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Der Bureaudiener meldete den Staatsrath Klindworth.
Etwas erstaunt blickte Herr von Beust auf.
»Klindworth hier?« rief er, »sollte er sich hier wieder für möglich halten? – Lassen Sie den Staatsrath eintreten,« sprach er nach kurzem Besinnen.
Wenige Augenblicke darauf trat der Staatsrath Klindworth in das Cabinet. Er war ein Mann von weit über sechzig Jahren; sein dichtes, beinahe weißes Haar war kurz geschnitten, – sein eckiger Kopf, mit den großen abstehenden Ohren, den kleinen, scharfen, umherspähenden Augen, der großen, breiten Nase und dem ausdruckvollen häßlichen Mund, steckte zwischen den breiten Schultern, welche durch den hohen Kragen des weiten dunklen Überrocks noch höher erschienen.
Graf Beust begrüßte den viel gewandten, geheimen Agenten verschiedener europäischer Höfe mit einer freundlichen Vertraulichkeit, in welche sich doch ein wenig abwehrende Kälte mischte.
»Was führt Sie her, mein lieber Staatsrath,« sagte er, indem er Herrn Klindworth einen Stuhl neben seinem Schreibtisch bezeichnete. »Ich glaubte, Sie wollten für einige Zeit in Paris bleiben und vielleicht,« fuhr er mit einem scharfen Blick auf das unbewegliche Gesicht des Staatsraths fort, »vielleicht wäre das besser gewesen. – Sie wissen, daß nach den Vorgängen mit der Wiener Bank und dem König von Hannover hier Rücksichten zu nehmen sind –«
»Ich bin,« sagte der Staatsrath ruhig, »nur auf einen Augenblick herübergekommen und denke nicht, hier acte de présence zu machen. Doch habe ich nicht unterlassen können, hier Mittheilungen von dem zu machen, was ich gesehen und gehört, und was so Viele nicht sehen und nicht hören wollen.«
»Ich weiß, wie scharf Sie sehen und wie scharf Sie hören,« sagte Graf Beust lächelnd – »und es wird mir, wie es das stets gewesen ist, von besonderem Interesse sein zu hören, was Sie dort wahrgenommen haben.«
»Ich habe wahrgenommen,« sagte der Staatsrath Klindworth, indem er die Hände über der Brust faltete, und seinen Kopf so tief zwischen dem Kragen seines Rockes zurückzog, daß das Kinn fast ganz in seiner weißen Binde verschwand, »ich habe wahrgenommen, daß ein großer Sturm im Anzuge ist, welcher Europa noch tiefer erschüttern wird, als die Ereignisse von 1866. Und ich bin gekommen, um zu warnen, und um zu rathen, wenn man meinen Rath hören, wenn man meine Warnung beachten will.«
Graf Beust wurde ernst und blickte erwartungsvoll auf den Staatsrath.
»Der Herzog von Grammont geht soeben von Ihnen fort,« sagte dieser, »was hat er Ihnen gesagt?« fragte er, – mit seinen kleinen Augen scharf von unten heraufblickend, – »ich hoffe, Sie werden ihn ein wenig über diese eigenthümliche neben der regulairen Diplomatie herlaufende Negotiation des General Türr befragt haben, welcher da plötzlich in Paris erschienen ist, um europäische Coalitionen zu bilden, wie man Bataillone aufstellt und exerciren läßt. – Eine eigenthümliche Zeit,« sprach er, sich unterbrechend, indem er mit den Fingern der rechten Hand auf der Oberfläche der linken trommelte, »eine eigenthümliche Zeit, Alles wird auf irregulairem Wege gemacht. Es ist keine Ordnung in der Politik mehr, kein System! Kein Wunder, daß sich da die Fäden zu einem gordischen Knoten verschlingen, und daß Demjenigen der Erfolg zur Seite steht, der kühn – oder plump genug ist,« fügte er achselzuckend hinzu, »das unlösbare Gewirr mit dem Säbel zu zerhauen. – Was würde der große Metternich sagen,« sprach er seufzend, »wenn er diesen Wirrwarr in der politischen Maschinerie Europa's sehen könnte, in welcher zu seiner Zeit so vortrefflich jedes Rad in einander griff, und welche nach seinem Willen so richtig und exact spielte!«
»Nun,« sprach Herr von Beust lächelnd, »die Aufgabe eines Staatsmannes ist es immer, mit der Zeit fertig zu werden, in welcher er lebt. Wir müssen versuchen, auch in diesem Wirrwarr kaltes Blut und Ruhe zu behaupten. Grammont,« fuhr er dann fort, »hat mir allerdings nur – ganz persönlich – die Nothwendigkeit einer Alliance mit Italien sehr scharf betont. Ich glaube allerdings, daß man in Paris etwas energisch auftreten möchte, und daß man dazu Alliancen sucht. – Findet man sie nicht, so wird man sich beruhigen, wie man sich schon öfter beruhigt hat.«
Ein fast mitleidiges Lächeln zuckte über den breiten Mund des Staatsraths.
