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Zweites Kapitel

Über die verschiedenen Staatsformen und die des römischen Staates

Ich sehe von den Staaten ab, die ursprünglich in Abhängigkeit standen, und rede nur von denen, die von Anfang an frei von jedem fremden Joch waren und sich nach eigenem Gutdünken als Republiken oder Monarchien regierten. So verschieden ihr Ursprung war, so verschieden waren auch ihre Gesetze und Einrichtungen. Einige erhielten ihre Gesetze bei ihrer Gründung oder nicht lange nachher von einem einzigen und auf einmal, wie Sparta von Lykurg. Andre empfingen sie bei Gelegenheit und nach und nach, je nach den Ereignissen, wie Rom. Glücklich der Staat, der einen Weisen hervorbringt, der ihm bleibende Gesetze gibt, unter denen er lange Zeit sicher leben kann! Über achthundert Jahre hat Sparta die Gesetze Lykurgs befolgt, ohne sie anzutasten und ohne daß eine gefährliche Umwälzung stattfand. Weit schlechter daran ist ein Staat, dem kein weiser Gesetzgeber beschieden ward, und der sich selbst eine neue Ordnung geben muß. Am unglücklichsten aber ist der Staat, wo am wenigsten Ordnung herrscht, und das ist der Fall, wenn seine Einrichtungen ganz vom geraden Wege abweichen, der ihn zum wahren Ziel der Vollkommenheit führen kann. Denn befindet er sich auf dieser Bahn, so ist es fast unmöglich, daß er durch irgendein Ereignis wieder ins Geleise kommt. Ist die Einrichtung der andern auch nicht vollkommen, so haben sie doch einen guten Anfang gemacht, der einen Fortschritt erlaubt, ja sie können durch günstige Umstände zur Vollkommenheit gelangen, allerdings nicht ohne Gefahren. Denn die Mehrzahl der Menschen stimmt einem neuen Gesetz, das eine Neuordnung im Staatswesen bezweckt, nur dann zu, wenn sie dessen Notwendigkeit einsehen, und da diese Notwendigkeit nur bei Gefahr eintreten kann, so geht der Staat leicht zugrunde, bevor er seine Vollkommenheit erlangt. Einen schlagenden Beweis dafür bietet die Republik Florenz. Sie wurde durch die Vorfälle in Arezzo im Jahre 1502 neu befestigt und durch die Ereignisse in Prato im Jahre 1512 umgestürzt. S. Lebenslauf, 1502. Die Vorgänge in Arezzo bewirkten in Florenz eine Verbesserung der Verfassung und die Wahl eines lebenslänglichen Oberhauptes. Für die Ereignisse in Prato s. Lebenslauf, 1512. Damit fand der Freistaat ein Ende.

Untersuchen wir nun die Staatsordnung Roms und die Umstände, durch die es zur Vollkommenheit gelangte. Einige politische Schriftsteller Insbesondere Polybios. Das folgende bis zum fünften Absatz ist dem 6. Buch seiner »Geschichte der Ausbreitung der römischen Herrschaft 220-146 v. Chr.«, Kap. III, 5, IV, 6-10, V, 7, 10, VI, 6f., VII, 6-9, VIII, 1-6, IX, 1-3,10, teils wörtlich entnommen. Der Streit, ob Machiavelli das griechische Original benutzt hat, d. h. ob er so viel Griechisch verstand oder eine ungedruckte lateinische Übersetzung benutzte, ist unentschieden. nehmen drei Regierungsformen an, nämlich die Monarchie, Aristokratie und Demokratie, für deren eine sich der Begründer eines Staates je nach der Zweckmäßigkeit entscheiden müsse. Andre dagegen, und nach der Ansicht vieler die Klügeren, sind der Ansicht, daß es sechs Regierungsformen gibt, von denen drei abscheulich, die drei andern an sich zwar gut seien, aber so leicht ausarteten, daß sie gleichfalls verderblich würden. Die guten sind die drei oben genannten, die schlechten sind drei andere, die aus ihnen entstehen. Jede von ihnen ist der, aus der sie entsprungen ist, so ähnlich, daß der Übergang von der einen zur andern sehr leicht ist. Denn die Monarchie artet leicht zur Tyrannei, die Aristokratie zur Oligarchie und die Demokratie zur Zügellosigkeit aus. Führt also der Begründer eines Staates eine der drei ersten Formen ein, so ist es nur für kurze Zeit. Es läßt sich durch nichts verhindern, daß sie in ihr Gegenteil umschlägt, denn Tugend und Laster wohnen hier dicht beieinander.

