mußte es kommen, nun mußte der Alte sehen ...

Er hatte ein anderes Fach studiert als Theologie. Als er zur Universität gegangen, hatte er die Absicht gehabt, zu tun, wie sein Vater gebeten, hätte es damals auch wohl gekonnt, ohne gegen sich selbst unwahr zu werden. Denn die Hauptteile seines kindlichen Schulglaubens hatte er in das Jünglingsalter hinübergerettet. Das Herz hatte er freilich der Natur und ihren fromm geahnten Geheimnissen geschenkt. Und an die Wissenschaft zur Erforschung der Natur hatte er sich gehalten, als er die Hörsäle betrat. Ein Semester, zwei Semester hatte er sich eingeredet: ›Was kann es schaden? Es wird ein Schatz fürs Leben sein, für die Gottesgelahrtheit bleibt Zeit genug.‹ So verging ein Halbjahr, ein zweites, ja ein drittes, und noch immer war der Anfang nicht gemacht worden mit dem, was zu wollen er sich immer noch einredete. Und als er schließlich den Versuch machte, da mußte er einsehen, daß es ihm nicht mehr möglich sei, Theologie zu studieren. Wie hoch stellte er sich jetzt über das, was er einst als göttliche Offenbarung verehrt hatte, woran die offizielle Kirche aber noch immer festhielt, so weit und weitherzig man auch neuerdings in den Auslegungen war. Er war ein Mann geworden, redete er mit dem Apostel, obgleich er gerade diesen seiner Würde entsetzte, und glaubte abgelegt zu haben, was kindisch war. Es war mithin eines jener Hindernisse eingetreten, wovon zwischen ihm und dem Vater die Rede gewesen war. So sah er es an. Er fühlte sich von der seinem Vater gegebenen bedingten Zusage entbunden. Das war auch jetzt wohl der Grund seines Mutes, als er in seiner Handtasche kramte. Ganz hatte er ihn aber doch nicht beisammen. Denn belastet und ungerechtfertigt fühlte er sich bei der Frage, weshalb er den Vater nicht von seiner Sinnesänderung unterrichtet habe. Getan hatte er es nicht, weil es ihm peinlich gewesen war, weil er die rechten Worte und Wendungen dazu nicht hatte finden können. So war es unterblieben und aufgeschoben worden, bis es zu spät gewesen war. Er hatte vor sich selbst auch jetzt noch keine rechte Antwort auf die Frage. So reichte er dem Alten das Prüfungszeugnis mit dem Gefühl von einer Art Schuld.

Hans Horsten entfaltete ein umfangreiches Papier. Man sah prächtige Arabesken und ein wundervolles Siegel.

Der alte Horsten war ein kräftiger Mann, im Anfang der Fünfziger, mehr breit als groß und hoch. In seiner Haltung ländliche Vornehmheit, womit er selbst dann Eindruck machte, wenn er es nicht darauf angelegt hatte. Volles, silbergraues Haar, ein breites, von ernstem Denken gefurchtes Gesicht, trotzige, immer ein wenig verwunderte, zuweilen auch von Zorn erfüllte Augen, mitunter sogar dann, wenn sein Herz von Erregung und Zorn und Trotz und Verwunderung nichts wußte. Und buschige, kühn gewölbte Brauen.

Wie er nun da saß und das Kinn verschob, dabei rauchte, stark rauchte, da merkte man wohl, daß es Dinge gebe, bei denen er keinen Spaß verstehe.

Das Papier hatte er genommen und auf den Tisch gelegt, nun nestelte er die Brille aus der Seitentasche seines Rockes, setzte sie auf und – las.

Er las. Und was seine Augen und Brauen in gleichmütigen Stunden nur angedeutet hatten, blähte auf, und die Gesichtsadern schwollen.

Was wird der Alte sagen? Es war, als wenn der rings um die Kanzlei lagernde große Pan lausche und genau horche, was kommen werde. Die Klopflaute hörte man nicht mehr, im Hühnerhof aber noch leises Gekakel.

Und Hans Horsten sprach. Ein leises Beben in der Stimme, sonst ruhig. »Mit meiner Brille«, sagte er, »oder mit meinen Augen muß etwas nicht in Ordnung sein. Ich lese da was von Sachen, worin du geprüft bist, die ich nur halb oder gar nicht kenne und verstehe, und die, wo ich sie verstehe, mit deinem Studium, wie mir scheint, nichts zu tun haben. Nennt man so die Theologie, die Lehre von Gottes Wort? Von Theologie und Gottes Wort lese ich nichts.«

»Da hast du ganz recht, Vater.« Der Sohn nahm seinen Mut zusammen. Nun kam es. Die Stunde war doch schwerer, als er gedacht hatte.

Die Stimme war nicht frei, er mußte ein paar mal niederschlucken. Aber seine Seele rief den Hochmut des Gelehrtendünkels an. Das machte ihn fester. Es wird ein Wetter kommen, das muß ausgehalten werden. Und er vermochte es, seinem Vater ruhiger in die Augen zu sehen.