»Daß man Alliancen sucht, ist richtig,« sagte er, »daß man sich beruhigen wird, wenn man sie nicht findet, ist eine Ansicht, die ich nicht theile.«
»Aber der Kaiser ist krank, sein Gesundheitszustand flößt ernste Bedenken ein; die Ärzte empfehlen ihm die höchste Ruhe und Schonung, wie sollte da eine ernste, gar eine kriegerische Action möglich sein, da doch trotz der neuen parlamentarischen Institution wenigstens für die auswärtige Politik in Frankreich noch Alles von der Initiative des Kaisers abhängt.«
»Der Kaiser ist krank,« sagte Klindworth, »das ist richtig. Die auswärtige Politik hängt von seiner Initiative ab, das ist auch richtig. Aber von wem hängt wieder diese Initiative dieses kranken, zuweilen fast willenlosen Mannes ab? – Von der Kaiserin,« sagte er, »welche keinen andern Gedanken hat, als ihrem lieben kleinen Louis ein wenig Lorbeer um das jugendliche Haupt zu winden, – und während dieser Lorbeer an den Grenzen gepflückt wird, beabsichtigt man, eine große Generalprobe für die künftige Regentschaft abzuhalten. Die Toilettenangelegenheiten fangen an, Ihre Majestät zu langweilen,« sprach er im höhnischen Ton, »die Unterhaltung mit ihrem erhabenen Gemahl ist auch gerade nicht zerstreuend. Die erhabene Kaiserin der Franzosen ist in eminenter Weise ehrgeizig geworden. Und glauben Sie mir,« fuhr er fort, »im Geheimen Rath Ihrer Majestät ist der Krieg beschlossen, und täglich werden dort die Vorbereitungen dazu discutirt, während dieser allmälig absterbende Kaiser unter den Händen seiner Ärzte mit seinen Schmerzen und seiner Schwäche kämpft.«
»Glauben Sie,« fuhr Graf Beust, der sehr aufmerksam zugehört hatte, mit leichtem Kopfschütteln fort, »glauben Sie, daß es der Kaiserin, wenn sie wirklich die Absicht hegt, welche Sie bei ihr voraussetzen, gelingen werde, den Kaiser, der schon in seinen früheren Jahren so schwer zu den äußersten Entschlüssen zu bringen war, jetzt zu einer so gefährlichen Unternehmung zu bestimmen? Jetzt, da er doch kaum den Schein der persönlichen Leitung zu einer solchen Unternehmung wird erhalten können. Und,« fuhr er fort, »welche Organe würde die Kaiserin finden, um die Verantwortlichkeit dafür zu tragen. Glauben Sie, daß Graf Daru –«
»Graf Daru,« sagte Klindworth achselzuckend mit wegwerfendem Ton, »ist ein todter Mann, seine Existenz im Ministerium ist beendet. Das Plebiscit, dem er sich widersetzt, wird über ihn dahinschreiten.«
»Ein Plebiscit,« rief Graf Beust, indem er sich rasch emporrichtete und den Staatsrath Klindworth groß ansah, »ein Plebiscit und warum das?« –
»Um die neue Verfassung, welche der Senat und der gesetzgebende Körper angenommen, durch den Volkswillen sanctioniren zu lassen!« sagte der Staatsrath mit leiser Stimme, indem er seinen Blick fest und stechend auf den Reichskanzler richtete. »Ein Plebiscit, das ist das persönliche Regiment und das persönliche Regiment soll ungebunden und frei über allem constitutionellen Kram stehen, den man der öffentlichen Meinung als Spielwerk hinwirft.«