Diese verschiedenen Regierungsformen sind durch Zufall entstanden. Im Anfang der Welt, als die Menschen noch spärlich waren, lebten sie zerstreut wie die Tiere. Später, als ihr Geschlecht sich vermehrte, schlossen sie sich zusammen und begannen, um sich besser verteidigen zu können, den Stärksten und Tapfersten unter ihnen zu achten, machten ihn zu ihrem Oberhaupt und gehorchten ihm. Daraus entsprang der Begriff des Edlen und Guten im Gegensatz zum Schädlichen und Bösen. Denn man sah, daß aus dem Unrecht, das einer seinem Wohltäter zufügte, Haß und Mitleid entsprang, daß die Undankbaren getadelt, die Dankbaren aber geehrt wurden; auch sagte sich jeder, daß ihm die gleiche Unbill selbst widerfahren könnte. Um ähnlichen Übeln vorzubeugen, entschloß man sich, Gesetze zu schaffen und ihre Übertretung zu strafen. Hieraus entstand der Begriff der Gerechtigkeit. Wie Ellinger (l. c.) betont, entspringt bei Machiavelli der Sittlichkeitsbegriff erst aus dem Gesetz, bei seinem Vorbild Polybios leitet er sich schon aus dem persönlichen Nutzen und Schaden ab, aus dem das Gesetz entsteht. Infolgedessen sah man fortan bei der Wahl eines Oberhauptes nicht mehr auf den Tapfersten, sondern auf den Klügsten und Gerechtesten. Als man aber später den Fürsten durch Erbfolge und nicht durch Wahl bestimmte, begannen die Erben sofort auszuarten, vergaßen die Tugend ihrer Vorfahren und wähnten, die Fürsten hätten nichts weiter zu tun, als die andern in Pracht, Schwelgerei und jeder Art von Üppigkeit zu übertreffen. So wurde der Fürst verhaßt und begann sich wegen dieses Hasses zu fürchten. Von der Furcht ging er bald zu Gewalttaten über, und so entstand bald Tyrannei. Vgl. Herodot III, 82.

Das war der Anfang der Umstürze, der Meutereien und Verschwörungen gegen die Fürsten. Deren Anstifter aber waren nicht die Furchtsamen und Schwachen, sondern die Edelmütigsten, Hochherzigsten, Reichsten und Vornehmsten, die das schimpfliche Leben des Fürsten nicht ertragen wollten. Die Menge folgte dem Ansehen dieser Mächtigen, erhob die Waffen gegen den Fürsten, vertrieb ihn und gehorchte ihren Befreiern. Da diesen der Fürstenname verhaßt war, bildeten sie aus ihrer Mitte eine Regierung und hielten sich, der früheren Tyrannei eingedenk, anfangs im Rahmen der von ihnen gegebenen Gesetze, ordneten ihren eignen Vorteil dem Gemeinwohl unter und verwalteten und erhielten die öffentlichen und Privatangelegenheiten mit größter Sorgfalt. Dann aber ging die Regierung auf ihre Söhne über, die den Wechsel des Glücks nicht kannten und nie das Unglück erfahren hatten. Sie wollten sich mit der bürgerlichen Gleichheit nicht begnügen, sondern ergaben sich der Habsucht, dem Ehrgeiz, den Gelüsten nach Frauen und machten die Herrschaft der Vornehmen zur Herrschaft Weniger, ohne irgendwelche Rücksicht auf die bürgerlichen Rechte. So erging es ihnen in kurzem wie dem Tyrannen. Die Menge ward ihrer Herrschaft überdrüssig und schloß sich jedem an, der Miene machte, die Herrschenden zu stürzen; und so erhob sich bald einer, der sie mit Hilfe der Menge vertrieb.

Nun war die Erinnerung an den Fürsten und an seine Bedrückung noch frisch; man hatte die Herrschaft der Wenigen gestürzt und wollte die des Fürsten nicht wieder aufrichten: so ging man zur Volksherrschaft über, in der weder einige Machthaber noch ein Fürst irgendwelche Gewalt erhielten. Da nun jede Regierungsform zu Anfang einige Ehrfurcht einflößt, erhielt sich die Volksherrschaft eine Weile, aber meist nicht lange, besonders wenn das Geschlecht, das sie eingeführt hatte, ausgestorben war. Bald kam es zur Zügellosigkeit, die weder vor Privat- noch vor Amtspersonen haltmachte, und da jeder auf seine Art lebte, fügte man sich täglich tausendfaches Unrecht zu. So kehrte man denn notgedrungen, sei es unter dem Einfluß eines redlichen Mannes, oder um der Anarchie zu entgehen, von neuem zur Fürstenherrschaft zurück, und aus dieser von Stufe zu Stufe, in der nämlichen Art und aus denselben Gründen, wieder zur Zügellosigkeit.

