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Zweiter Teil

1

Ein paar Jahre waren vergangen, der Reisemeister war nahezu die ganze Zeit in Lohe verblieben, bevor ein Lehrer fest angestellt worden war, dem er dann freiwillig Platz machte. Bei seinem Umgang war Daniel ein kluger und unterrichteter Knabe oder, wenn man will, ein junger Mann geworden. Nun hatte Frahm sein Bündel geschnürt und war wieder in die Weite gegangen. Wohin? Genau hat er es vielleicht selbst nicht gewußt, zu Daniel Dark aber gesagt: »Wir bleiben Freunde, und dich behalte ich im Auge.«

Die Zeit war vergangen; in der Dorfschule war Daniel überreif geworden, endlich hatte er das siebzehnte Lebensjahr vollendet und noch ein paar Monate darüber gelebt, nun kam für ihn die Zeit der Konfirmationsgänge ›zum Priester‹. Und jenseits der Priestergänge und der Konfirmation stand der Wegweiser am Scheideweg seines Lebens: hie Lohfelderkamp – hie die Hand, deren Finger in die Welt weisen, das heißt in die Gelehrten- und Bücherwelt.

Ja, der Wegweiser am Scheideweg seines Lebens. Ein wichtiger, ein entscheidender Punkt, Daniel Dark aber sah auf ihn allein mit der Sehnsucht eines eilfertigen Wanderers.. So wenig war jemals in seiner Seele das Gedenken einer Möglichkeit aufgekommen, als ob er vor der Wahl des Weges bangen und zweifeln könne.

Vorderhand ging es ›zum Priester‹.

Die Kirche, zu der Lohe und Lohfelderkamp gehörten, war mehrere Stunden entfernt. Der Weg ging auf der Höhe an der großen Niederung hin, und erst ein halbes Stündchen vor dem Ort bog er landeinwärts in südlicher Richtung ab.

Die Niederung der Wiesen gleicht in ihrer Flachheit einem von keinem Windhauch bewegten Meer. Die Rauheit und Wüstheit der Hochmoore verdämmert am Horizont, buchtenreich nagt das Wiesenmeer an den Ufern der Höhe, bei Bachläufen tiefer hineingreifend, von Vorgebirgen weiter zurückgedrängt, einsame Inseln und Inselgruppen umfließend und überall von Busch und Baum umdrängt.

Derweilen schneidet die Landstraße die größten Umwege ab, verschwindet hinter Knick und Hecke, freut sich aber um so mehr der Freiheit, wenn sie wieder hervorgekrochen ist und aufjauchzend den Anblick der Ebene wiederfindet.

Und nun geht es zum Priester, eine junge lustige (die Mädchen gehen ihren eigenen Weg) eine lustige Knabenschar.

Ein langer schlandriger Junge ist unter ihnen, älter als die anderen, größer als alle und, man sagt, auch klüger als sie, die Leuchte der Volksschule von Lohe, und er heißt Daniel Dark.

Daniel Dark will Priester werden, es trägt ihm Spott und Neckerei, aber auch eine Art Achtung ein.

Daniel Dark ist anders als seine Kameraden, möchte aber gerne sein wie sie. Und deshalb macht er den Weg über Lohe mit, obgleich der Fußsteig über die Schleuse näher gewesen wäre.

Der große Weg, nun auch sein Weg, floß mit dem großen Zug der Kirchspielkonfirmanden zusammen, und je weiter, um so mehr schwoll er an. In Westerhorn und Osterhorn saßen wohlhabende Bauern, deren Söhne nach der Einsegnung die Ackerbauschule besuchten. Die waren noch ziemlich ruhig und gesittet. Aber was aus der hallenden Einsamkeit der hinteren Walddörfer kam, war ›von Europas Höflichkeit nicht übertüncht‹.

Nicht weit von Westerhorn führt der Weg durch einen Zipfel der freien Heide. Es ist ein bewegtes, in wilden Wellenbergen hingeworfenes Dünenfeld. Der höchste Berg ist der sogenannte Bramberg, spärlich von Sandhafer bewachsen, beschwerlich gangbar; selbstverständlich lockte just das die junge Brut.

Zu Ostern wird die Einsegnung stattfinden, noch ist es Winter, aber der Winter gehört zu denen, die eigentlich keine sind. Die Schäftenstiefel der jungen Knaben sind gut eingefettet ... hinauf auf den Berg!

