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Im weiten weißen Moore

Seit dem ersten Frost gab es nichts Helles mehr im Moore, als die weißen Stämme der Birken und die beiden runden Weidenbüsche, deren Fruchtkätzchen die silberne Samenwolle behalten hatten im Gegensatze zu allen anderen Weidenbüschen.

Der Post hatte seine roten Blätter verloren, die Birken mußten ihr goldenes Laub fortgeben, die sauren Wiesen waren abgefroren, und so lag das Moor stumpf und tot da.

Alle seine lustigen Vögel waren verschwunden, alle die hellen Gestalten, die es im Sommer belebten. Keine weiße Weihe strich mehr über den Post, kein Kiebitz gaukelte mehr über den Wiesen, selbst das Birkwild verschwand, und die Krähen zogen fort nach der Geest. Allen war es zu kalt und zu naß im Moore.

Tagelang sang dann der Nordwestwind dort seine grämlichen Lieder; wenn die Sonne mit rotem Gesichte über die Heidberge kam, stürmte er ihr entgegen und langweilte sie so lange mit seinem öden Gesinge, bis sie ärgerlich hinter den grauen Wolken verschwand. Dann hatte der Wind wieder Oberhand und goß Wasser über das Moor.

Da kam der Mond der Sonne zur Hilfe; er brachte den Südostwind mit; der jagte die Wolken vom Himmel und trocknete das Wasser im Moore auf, und eines Morgens war das ganze Moor silberweiß von Rauhreif, so silbern, so weiß, daß die weißen Birkenstämme und die beiden silbernen Weidenbüsche völlig verschwanden.

Aber schon mittags war der trübsinnige Wind aus Nordwesten wieder da; er wischte mit langen nassen Nebellappen den Silberreif von Baum und Busch, Heide und Halm, schnaufte im Risch, stöhnte in den Ellern wehleidig und weinerlich und verleidete den wenigen Vögeln, die in das Moor zurückgekehrt waren, die Heimat wieder. Nur der Hühnerhabicht, der Strauchdieb, fühlte sich in der grauen Luft wohl und mordete den lustigen Häher und den zutraulichen Gimpel.

Und dann wechselte das Moor wieder sein Kleid; um den vollen Mond sammelten sich dicke, gelbe Wolken, die alle Sterne verhüllten, und um Mitternacht fielen weiche, weiße Flöckchen herunter, blieben an den Halmen hängen, an des Postes Kätzchen kleben, hafteten an dem Heidkraut, fielen auf die Fuhren, überwallten die Wacholder, umbanden die Birken, umwanden die Weiden, hüllten das ganze Moor in ein weißes Kleid.

Mit der Sonne kam ich über die Geest; blau lief mein Schatten vor mir her auf dem Fahrweg durch die Heide, auf dem Knüppeldamm durch das Holz. Gestern war alles grau und braun und fahl und düster und trübe und still und tot, heute ist die Welt hell und heiter und laut und lustig: in den verschneiten Fuhren schwatzt der Häher, in den jungen Birken lockt der Gimpel, in den Fichten lärmen die Meisen, und der klare Bach am Wege, der gestern so schläfrig floß, sprudelt munter durch die moosigen Irrblöcke, die die Brücke über ihm bilden.

Das ist ein wunderschöner Platz; zwei hohe alte Fichten, regelmäßig gewachsen und über und über mit roten Zapfen behängt, halten dort Wacht; um ihre Wurzeln kauern sich gespenstige Wacholder, spreizen sich unheimliche Stechpalmen, leuchtend von feuerroten Beeren; und der Spindelbaum neben ihnen ist über und über mit rosenroten Kapselchen behängt, aus denen die gelben Samenkörner grell hervorleuchten.

Hier hat die Heide ein Ende, hier hört der Wald auf, und hier ist die Grenze zwischen dem bunten Leben und dem weißen Tod. Meisenflüge schnurren durch die verschneiten Fichten; braune, graue, bläuliche Federbällchen, gelbbäuchig, weißbackig, langgeschwänzt und spitzgehäubt, kobolzen durch die Äste, hängen sich an die Zweige, daß der Schnee pulvert und rieselt; ein Buntspecht klopft an einen Tannenzapfen, eine Eichkatze wirft große Schneebälle herab, eine wilde Taube klappert fort, Goldammern zirpen über den verschneiten Knüppeldamm, Häher lärmen in der Fuhrendickung, ein Zaunkönig krispelt in dem gelben Adlerfarn herum; ein Dutzend Gimpelhähne fallen flötend in den Birken ein, ihre roten Brüste schimmern in den Zweigen wie märchenhafte Blumen, mit scharfem Schrei fährt der Eisvogel den Bach entlang, ein Blitz aus leuchtendem Blau und funkelndem Grün.

Keines von all den bunten, lauten lustigen Wesen geht mit mir in das Moor, das weiß, kalt und tot vor mir liegt, endlos und ohne Grenzen. Ein neues, unentdecktes Land ist es heute; keines Menschen Fußspur hat seine Schneedecke gefurcht; auch Reh und Hase, Otter und Fuchs, Marder und Iltis haben hier keine Zeichen hinterlassen; der erste Schnee ängstigte sie, und verschüchtert blieben sie in ihren Löchern und Lagern. Jetzt, nachdem die Sonne auf dem Moor liegt und es mit schwachen blauen Schatten und gelblichen und rosigen Tönen färbt, regt sich schüchtern ein wenig Leben.