In diesem Kreislauf hat sich die Regierung aller Staaten bewegt und bewegt sich noch, und doch kehren sie selten zu den gleichen Regierungsformen zurück; denn kaum ein Staat besitzt so viel Lebenskraft, daß er solche Umwälzungen mehrmals durchmachen kann, ohne zugrunde zu gehen. Wohl aber geschieht es, daß ein Staat in seinen Wirren, wenn es ihm dauernd an Kraft und gutem Rat fehlt, in die Gewalt eines Nachbarstaates kommt, in dem bessere Ordnung herrscht. Aber geschähe das nicht, so könnte sich jeder Staat ohne Ende im Kreis dieser Regierungsformen drehen.

Nach meiner Meinung sind alle diese Staatsformen verderblich, die drei guten wegen ihrer Kurzlebigkeit und die drei andern wegen ihrer Schlechtigkeit. In Erkenntnis dieser Mängel haben weise Gesetzgeber jede von ihnen an sich gemieden und eine aus allen dreien zusammengesetzte gewählt. So Polybios X, 2-5, und Aristoteles, Politik II, 3,9, von Lykurg. Diese hielten sie für fester und dauerhafter, da sich Fürsten-, Adels- und Volksherrschaft, in ein und demselben Staat vereinigt, gegenseitig überwachen.

Unter den Verfassungen, die in dieser Hinsicht das meiste Lob verdienen, steht die des Lykurg; denn er gab in Sparta dem König, dem Adel und dem Volk sein Recht und schuf damit einen Staat, der zu seinem höchsten Ruhm über achthundert Jahre in völliger Ruhe bestanden hat. Vgl. Polybios, VI, 11. Das Gegenteil erfuhr Solon, Athens Gesetzgeber; denn die von ihm eingeführte Demokratie war von so kurzer Dauer 594-560 v. Chr., daß er selbst noch die Tyrannei des Pisistratus erlebte. Nach vierzig Jahren wurden zwar dessen Erben 514 wurde Hipparch ermordet, 510 Hippias vertrieben. verjagt und Athen kehrte zur Freiheit zurück, da es die Demokratie nach Solons Gesetzen wieder annahm; es erhielt sie sich aber nicht länger als hundert Jahre, obwohl zu ihrer Stützung viele Einrichtungen getroffen wurden, um den Übermut der Großen und die Zügellosigkeit der Menge niederzuhalten, zwei Übel, die Solon nicht bedacht hatte. Jedenfalls bestand Athen im Vergleich zu Sparta nur sehr kurze Zeit, weil es der Demokratie nicht die Macht eines Fürsten und die des Adels beigesellt hatte.

Doch kommen wir zu Rom! Vgl. Polybios, VI, 43 f., und VI, 11. Diese Stadt hatte zwar keinen Lykurg, der sie von Anfang an derart ordnete, daß sie lange Zeit frei leben konnte, doch führte die Uneinigkeit zwischen Volk und Senat so viele günstige Umstände herbei, daß der Zufall das tat, was der Gesetzgeber versäumt hatte. Wenn also Rom nicht das erste Glückslos zog, so doch das zweite, und wenn seine ersten Einrichtungen mangelhaft waren, so führten sie doch nicht von dem geraden Weg zur Vollkommenheit ab. Denn Romulus und alle übrigen Könige gaben viele gute, auch der Freiheit gemäße Gesetze; da aber ihr Zweck die Gründung eines Königreiches und nicht eines Freistaates war, so fehlten in Rom, als es frei wurde, viele für die Freiheit nötige Einrichtungen, die von den Königen nicht getroffen waren. Als nun die Könige aus den oben genannten Gründen die Herrschaft verloren, setzten ihre Vertreiber an Stelle der Könige sofort zwei Konsuln ein und verdrängten damit nur den Königsnamen, nicht die Königsgewalt aus Rom. Infolgedessen bestand der Staat nun aus Konsuln und Senat, also nur aus zweien der oben genannten drei Formen, der Fürsten- und Adelsherrschaft, und es blieb noch der Volksherrschaft Raum zu geben. Als daher der römische Adel aus den unten anzuführenden Gründen übermütig wurde, erhob sich das Volk gegen ihn, und um nicht alles zu verlieren, mußte er dem Volk seinen Anteil an der Regierung abtreten. Andrerseits behielten die Konsuln und der Senat so viel Ansehen, daß sie ihren Rang im Staate behaupten konnten. So entstand die Einrichtung der Volkstribunen, durch die der Staat vollends befestigt wurde, denn nun waren alle drei Regierungsformen vertreten. So günstig war Rom das Geschick, daß es in derselben Stufenfolge und aus den gleichen Ursachen, die wir oben erwähnten, von der Königsherrschaft über die Herrschaft der Vornehmen zur Volksherrschaft überging, ohne die ganze Königsgewalt dem Adel auszuliefern und ohne die Gewalt des Adels ganz dem Volke zu geben. Die Mischung aller drei Regierungsformen führte zu einem vollkommenen Staat, und diese Vollkommenheit entsprang aus der Uneinigkeit zwischen Volk und Senat, wie in den zwei folgenden Kapiteln ausführlich gezeigt werden soll.


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