»Sind Sie sicher,« fragte Graf Beust, »daß das Plebiscit eine beschlossene Sache ist?«
»Vollkommen,« erwiderte der Staatsrath, und Eure Excellenz wissen, daß ich nur dann mit Bestimmtheit Etwas ausspreche, wenn ich meiner Sache vollkommen gewiß bin.«
»Ein Plebiscit,« sagte Graf Beust nachsinnend, »das ist allerdings ernst, das deutet darauf hin, daß man Etwas wie einen Staatsstreich vor hat, nicht nach Innen kann er sich richten –«
»Le coup d'Etat européen,« fiel der Staatsrath ein, »das ist der Name, den man in dem geheimen Comité, in welchem die Politik Ihrer Majestät der Kaiserin Eugenie vorbereitet wird, der Sache gegeben hat. Wie dem Staatsstreich des 2. December das Plebiscit folgte, so wird es diesmal dem großen europäischen Staatsstreich vorhergehen.«
»Wer aber,« sagte Graf Beust, – »ich muß meine Frage von vorhin wiederholen, – wer wird ein so bedenkliches und gewagtes Unternehmen ausführen wollen?«
»Ihre Majestät,« erwiderte der Staatsrath, »ist sehr geschickt darin, Werkzeuge für ihre Pläne zu finden. Sie besitzt viel Menschenkenntniß und versteht, die Leute bei ihrer schwachen Seite zu fassen. Da ist Herr Ollivier –«
»Ollivier,« rief Graf Beust, »der Freund der Gothaer – der Mann des Frieden? Doch, allerdings,« fuhr er fort, »bei dem ist jede Wandlung möglich.«
»Dann,« fuhr Klindworth fort, »ist da dieser Herzog von Grammont, der soeben noch auf dem Platze saß, den ich jetzt einzunehmen die Ehre habe.«
Graf Beust neigte sinnend das Haupt.
»Grammont,« fragte er. »Sie glauben wirklich, daß man Grammont einer solchen Aufgabe gewachsen hält?«
»Der Kaiser will ihn nicht,« sagte der Staatsrath, »dennoch wird er zur Ausführung der Ideen der Kaiserin bestimmt werden. Und man hat die Wahl richtig getroffen, denn er besitzt das vollkommen genügende Maß jenes altfranzösischen Leichtsinns, welcher schon in früheren Phasen der Geschicke Frankreichs die unmöglichsten Dinge unternommen, und,« fügte er hinzu, »dieselben allerdings auch oft durchgeführt hat.«
Graf Beust blieb einige Augenblicke in schweigendem Nachdenken versunken.
»Aber,« fuhr er dann fort, »wenn ich annehme, daß sich Personen finden, welche in einer mehr als gewagten Action das Schicksal des Kaiserreichs auf's Spiel setzen, so gehört doch dazu immer noch ein Kriegsfall. – In Berlin scheint man nicht geneigt, die Veranlassung zu einem solchen zu bieten. Woher sollte denn der casus belli kommen?« –
»Man wird ihn nehmen, wo man ihn eben findet,« erwiderte der Staatsrath kaltblütig. »Übrigens bereitet sich da schon eine kleine Intrigue vor, deren Fäden ganz zufällig in meine Hände gekommen sind, und welche man demnächst gehörig aufgestutzt vielleicht verwerthen wird.«
Graf Beust blickte ihn fragend, mit gespannter Aufmerksamkeit an.