Von Bramberg aus geht das Auge über die große Ebene hin. Die Gemarkung Lohe liegt auf einem großen, nach Norden vorstoßenden Vorgebirge. Lohfelderkamp sieht man nicht; wer ein gutes Auge hat, mag aber das aufstrebende Schleusenjoch unterscheiden. Erst wenn der Blick mehr auf die Nähe eingestellt ist, gewahrt man das zwischen Heide und Wiesen verlaufende Vorland mit seinen Hecken und Äckern und Wäldern. Rechts vom Gehölz steigen Schornsteine auf, Dächer ragen empor, das ist der Bauernhof ›Reiherwisch‹. Und das, was dahinter aufblänkert, ist der dazu gehörige Teich. Früher hat eine Wassermühle zu Reiherwisch gehört, die ist jetzt außer Betrieb. Sie war im Grund, ist auch wohl noch da, aber zu tief gelegen, um von hier aus gesehen zu werden.

*

Reiherwisch gehörte lange zu der Sorte halbherrschaftlicher Besitzungen, womit die ehrenwerte Gesellschaft der Gütermakler Fangball spielte, sie kaum aus den Händen lassend. Und immer und immer wieder fiel ein wohlhabend und doch nicht geschäftsklug gewordener Städter auf die Anpreisungen hinein, zu teuer kaufend und vor allen Dingen glaubend, die Landwirtschaft, deren Betrieb gute technische Kenntnis und viel persönliche Entsagung erfordert, spielend, ohne Sachkunde, als gemächlicher Lebemann betreiben zu können. »Sorgenloser Genuß eines freien Lebensabends nach schwerer Tagesarbeit« – nannte es ein großer kahlköpfiger Makler gegenüber solchen Leuten, die nicht alle werden. Wie mancher war wie ein Adler durch die Lüfte gekommen und nach nicht langer Frist mit gebrochenen Schwingen davongehupft!

Nun war ein Arnold Springe Eigner von Reiherwisch, auch im rauschenden Federkleide nach Reiherwisch geflogen, noch immer glaubend, ein Adler zu sein. Und die Bauern der Umgegend waren auch zweifelhaft, ob er vielleicht doch nicht einer sei. »Ist Reiherwisch zu halten«, sagten sie, »Springe wird es fertig bringen. Das meiste hat er auszahlen können, und er hat nur ein Kind. Vom ›Bauern‹ versteht er freilich nicht viel, aber er kümmert sich doch und fragt Nachbarn und will doch. Bei Gastereien freilich, da schlägt er hintenaus und wird wild, dann kann es kommen, daß er am Spieltische hohe Einsätze macht. Und wenn ihn etwas zu Fall bringen wird, dann ist es das. Aber noch gehts, für gewöhnlich kann er für einen haushälterischen Mann passieren.«

Arnold Springe war noch kein alter Mann, eben fünfzig. Aber allgemach stieg doch die purpurne Abendröte des Feiertags herauf. Als mittelloser Bäckergeselle hatte er die Tochter seines Meisters geheiratet, hatte das Geschäft gut geführt, war zu Vermögen gekommen, hatte sich gut mit seiner Frau vertragen und hätte es noch besser getan, wenn er nicht eine Schwäche für das Spiel gehabt hätte. Nun hat das Spiellaster etwas Ansteckendes, wie eine Krankheit geht es im Lande hin und her. Als Springe seine Frau verlor, hatte der Bazillus sich in den Handwerkerkreisen der Stadt festgesetzt. Seine getreue Frau hat ihn auf dem Totenbett gebeten, der Versuchung aus dem Wege zu gehen, das Geschäft aufzugeben und aufs Land zu ziehen.

So ist Arnold Springe nach Reiherwisch gekommen. Seine Frau hat er zwar aufrichtig betrauert, aber ein lebenslustiger Mann ist er noch immer. Und als solcher ist er in rauschendem Federkleid nach Reiherwisch geflogen.

*

Arnold Springe war Herr von Reiherwisch, und die Konfirmanden standen auf dem Bramberg und sahen hinunter und hinüber nach dem Hof.