»Das ist das, Vater, worüber ich mit dir reden wollte. Ich konnte deinen Wunsch nicht erfüllen; glaub mir, es tut mir sehr leid, hat wir unendlich leid getan. Aber ich ... ich ...«

Der Alte sah ihn drohend an, das hemmte den freien Fluß der Rede, Harro fing an zu stottern.

»Ich konnte nicht ... es ging nicht ... ich wäre unwahr gegen mich geworden«, setzte er etwas fließender hinzu.

Harro wartete auf Worte, die kamen nicht. Der Alte schleuderte dafür Blitze aus seinen Augen. Das Schweigen traf mehr, als Poltern und Drohen getroffen hatten – Harro wartete auf Worte. Hans Horsten aber schwieg.

Es half nicht, Harro mußte weitersprechen. »Glaub mir, lieber Vater, es ist das Leid meines Lebens in all den Jahren gewesen. Wenn man in die Welt kommt und den Faden der Natur nachgeht, dann fällt ...« Er vollendete den Satz nicht. »Deshalb«, fuhr er fort, »habe ich es mit der Theologie gut sein lassen, habe die Wissenschaften studiert, die da stehen. Es ist die Lehre von der Natur.«

Der Alte stand auf und setzte die Pfeife in die Stubenecke. Es war der alte, berühmte Pfeifenkopf mit dem Zeichen der Landwirtschaft. Als sie hingefallen war, wollte Harro sie aufheben, aber der Alte stieß mit dem Fuß danach. Die bäurischen Instinkte erwachten, die innere Bewegung mußte eine äußere werden – er zerstampfte das Erbstück in viele Stücke. Er wäre sonst in purpurnem Zorn erstickt.

Und dann sprach er, gepreßt, röchelnd, pfeifend, die Stimme bahnte den Weg mit Mühe. »Du hast mein Gebot mißachtet!« Und nach einer Weile: »Du hast es mit Füßen getreten.« Dabei stampfte er selbst mit den Füßen auf die Dielen.

Harro stand bleich am Tisch. Was auch komme, er wollte es über sich ergehen lassen.

Der Alte ging keuchend im Zimmer auf und ab. »Du hast mir versprochen, Priester zu werden!« rief er.

»Vater, ein Wort! Du irrst, wenn du glaubst, ich hätte es dir versprochen. Ich habe gesagt, wenn ich könnte, dann wollte ich deinen Willen tun. Und du hast geantwortet, wenn Gott uns Hindernisse in den Weg lege, dann müßten wir uns beugen. So ungefähr. Und so ist es gekommen.«

Der Alte hatte zugehört, jede Faser seines Antlitzes gespannt. »So, so.« Ein bitteres Lächeln um die Lippen. »Ich lüge also, oder ich fasele.«

»Das hast du gesagt, Vater, nicht ich«, entgegnete Harro.

»Und was ist dazwischen gekommen?« Des Alten Stimme wurde ruhiger. Nun mußte alles an den Tag kommen.

Harro würgte an seinen Worten. Er mußte es sagen. Er stand unter einer Nötigung, seine Worte konnten nur im Gehege seiner Gedanken und seiner Weltanschauung laufen.

»Vater, ich habe erfahren müssen, was so mancher an sich erfahren hat. Meine Ansichten entwickelten, veränderten sich. Ich mußte doch wahr und ehrlich gegen die Welt, vor allen Dingen auch gegen mich bleiben. Und ich wäre ein Unwahrer und Lügner geworden, wenn ich Jahre hindurch mich mit dem beschäftigt hätte, was ich doch nicht hätte predigen und verkündigen können.«

Das Gesicht seines Vaters hatte Blitz und Donner getragen, nun legte sich eisige Ruhe darauf, wurde ein heller, frostiger Wintertag, dem Sohn unheimlicher noch als jenes.

Einen Augenblick kämpfte Harro um Atem, dann fuhr er gelassener fort; er sah, was kommen werde, er wollte es auf sich nehmen.

»Vater«, sagte er, »ich glaube, es ist etwas Fürchterliches, sein Leben lang die Sielen eines verfehlten Berufs zu fühlen und sich dabei sagen zu müssen: du bist ein Unwahrer. Darum bin ich dem Drange meines Herzens, meiner Neigungen, bin meinem Talent gefolgt, bin das geworden, wozu ich geschickt, daher auch wohl bestimmt bin.«

Der Alte stand wie ein strafender Gott vor seinem Sohn und sah ihm in die Augen, die Mienen wie von Erz und Stein. »So einer bist du also!«

Und nach einem Gang durch das Zimmer: »Willst ein berühmter Mann werden, von dem in Büchern der Welt die Rede ist, dessen Bild an Stubenwänden hängt, wo man den Herrgott nicht kennt. Und da muß dann der liebe Gott selbst herhalten, der es sich nun mal vorgesetzt hat, dich zu einem großen Mann zu machen.«

Und wie er das sagte, ging das alte Traumbild mit dem eigenen kleinen Größenwahn, den er nur nicht als solchen erkannte, an seinen Augen vorüber. Erst das von ihm gezeichnete Bild, wie es an der Wand hing, das er dabei flüchtig mit dem Auge streifte. Und dann das andere: sein Sohn im geistlichen Gewand auf der Kanzel, mit hallendem, von Gott selbst eingegebenem Wort in die Herzen der Hörer greifend. Und für einen Augenblick erschütterte ein verhaltenes Schluchzen die breite Gestalt des Bauern; sein Atem ging in schweren Zügen.