Eine Krähe quarrt über die Einöde, zwei Birkhähne sausen über die Wüste, drei Enten klingeln der Aller zu; hier und da treten die Rehe aus den braunen Postbrüchen, aus den dunklen Ellernrieden, aus den gelben Rohrdickichten, verbeißen die braunen Blütenknospen, scharren den Schnee von den Grabenrändern und suchen ein grünes Blatt, ein frisches Kraut. Riesengroß und dunkel heben sie sich von der Schneefläche ab.

Hier vorne im Moor, unter dem Holze, hat die Sonne noch etwas Kraft; selbst in die Ruhe des ersten Wintertages bringt sie Bewegung. Es tropft von den Ästen, fällt von den Zweigen, stäubt aus den Kronen und rieselt aus den Nadeln. In der kleinen Bachbucht sind die schwarzen Wasserläufer lebendig, die blanken Taumelkäfer blitzen und die Ellritzen schießen jäh zwischen dem schwarzen Kraut hin und her über den hellen Kiesgrund.

Hinter der Ellernriede aber, die den Bach umsäumt, hört alles Leben, alle Bewegung auf; je weiter ich in den weißen Schnee hineinwate, je tiefer ich in das Moor komme, desto fremder, unbekannter und rätselhafter wird es mir. Ich kenne jeden Weg und jeden Steg hier, jeden Graben und jeden Pfahl, jeden Busch und jeden Baum, aber in seiner Schneevermummung sieht jedes Ding heute anders aus.

Aus den dunklen Schirmfuhren sind weiße Riesenpilze geworden, die mürrischen Wacholdermännchen haben weiße Hemden angezogen, die braunen Gräben füllt ein grauweißer Brei, die einsamen Viehställe sind ganz untergetaucht unter ihrer Schneebekleidung, und das weite braune Postmoor ist versunken in der weißen Decke und verschmilzt an seinen Rändern ganz und gar mit der grauweißen Luft.

Mit lautlosen Schritten geht die Stille durch das Moor; kein Vogellaut ertönt. Der Angstschrei der Bekassine, die ich aufjagte, verweht im Nu, des Neuntöters Warnruf verschwindet in der Lautlosigkeit, des fernen Dampfers dunkles Geheul scheint nur ein Wahn zu sein, und das verstohlene Gemurmel des Ellernbachs ist nach drei Schritten vergessen. Weiße Stille, stumme Weite, unendliche Lautlosigkeit, regungslose Ruhe ist rund um mich her, vor mir, hinter mir, über mir, unter mir und zu meinen Seiten.

Die Sohlen der langen Krempstiefel drücken lautlos den Schnee nieder; streift der Kolben der Büchse einen Busch, so fällt der Schnee lautlos herab, lautlos trabt der Hund hinter mir her, lautlos huscht ein weißes Wiesel in den Weidenhorst, lautlos ziehen die Rehe über die Wiesen, lautlos flattert eine Rohrammer von Busch zu Busch vor mir her.

Jeden Laut hat die weite Stille aufgesaugt, jede Farbe ist darin untergegangen; es gibt nur blendende Farblosigkeit und dunkele Flecken, die sie noch mehr entfärben; die blauen Schatten der Fuhren, die gelblichen und rosigen Lichter in der Ferne sind zu zart, um Farbe in die Farblosigkeit zu bringen, und je weiter ich wandere, um so stärker wird das Gefühl in mir, als wäre ich blind und taub und stumm, als wäre ich selber nur ein Schatten, und ab und zu bleibe ich stehen, sehe zurück und überzeuge mich, daß meine Schritte Spuren hinterlassen.

Und weiter und weiter geht es, an todeinsamen Birkenwäldchen vorbei, in denen nicht eine Meise lockt, vorüber an tiefverschneiten Fichtenhorsten, in denen kein einziges Goldhähnchen piept, auf engen Stegen durch die schneebeschwerten Postdickichte, in denen keine Spur munteren Lebens sich zeigt, über die weißbedeckten Wiesen, deren Eintönigkeit keines Strauches hellblauer Schatten unterbricht, an dem Moorgraben entlang, dessen langsames Wasser nicht das leiseste Geräusch macht, an gelbem Rohr, dessen starre Blätter keinen Flüsterton wagen.

Weit, weit weg hallt ein Schuß; häßlich klingt er mir. Ich bin ja hier im Moore, um zu jagen, und die Tage vorher habe ich mich niemals besonnen und schnell den Finger krumm gemacht.

Heute möchte ich das nicht. Vor mir stehen die Rehe; leicht wäre es mir, mich an sie heranzupirschen, der Wind ist gut, die Ellern lassen mich unsichtbar sein, und der Schnee macht meine Füße lautlos.

Aber ich mag nicht schießen; ich scheue den Donner des Schusses in dieser weißen Stille, des Hundes giftigen Hals bei der Hetze in diesem geheimnisvollen Frieden, und die hellroten Flecken auf der keuschen Reinheit in diesem weiten weißen Moore.


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