»Junge, ja«, sagte Hannes Schulz, er war aus Westerhörn und sein Vater Schütter, will sagen Flurhüter. Er spuckte in den Sandhafer und wiederholte: »Junge, ja, wenn ich dem sein Geld hätte!«

Es entspann sich ein Gespräch, was man dann anfangen wolle. Es waren törichte Pläne; der eine wollte nichts tun, als im Kahn auf dem Wasser fahren, der andere wollte sein Lebelang fischen und der dritte Tag für Tag auf Jagd gehen. Verständiger war jedenfalls, was Krischan Hell, ein Bauemsohn aus Westerhorn, sagte. Er wollte die Wassermühle wieder laufen lassen. Noch vernünftiger schien der Hökersohn Wille, er meinte, dabei komme nichts heraus, Reiherwisch sei zu abgelegen. Auf den Kram passen und auf die Landwirtschaft, das sei die Hauptsache. Daniel wurde auch gefragt, er erklärte, das sei eine Sache, die reiflich überlegt sein wolle.

Sie hatten sich satt gesehen und stiegen vom Bramberg wieder zur Straße hinab. »Wißt ihr was?« fing Wille wieder an: »Springe seine Tochter kommt auch nach dem Priester. Ich glaube, die ist viel älter als die Deerns sonst.«

»Wieso?« fragte Daniel.

»Ja, man sagt, ihr Vater hat sie erst gar nicht konfirmieren lassen wollen.«.

Es wurden Fragen laut, ob das angehe und ob das erlaubt sei, aber in demselben Augenblick hörten die Knaben hinter sich Pferdeprusten und Stoßen von Wagenrädern im weichen Geleise. Sie sahen sich um – »da kommt ihr Wagen«, sagte Hannes Schulz, und das hatte seine Richtigkeit.

Ein Fuhrwerk überholte sie und fuhr rasch vorüber, ein gelber Federwagen mit zwei Stühlen. Flinke, braune Pferde in gehobener Stimmung, nicht umsonst trugen sie Silbergeschirr und breite Scheuklappen. Im Vorderstuhl eine Mannsperson und im Hinterstuhl zwei Frauengestalten mit wehenden Schleiern.

Ein junges Ding, mehr Mädchen- als Kinderangesicht, ließ ein paar neugierige Augen über die Knaben hingehen und sah namentlich den langen Daniel ein wenig verwundert an. Und Daniel gab den Blick zurück, nicht länger als eine Sekunde. Es waren große kastanienbraune Augen, er hatte eine merkwürdige Freude an diesen Augen und zugleich ein merkwürdiges Weh.

Daniel Dark war freilich mehr Jüngling als Knabe, für das Mädchenvolk hatte er sich aber bisher nur als Beobachter ihrer Eigentümlichkeiten interessiert. Knaben prügelten sich, wenn sie nicht spielten, und selbst beim Spielen war oft nicht zu unterscheiden, ob sie sich prügelten oder aus Spaß raufen. Mädchen waren mehr für Liebe und Freundschaft. Wo zwei zusammengingen, hakten sie sich ein und gingen Arm in Arm. Und wenn ihnen eine dritte begegnete, wurden aus den Zwillingen Drillinge. Und im Schulweg verlängerte sich und vergrößerte sich die Kette immer mehr. Jede kleine Deern wollte teilhaben an der Elektrizität der Liebe und Freundschaft, die durch solche Mädchenkörper strömt.

Zum ersten mal hatte er bei einem jungen Mädchen anderes, ganz anderes gedacht. Der Herr im Borderstuhl saß da, behäbig, Hut mit breitem Rand, weißgelber sogenannter Rattensteert als Peitsche. Vom Frauenstuhl die jungen Augen und ein heller Schleier. Trübes, aber ruhiges Wetter, der Schleierzipfel in drehender, bohrender Bewegung nachflatternd. Daniel Dark deuchte, es sei eine weiße, weiche, winkende, ihm winkende Hand.

Der Mann im breiten Hut hatte nach der Knabenschar hingeschaut, sie freundlich angelacht, wobei weiße Zahne aus seinem brauen Vollbart geleuchtet hatten. Und hübsch und schlank und freundlich hatte die Junge da gesessen, ein feines Lächeln um den Mund.

Das Lächeln erinnerte Daniel Dark an die Hökerfrau Grete Wille, mit der sie doch sonst gar keine Ähnlichkeit hatte. Grete Wille konnte auch so fein vergnügt auf die Kinder sehen, die sich an ihre Hökerbank drängten. »Ein paar Schillinge,« sagte das Lächeln, »sind in eurer Tasche, nicht lange, und sie werden in meiner Ladenkasse sein.« – »Deine noch dunkle Liebe«, sagte Helene Springes Lächeln, »wird, wenn ich will, zur hellen Liebesflamme werden, mir gehören. Und ich ...« Was sie selbst tun werde, das behielt das Lächeln, indem, es den Faden abriß, für sich.


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