»Da ist wohl Gott selbst der Schuldige«, wiederholte er.

»Ich schiebe nichts auf Gott ab«, murmelte der Sohn, aber der Alte hörte nicht darauf. Er ging in der Stube auf und ab.

Harro stand noch immer am Tisch. ›Wie wird es werden?‹ dachte er; da sah er den Vater dicht vor seinem Angesicht.

»Harro«, sagte der, und zum ersten mal nannte er ihn in dieser Stunde bei Namen. »Harro, du bringst mir schwere Post ins Haus. Noch sehe ich nicht, wie es zwischen uns wieder gut werden soll und kann. Aber eine Bitte. Gib mir wenigstens den Trost, daß du an den glaubst, der die Haare auf unserem Haupt gezählt hat, an Gott, den Schöpfer und Erhalter aller Dinge, der uns, der dich, der mich, der uns alle in Liebe trägt, daß du an den glaubst. So frage ich dich: Glaubst du an Gott?«

Dem Kandidaten wurde nichts erspart. Das war das, was sie scheiden mußte. Er zögerte mit der Antwort. Der Alte stand vor ihm.

»Einen Augenblick, Vater, ich möchte nicht gerne mißverstanden werden.«

»Ja, wenn du dich darauf erst besinnen mußt ...«

Harro wiederholte: »Nur zwei Minuten, lieber Vater.«

Zwei Minuten. Was werden sie bringen? Die Sonne stand hinter dem am Westende des Geweses belegenen Stall, schickte von dort die Strahlen nicht mehr in die Stube, lag aber noch vor den Fenstern im Weg auf der vom Baumschatten getigerten Erde. Das Klopfen hatte wieder eingesetzt.

Was wird werden? Wird der Kandidat sich zu ihm, dem Einen, den man eigentlich gar nicht nennen, nicht in die armselige Menschensprache herabziehen sollte, wird er sich zu ihm bekennen?

Harro wollte wahr bleiben. Und in den armseligen paar Minuten durchlief er, was er über Gott und Welt gedacht hatte. In Melodien, Sprüchen und Versen stieg es vor ihm auf: »Ich bin klein, mein Herz ist rein, in meinem Herzen wohnst du, o Gott, allein!« Das gläubige: »Befiehl du deine Wege und alles, was dich kränkt, der treuen Vaterpflege des, der die Himmel lenkt.« Und dann das Erwachen der Kritik, das gehobene Schreiten durch die Weltanschauung der Großen: »Wer kann sich unterwinden, zu sagen: ich glaub ihn – und wer, zu sagen: ich glaub ihn nicht?« – »Was wär ein Gott, der nur von außen stieße, im Kreis das All am Finger laufen ließe?«

Anfangs der Gott des Katechismus, des Apostolikums. Dann Gott gleich Welt plus eins, »Natur in sich, sich in Natur zu hegen«. Und dann die einfache Gleichung: »Gott ist die Welt«. Und selbst diese Anschauung vor einem Erkennen versinkend, das er für die letzte Läuterungsstufe seiner Einsicht hielt. Die Welt ist Stoff und nichts als Stoff – entstanden und weiter entwickelt nach Gesetzen, die keines Gesetzgebers benötigen.

Da war er an der Stelle angelangt, wo er den Propheten (waren es falsche, waren es wahre?), wo er den Propheten zujubelte, die von der Wohnungsnot Gottes redeten und über das gasförmige Wirbeltier spotteten. Er hatte sich in dem, was man die mechanistische Weltanschauung genannt hat, vernestelt. Eigentlich war er der Ansicht, zur Erklärung der Welt bedürfe es nicht der Annahme eines Gottes, schließe sie eigentlich aus, war er doch geneigt, alles jenseits der physischen Welt liegende Sein zu leugnen. Aber bevor er seinem Vater Antwort gab, hätte er gern geprüft, ob seine Weltanschauung die Annahme des Gottesglaubens unter allen Umständen verbiete.

»Vater«, erwiderte er, »unsere Wissenschaft führt eigentlich – so ist meine Ansicht – nicht auf die Annahme eines Weltenschöpfers. Aber es ist zuzugeben, daß nicht alles erforscht ist und daß Gott, das heißt eine Intelligenz, die nach vorgefaßtem Plan die Welt erschaffen hat, nicht ausgeschlossen ist. Das gehört zu dem Unerforschten, vielleicht Unerforschlichen. Bis dahin mag es jeder mit seinem Gefühl abmachen, wie er sich dazu stellen will.«

»Ich höre Worte und Ausflüchte«, entgegnete der Alte. »Wie stellst du dich zu meiner Frage?«

Harro war mit sich im reinen. »Ich meine, Vater, ich sagte schon, daß ich keinen Grund habe, einen Weltenschöpfer anzunehmen.« Er hätte viel für ein paar versöhnliche Worte gegeben, er fand sie nicht.