»Eure Excellenz wissen,« sagte der Staatsrath, »daß die spanischen Angelegenheiten dem Kaiser sehr große Sorgen machen. Die Agitationen des Herzogs von Montpensier erfüllen ihn mit ernsten Besorgnissen. Er haßt und fürchtet Nichts mehr, als die Orleans, und ein orleanistisches Königthum an der andern Seite der Pyrenäen würde ihn keinen Augenblick ruhig schlafen lassen. Da hat man ihm nun eine ganz hübsche Idee suppeditirt. Sie erinnern sich, daß Madame Cornu, des Kaisers geistvolle Milchschwester, welche die Prinzen von Hohenzollern erzogen hat, bereits den jetzigen Fürsten von Rumänien auf seinen so wenig sichern und erfreulichen Thron gebracht hat. Es scheint nun, daß diese Dame gegenwärtig daran denkt, einen Erbprinzen von Hohenzollern zum Nachfolger Philipp II. zu machen. Der Kaiser, der die Idee zurückgewiesen, scheint ihr jetzt weniger abgeneigt, – der Prinz ist ein Verwandter seines Hauses, er ist ihm persönlich sehr geneigt und würde ihn am Ende noch lieber als einen Montpensier auf dem Thron von Spanien sehen, der freilich ein wenig größer und glänzender, aber darum weder sicherer, noch erfreulicher, als der kleine Fürstenstuhl von Rumänien ist.«
Graf Beust lachte.
»Ich habe früher von diesem Gedanken gehört,« sagte er, »man hat darüber gesprochen. Ich habe aber das Alles immer für eine von jenen Blasen gehalten, welche von Zeit zu Zeit auf die Oberfläche der Conjecturalpolitik steigen, aber ebenso schnell wieder platzen und verschwinden.«
»Es ist möglich,« erwiderte der Staatsrath, »daß diese Blase auch diesmal wieder platzen und verschwinden wird, für den Augenblick jedoch ist sie sehr ernst gemeint, und zwar wird man, wenn die Sache von Seiten des Fürsten Hohenzollern angenommen und in Berlin approbirt werden sollte, sich daraus einen hübschen Kriegsfall zurecht machen.«
»Einen Kriegsfall?« fragte Graf Beust ganz erstaunt.
»Ganz gewiß,« sagte der Staatsrath, »Seine arme, kranke Majestät Napoleon III. wird die Idee haben, daß er, indem er diese kleine Negociation gewähren läßt, eine Gegenintrigue gegen die Orleans und den Herzog von Montpensier spielt. Er wird glauben, daß er sich da einen kleinen befreundeten König von Spanien schafft, wenn er überhaupt an den definitiven Erfolg der ganzen Sache glaubt. – Vielleicht wird er auch gar nicht darüber nachdenken und wird die Sache gehen lassen, wie er so Vieles gehen läßt. Dann aber wird man ihm eines schönen Tages klar machen, daß ein preußischer Prinz auf dem spanischen Thron –«
»Aber der Prinz von Hohenzollern ist ja gar kein preußischer Prinz,« warf Graf Beust ein.
»Er trägt preußische Uniform, er heißt Hohenzollern, man wird ihn im nöthigen Augenblick für einen preußischen Prinzen halten und von ganz Frankreich dafür halten lassen. – Man wird also,« fuhr er fort, »dem Kaiser auseinandersetzen, daß ein preußischer Prinz auf dem spanischen Thron die Anbahnung zur Wiederherstellung des Reichs Karl V. unter den Hohenzollern sei. Man wird dasselbe die ganze französische Nation glauben machen, und plötzlich, ganz plötzlich, ehe Jemand sich dessen versehen wird, wird man einen sehr hübschen und sehr nationalen Kriegsfall haben.«
Herr von Beust lächelte abermals.