Der Vater schaute frostig drein. »Jawohl, mein Sohn«, sagte er, »es ist genug. Dank für die Offenheit, da sehe ich doch, daß ich es mit einem richtigen Gottesleugner zu tun habe, mit einem, der in Zeit und Ewigkeit verloren ist, wenn sich unseres Herrgotts unverdiente Gnade nicht doch noch seiner erbarmt.«

»Vater!«

Hans Horsten hörte nicht auf diesen Ruf, dem Knecht hatte er das Haus gekündigt, der aber hatte ihn nicht um ein Tausendstel betrübt wie dieser. Johann Hell hatte ihm kein Versprechen abgelockt, hatte auch kaum Gott abgeleugnet, wie der da in seinem Dünkel und weltlichen Hochmut. Hans Horstens Blick fiel auf die Zeichnung. Sie war stockig und fleckig geworden, der Rahmen alt, aber noch immer sah er darin die Aufforderung, Achtung zu haben vor den Träumen seiner Jugend und vor allem, was Eltern und Kirche gelehrt. Und dieser junge Mann ...!

»Vater!« wiederholte Harro. Aber Hans Horsten wußte, was er wollte.

»Hat sich was zum Vatern! Eines Gottesleugners Vater kann ich nicht sein.«

»Vater!«

»Es hilft nicht. Du willst wahr sein, ich will es auch, vor allen Dingen Ihm gegenüber, der uns beide trägt und diese Stunde in unsere Schuldbücher einträgt. So lange du nicht zu Gott zurückkehrst, habe ich keine Ohren für den Ruf.«

Einen Augenblick besann er sich. Dann fuhr er fort: »So lange kann ich auch Haus und Dach nicht mit dir teilen.«

Bisher hatte Harro die Stellung eines Bittenden bewahrt. Nun richtete er sich auf, nun lag Festigkeit in seinen Zügen, nun war er der trotzige Sohn des trotzigen Vaters.

»Es ist genug!« Er sprach fest, wie der Alte. »Ich verlasse dein Haus. Es tut mir leid, daß es so kommen mußte. Ich bin dabei nicht ohne Schuld, und meinen Teil will ich tragen. Aber allein lasse ich sie mir nicht aufbürden.«

Für einen Augenblick stockte er vor dem Auge seines Vaters. Das quoll vor Verwunderung schier aus den Höhlen.

»Ja, ich gehe«, fuhr er fort. »Aber das laß mich noch sagen. Ich bin der Davongejagte; ein Davongejagter kann nur zurückkehren, wenn der ruft, der ihn aus dem Hause vertrieben hat.«

Der Vater sah ihn an, in seinen Augen wuchs die Verwunderung.

»Ich gehe. Aber an meinem Teil will ich den Spalt nicht ärger machen. Hier meine Hand.« Er reckte sie aus. »Nur zum Abschied, Vater! Nimmst du sie, es soll zu nichts verpflichten, gehen tu ich doch.«

Hans Horsten sah und hörte es; es kam ihm aber nicht klar zum Bewußtsein, daß er es sah und hörte. Eigentlich war es auch seine Absicht, die Hand zu nehmen, er nahm sich aber nicht die Zeit, darüber klar zu werden. Und halb in Unsicherheit, halb in Trotz tat er, als ob er nicht gehört und gesehen habe, ging schweigend hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Er tat etwas, was er eigentlich nicht wollte.

Seine Schritte durchmaßen die Vorderstube und verhallten, nach der Vordiele. »Andrees, hast du das Kalb geschlachtet?« hörte Harro ihn dort fragen.

»Nein, uns Wirt«, lautete die Antwort, »Bartel sagte mir, es solle noch bleiben.«

Und darauf die Stimme des Alten: »Das schon, aber ich habe mich bedacht. Nun tu es gleich!«

»Jawohl!«

Und des Knechtes schwere Stiefel gingen über die große Diele nach dem Kuhhaus.

Harro war noch immer in der Stube, wo die Schatulle stand und sein Vater ihm das Hausrecht aufgekündigt hatte. Nun kam die Stimme des Alten aus der Gegend der Kellerstube, wo Karl Rank wohnte. Ein Gespräch. Er unterschied neben des Alten Stimme die seines Freundes. Es deuchte ihm, als ob beide sich in ein Zimmer entfernten. Und dann hörte er, wie man die Tür zuzog.

Harro Horsten stand – es bedurfte eines Augenblicks, sich darüber klar zu werden, daß seines Bleibens an der Stätte wo er geboren war, nicht mehr sei. Dann ging er hinauf in seine Kammer.

7

Er packte. – Und als er gepackt hatte, gab er dem Mädchen Anweisung, was mit seinen Sachen geschehen solle. An den Alten schickte er einen versiegelten Zettel:

»Vater, ich gehe ... davongejagt. Ein Davongejagter kann nur wiederkommen, wenn er gerufen wird. Vater ... zehn Minuten noch, und ich bin nicht mehr in der Kanzlei ...

Herzlichst Dein Harro.«

Nach fünf Minuten brachte das Dienstmädchen die Antwort:

»Mein lieber Sohn! Die Arme und das Haus Deines Vaters stehen immerdar dem Sohne offen, der Gott bekennt.

Dein Vater.«

Das war kein Friedensschluß, der ihm das Bleiben erlaubte. Er ging – wollte aber nicht an dem Stubenfenster vorüber, schritt daher nach hinten hinaus über den breiten Hofplatz dem Garten zu.

Ein Eckchen war durch einen Bretterzaun verkleidet, Harro wußte, wozu, und von dort kam Klagen und Blöken eines gequälten Tiers; im Rinnstein sickerte ein Strom frisch vergossenen Bluts: Andrees waltete seines Amts.

Harro ging durch den Garten nach der Hinterpforte, fand sie aber verschlossen. Aber das machte nichts, er kletterte hinüber, er war ein guter Turner. Auf der Wegseite wartete der junge Pastor reisefertig mit Stock und Handtasche.

»Du gehst nach der Stadt«, sagte er, »wenn es dir recht ist, tun wirs zusammen. Und einstweilen ist meines Vaters Haus dein Heim.«

»Ich sage zu, wenn ich nicht unbequem komme.«

»Vater und Mutter werden sich freuen.«

»Weißt du, was geschehen ist?«

»Nicht alles, das Fehlende kannst du mir, wenn du willst, erzählen.«

»Es ging wohl laut her im Hinterstübchen – was?«

»Nein, das gerade nicht, aber viel hat mir die Miene deines Vaters verraten, als ich ihn im Hausflur traf. Und das andere hat er mir selbst gesagt, als er mich stellte und mich ein bißchen examinierte.«

»Nicht wahr, das war im Gang?«

»Ja, aber nach der ersten Hin- und Widerrede gingen wir in mein Zimmer.«

»Und da fragte er dich nach Gott und Glauben?«

»Ja, er sagte: ›Mein Sohn ist der Meinung, es gibt keinen Gott. Was sagen Sie dazu, junger Priester?‹ – ›Herr Horsten‹, erwiderte ich, ›es mag ungewöhnlich sein, daß ich Ihnen auf solche Frage Rede stehe, aber die Umstände ... sei es drum. Sie fragen mich nach meinem Glauben an Gott und nennen mich zugleich Priester. Wie könnte ich ein Priester des Herrn sein, wenn ich ihn nicht glaubte?‹ Darauf er: ›Sie glauben also an Gott, den allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erde?‹ – ›Ja.‹ – ›Harro aber glaubt ihn nicht.‹ – ›Ich weiß‹, erwiderte ich. ›Es ist die Kinderkrankheit der Naturforscher und nicht so schlimm zu nehmen.‹«

»Danke für das Kompliment!« warf Harro in die Erzählung hinein. Pastor Rank ließ sich aber nicht beirren und fuhr fort:

»›Sie hoffen also‹, fing dein Alter wieder an, ›er wird es überwinden?‹ – ›Das ist meine Ansicht‹ – ›Sie meinen, er wird zum rechten Glauben an den dreieinigen Gott kommen?‹ Darauf antwortete ich nicht, und dein Alter deutete mein Schweigen richtig.

Er sah mich mit seinen großen Augen an. ›Zum rechten Glauben, darunter verstehe ich‹, betonte er, ›natürlich auch den Glauben an den Erlöser, unsern Herrn und Heiland Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, in dessen Namen allein Heil ist, wie es im zweiten Artikel des zweiten Hauptstücks des Katechismus Luthers heißt: ... geboren von der Jungfrau Maria‹ – er wiederholte ziemlich wörtlich den Text – ›gestorben, niedergefahren zur Hölle, auferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel, sitzend zur Rechten Gottes, von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten. – Glauben Sie, daß er das jemals bekennen wird?‹

›Das kann ich natürlich nicht wissen‹, war meine Antwort, ›muß es aber bezweifeln. Auf diese Sätze wird es aber wohl nicht ankommen. Die evangelische Lehre beruht auf der persönlichen Stellung jedes einzelnen Bekenners zu den Heilswahrheiten und hat Raum für mancherlei Auffassungen des Christentums. So wollen die Neueren die Bekenntnisschriften wörtlich nicht mehr genommen wissen.‹ – ›So, so‹, erwiderte er. ›Ich habe so was gehört. Man nimmts nicht mehr so genau. Sie vielleicht auch nicht?‹ Und immer buschiger wölbten sich seine Brauen.

›Herr Horsten‹, erwiderte ich, ›Sie examinieren gründlich, und vielleicht sollte ich jetzt abbrechen. Aber ich will auch darauf Antwort geben. Es kann ja Gutes nach sich ziehen. Harro ist Ihr Sohn und mein Freund. Jetzt gähnt zwischen Sohn und Vater eine Kluft, es muß eine Brücke gefunden werden, die hinüber führt; kann es nicht gleich geschehen, dann später. Und vielleicht schlägt mein armes Wort dazu den ersten Pfeiler ein. Deshalb sage ich: Ich gehöre zu den Priestern, die keine dunklen und trüben Sätze zwischen sich und ihrem Herrgott dulden wollen. Die von Ihnen zuletzt genannten Sätze erscheinen mir aber dunkel und trübe.‹

Dein Vater sah mich kalt und ruhig an. ›Also dunkel und trübe ist Ihnen, dem Verkünder von Gottes Wort, das, was mein Heiligstes umfaßt. Wie sollte ich armes, sündiges Menschenkind dereinst Gnade finden, wenn nicht durch Christi Leiden und Sterben und Blut? So denke ich. Sie aber steigen darüber hinweg, halten sich für einen Priester des Herrn und glauben nach Ihrer Ansicht an Gott.‹ – ›Ich glaube an Gott‹, erwiderte ich. ›Und das von der erlösenden Kraft des göttlichen Dulders kann einen anderen Sinn haben, als der alte Kirchenglaube annimmt.‹

Ich weiß nicht, ob er das letzte gehört und verstanden hat. Er fragte weiter: ›Und mit der göttlichen Offenbarung in der Bibel, wie steht es damit?‹

Ich erwiderte, vor allen Dingen müßten wir feststellen, daß der Weltenschöpfer für unseren Verstand und für unsere Sinne unbegreifbar, unfaßbar, auch nicht vorstellbar sei, und daß Gottgläubige doch die Sehnsucht fühlen, ganz in ihm aufzugehen, bei ihm Erlösung zu suchen von den Leiden und Enttäuschungen unsern Erdenwaltens, vor allen Dingen auch von dem uns alle belastenden Schuldgefühl. Dadurch entstehe eine Leere, ein Mißverhältnis, eine Kluft, auf deren Ausfüllung das Erlösungsbedürfnis mit Gewalt hindränge. Da erscheine die als Glaubensphantasie auftretende Dichtkunst und stopfe die Leere, so gut sie könne – wohlgemerkt nur die zwischen unserm Verstand und Gott, dessen Dasein für uns eine persönliche Gewißheit ist, gähnende Leere. Und wenn eine solche Phantasie allgemeine Anerkennung erlangt habe, nenne man sie Religion und Dogma und lege ihr die Kraft eines Glaubensgesetzes bei. In neuerer Zeit aber wolle die menschliche Freiheit selbst der an Gott Gläubigen sich die Vorstellung im einzelnen nicht mehr vorschreiben lassen. Es habe sich eine Schule gebildet, die jeden auf sein Inneres verweise, zu sehen und zu horchen, welche Gestalt Gott dort angenommen habe, und ihm empfehle, diesem Gott nachzugehen. In der Bibel heiße es: ›Suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgetan!‹ Vor allen Dingen sei dies Gebot, der Andacht an Gott nachzugehen, auf den in der eigenen Brust wohnenden Gott zu beziehen. Und habe man ihn dort gefunden, so daß man darin sein Genüge habe, dann komme es auf die Glaubensgesetze der Kirche im einzelnen nicht mehr an. Habe man aber noch den alten, strengen Glauben, sei man noch dem alten Dogma untertan, so lasse man sich diesen dogmatisch gebundenen Gott nicht nehmen. Für den, der ihn habe, sei er der ihm zu eigen gewordene, also der für ihn wahre Gott.

Dein Vater sah grimmig drein. ›Offenbarungen gibt es also wohl nach Ihrer Ansicht nicht?‹ fragte er. – ›Es ist schwer‹, antwortete ich, ›die Frage richtig zu beantworten, bevor wir festgelegt haben, was wir unter Offenbarung verstehen. Darf ich es dahin fassen: Offenbarung ist der Ausspruch eines gottbegeisterten Mannes, von dem wir in erschauernder Weise fühlen, daß er eine über unser Begreifen hinausgehende Wahrheit enthält, zu der uns aber die logische Sprossenleiter fehlt – dann sind viele Stellen der Bibel, namentlich viele Worte Jesu Christi, Offenbarungen.‹ – ›Demnach könnte es auch in unserer Zeit noch Offenbarungen geben?‹ – ›Ja.‹ – ›Zum Beispiel?‹ – ›Bei Goethe, in Goethes Faust zumal.‹ – ›Im allgemeinen ist also die Bibel wie jedes andere Buch und hat Ihnen nichts vorzuschreiben, nicht wahr?‹ – Wenn Sie darunter einen durchaus verbindlichen Zwang, gegen dessen Stachel nicht zu löken ist, verstehen, dann antworte ich: So ist es.‹

Er wendete sich von mir ab. ›Arme Jugend!‹ seufzte er. Er wendete sich ab, kehrte aber noch einmal zurück und sagte: ›Mein Sohn wird mich noch heute verlassen. Er ist vom Glauben abgefallen, noch tiefer als Sie, da kann er nicht in der Kanzlei bleiben. Schon der Spruch über der Tür läßt es nicht zu. Ein von Gott Abgefallener sind aber auch Sie – Sie, Priester des Herrn!‹

Den bitteren Vorwurf überhörte ich und bemerkte nur: ›Ich werde Harro begleiten und bitte um die Erlaubnis, mich verabschieden und Ihnen für die Gastfreundschaft danken zu dürfen, die ich in Ihrem Hause genossen habe.‹

Auf diese Weise«, schloß Karl Rank seinen Bericht, »habe ich erfahren, was ich weiß. Ich machte mich fertig und wartete. Ich hatte eine Ahnung, daß du durch den Garten kommen würdest. Und du kamst.«

»Ja«, erwiderte Harro, »da bin ich. Aber was für einer – ein Davongejagter.« Und er erzählte, was sich in der Hinterstube der Kanzlei ereignet hatte, dem Freunde nicht viel Neues.

Ein Weilchen stand er und schaute nach seines Vaters Haus zurück. Die Dächer und Mauern waren durch das Wäldchen, worin der Garten auslief, verdeckt, nur der Giebel der hohen Scheune und das weiß umrandete Einauge darin sichtbar, die schauten in einer Art erhabener Ruhe auf die jungen Leute herab.

»Das ist recht, Harro«, sagte Rank. »Sieh dir den alten Giebel an, du scheidest für lange Zeit.«

»Ich fürchte, für immer.«

»Das glaube ich nicht, lieber Freund«, war die Antwort. »So sehr alt sind wir ja beide noch nicht, und deines Vaters Gesundheit verspricht noch viele Jahre. Die Zeit wird natürlich rollen, aber ich hoffe, du wirst den Giebel und auch den Vater in Frieden wiedersehen.«

»Wie kann ich, wenn er mich nicht ruft?«

»Vielleicht tut ers, oder es findet sich ein Ausgleich.«

»Wo sollte der herkommen?«

»Bin nicht allwissend und auch noch jung. Aber was ich bisher von der Welt gesehen und erfahren habe, hat meinen unschuldigen Kinderglauben an irgendeine Beständigkeit der menschlichen Dinge und Ansichten ausgereutet. Und mein Vater, der noch einen ganzen Packen Erfahrung mehr auf dem Nacken trägt und viel klüger ist als wir beide, behauptet, je älter der Mensch, um so geringer werde seine Wertschätzung aller mit tausend Eiden bekräftigten Gesinnungen. Das ist auch der Grund, weshalb ich Gott in unser Inneres verlege.«

»Wenn man dich und deine Weisheit hört«, entgegnete Harro, »dann könnte ich nichts Klügeres tun, als meinem Vater zu Füßen fallen mit dem Bekenntnis, ich glaube an den Dreieinigen des Apostolikums. Wenn alles nichts ist, dann gilt auch die Wahrheit nichts.«

»Rede nicht so, es ist ja nicht dein Ernst, lassen wir die ›Wahrheit‹. Zu den Dingen um uns her kann sich unser Verhältnis ändern, feststehend allein ist das zu uns selbst. Das heißt, es soll feststehen; mit anderen Worten: ehrlich und wahr gegen uns selbst sollen wir bleiben, wie immer wir uns sonst auch wandeln. Wahrheit vor dem eigenen Angesicht, das ist es. Mithin: wenn dir das Gottesbekenntnis, das dir die Tür der Kanzlei und die Arme des Vaters öffnet, nicht aus dem Herzen quillt, dann ist es besser, es bleibt bei dem Riß.«

»Da ich mit dir einverstanden bin in dem, was man von sich selbst fordern muß, fürchte ich, wird die Kluft sich nicht schließen.«

»Abwarten! Vorderhand winken neue Bahnen!«

»Du hast gut reden«, war die bitter klingende Antwort.

»Ja, unsere Partien sind ungleich. Ich rede und rate und habe ein Heim und einen Vater, der freilich mit den alten Überlieferungen noch ein bißchen freier umgeht als ich, mich aber doch versteht, wie einer. Dafür aber winkt dir der Weg zum Ruhm. Vor einem Jahr schon, als deine Abhandlung erschien, glänzende Angebote, sogar von jenseits des großen Teichs. Und da sollte es fehlen können, mit solchem Zeugnis in der Tasche?«

Der andere antwortete nicht, sie verfolgten rüstig die Chaussee. Und wieder sprach Rank:

»Wir Jungen blähen uns als Wahrheitsucher. Da hätte ich gerne für einen Augenblick ein wenig Allwissenheit, wie der große unbekannte Gott sie hat, um zu sehen, wer eigentlich am weitesten in die Irre geht, wir Jungen oder die Alten. Ich bin ja freilich Theologe und gebe dem einzelnen Christen den weitesten Raum, sich mit dem Unfaßbaren auseinanderzusetzen, lasse sogar den alten Glauben gelten, aber vielleicht grabe ich grade deshalb dem alten Kirchenglauben noch mehr das Wässer ab als ein Laie, der ein glatter Gottesleugner ist. Und bei alledem habe ich Augenblicke, wo mich Ehrfurcht durchschauert vor einer Weltanschauung, die so geschlossene Menschen schuf, wie dein Vater ist, vor einem Glauben, worin unsere Väter und Urväter ein Jahrtausend glücklich gelebt haben und selig gestorben sind. Darin muß, so denke ich manchmal, nicht allein ein starker Wesenskern stecken, sondern auch etwas, worüber die vor uns allen verschleierte Wahrheit hinüber geleuchtet hat. Ich denke und denke – ich weiß nicht, was ich denke. Ich denke an deinen Vater, an seine in Bronze gegossene Frömmigkeit, und Mitleid überkommt mich mit unserem entzweigerissenen Frieden.«

Harro antwortete nicht.

»Wahrheit!« fuhr Rank fort. »Die alte Pilatusfrage. Was ist der letzte Sinn der Welt? Wir werden es aus den von Menschen geschriebenen Büchern niemals lernen.«

Harro lächelte. »Ja, wenn auch du zweifelst, dann ist es doch wohl am besten, den verlorenen Sohn zu spielen. Das Kalb ist geschlachtet. – Aber ich bin nicht deiner Ansicht«, setzte er hinzu. »Ich will die Hoffnung nicht aufgeben, daß es der Wissenschaft gelingen wird, die letzten Bollwerke des Welträtsels zu sprengen.«

»Und den Sinn und Ursprung der Welt klarzulegen?«

»Den Ursprung, ja – den Sinn, nein! Ich glaube an keinen über unsere Erscheinungswelt hinausgehenden Sinn der Welt.«

»So sagst du, und das ist, was uns trennt.«

»Leider!«

»Ja leider«, entgegnete der Pastor. »Und warum glaubst du nicht an einen Sinn der Welt?«

»Weil wir Naturforscher nirgendwo auf die Andeutung eines Zweckes stoßen.«

Rank stand still und sah seinem Freund ins Auge. »Weißt du, was du bist?« fragte er.

»Was denn?«

»Ein Pfaffe, ein Zelot bist du!«

»Du beliebst zu spaßen.«

»Nein und ja. Ihr nennt unsere orthodoxen Theologen so. Warum? Weil sie uns zwingen wollen, ihre metaphysische Phantastik, oder vielmehr die der strengen Kirche, über den Sinn der Welt, das heißt über das, was hinter unserer Erfahrung liegt, als unsere Überzeugung anzunehmen, unter Androhung ewiger Höllenstrafen. Die Naturforscher deiner Sorte wollen uns auch zwingen, wenn auch nicht gerade mit Höllenstrafen, sondern indem sie uns ein bißchen Hohn und Spott, die Merkmale und Kainszeichen der Dummheit und Rückständigkeit, androhen, und wenn auch die Nötigung nur dahin geht, alles über das Sinnfällige, Greif- und Meß- und Wägbare Hinausgehende zu leugnen.«

»Ganz recht«, erwiderte Harro. »Nur ist nicht zu vergessen, daß wir die Kräfte der Natur scheiden, wägen, messen und mit ihnen rechnen, wahrend die Kirche, wie du ganz richtig sagst, nichts tut als phantasieren.«

»Kann zugegeben werden«, war die Antwort. »Aber euer Messen, Wägen, euer Trennen und Verbinden geht nicht über die Welt der Erscheinung, der Erfahrung hinaus, kann naturgemäß nicht darüber hinausgehen, während es sich doch um Gebiete handelt, die unserer Erfahrung verschlossen sind.«

»Diesen Ladenhüter unter den Beweismitteln der Idealisten bewahrt ihr sorgfältig wie ein rohes Ei ... hauptsächlich seit Kant«, spottete Harro.

»Kein rohes Ei, Harro, eine Nuß, eine harte Nuß, auf die ihr euch vergebens die Zähne zerbeißt.«

Harro Horsten brach das Gespräch ab, er wendete sich der Umgebung zu: »Da ist Harbecks Kate, und hier sind die Liether Berge. Unsere Straße windet sich hindurch. Ein letzter Blick nach der Kanzlei ... Man sieht von ihr nichts als Bäume, von den Gebäuden allein den Giebel der großen Scheune. Das Einauge aber verschwindet und verflimmert in bläulicher Luft ...«

»Na, Harro! Wat is dat, all weller weg?« Eine Stimme rief es über den Zaun aus Lena Harbecks Garten; da stand sie auch selbst, einen Spaten in der Hand. »Dat weer jo 'n korten Besök!«

Als das Haus noch ihrem Vater gehörte, diente sie ein paar Jahre auf der Kanzlei und verhätschelte den kleinen Harro, wo sie konnte. Als ihn seine Beinchen so weit trugen, nahm sie ihn mit nach der Lieth, wenn sie ihre Eltern besuchte. Daran erinnerte sich Harro gern, denn auf der Lieth war er Hahn im Korbe, und was er dort zu essen bekam, hatte den würzigen Rauchgeschmack, den er so sehr liebte.

»Bringst din Kameraden wull blot betjen lang?« berichtigte sie ihre Frage.

Die jungen Leute standen still und Harro sprach eine Weile mit Lena Harbeck. Sie war eine im Beginn der Fünfziger stehende Frau, ihr Haar fing an, die Farbe zu verlieren, aber ihr Gesicht war gesund und fröhlich.

Zum Abschied gab Harro ihr die Hand. Mit dem Wiederkommen, sagte er, könnte es doch wohl noch ein bißchen dauern. Das verstand Lena Harbeck nicht, fragte aber nicht weiter nach.


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