»Mein lieber Staatsrath,« sagte er, »Sie wissen, daß ich das größte Vertrauen zu Ihrem klaren Blick und zu den Quellen habe, aus welchen Sie Ihre Nachrichten zu schöpfen pflegen. Sie müssen mir aber verzeihen, daß ich das, was Sie mir da eben sagen, unmöglich für Ernst nehmen kann. Die Sache ist doch in der That zu abenteuerlich und zu unglaublich. Und wenn ich den Politikern, welche jetzt zuweilen in Frankreich in die Diplomatie hineingreifen, auch sehr kühne und sehr wunderbare Combinationen zutraue, so würde dies doch nach meiner Überzeugung die Grenzen des Möglichen überschreiten.«
Der Staatsrath Klindworth drückte fest seine Lippen auf einander, richtete einen stechenden Blick auf den Reichskanzler und sprach mit scharfer Betonung:
»Ich würde nicht hierher gekommen sein, um Eurer Excellenz das zu sagen, was ich Ihnen soeben gesagt habe, wenn ich nicht die feste Überzeugung von der Richtigkeit meiner Beobachtung und von der Wahrheit meiner Mittheilung hätte. Die Sache ist sogar schon ziemlich weit gediehen. Der Marschall Prim ist in die Combinationen eingeweiht und geht im besten Glauben, für das unglückliche Spanien einen aller Welt convenirenden König gefunden zu haben, in die Falle, die man ihm stellt.«
Graf Beust dachte einige Augenblicke schweigend nach, er schien durch die Worte des Staatsraths nicht überzeugt, doch bemerkte er Nichts weiter über den Gegenstand und sprach nach einiger Zeit:
»Sie haben mir vorhin gesagt, daß Sie gekommen wären, zu warnen und zu rathen. – Ich habe Ihre Warnungen gehört, darf ich Sie nun um Ihren Rath bitten?«
»Darf ich,« sagte Klindworth, »eine kleine Erinnerung aus vergangener Zeit wachrufen? Eure Excellenz erinnern sich, daß ich kurz vor Ausbruch des Krieges im Jahre 1866, als Sie noch sächsischer Minister waren, Sie in Dresden besuchte. Sie erzeigten mir die Ehre, über die damalige Lage mit mir zu sprechen, mir Ihre Meinung über die unausbleibliche Nothwendigkeit des Conflicts mitzutheilen, und mir zugleich auseinanderzusetzen, wie gut die sächsischen Rüstungen vorbereitet seien. Ich erlaubte mir damals, nachdem ich Alles angehört, als einzige Gegenäußerung nur die Frage, ob Eure Excellenz ein festes, für alle Zeit bindendes, die Existenz Sachsens garantierendes Schutz- und Trutzbündniß mit Österreich geschlossen hätten. Sie verneinten das, ich sprach mein großes Bedauern darüber aus und ertheilte Ihnen den Rath, das Versäumte, wenn es irgend möglich sei, noch nachzuholen. – Es war nicht mehr möglich, die Katastrophe brach herein, Sachsen gerieth unter die kämpfenden Parteien, that nach allen Seiten seine Schuldigkeit, wurde aber ebenso wie die übrigen, gegen Preußen im Kampf stehenden deutschen Staaten von Österreich abandonnirt und ohne Widerspruch der Willkür des Siegers Preis gegeben. Sie wissen selbst, wie unmittelbar nahe die bereits beschlossene Annectirung über dem Haupte Ihres früheren Vaterlandes dahin gegangen ist. Sie wissen es am besten, wie und durch wen die Existenz Sachsens gerettet wurde, denn Sie sind es, dessen schnellem Entschluß, dessen Energie und Beredsamkeit jene Rettung zu danken ist. Eine ähnliche, nur gewaltigere und welterschütterndere Katastrophe, wie diejenige von 1866 bereitet sich heute vor, und nach der Beendigung des Kampfes, der nach meiner Überzeugung entbrennen wird, werden die Verhältnisse Europa's tiefe Erschütterungen und Veränderungen erfahren. Solchen Ereignissen gegenüber muß Österreich nach meiner Überzeugung den Fehler vermeiden, welchen unter kleinern Verhältnissen damals Sachsen und die übrigen deutschen Staaten begangen haben – den Fehler nämlich, sich ohne festen Entschluß und feste Haltung in die Ereignisse hineintreiben zu lassen.«
»Sie meinen also?« fragte Graf Beust. –
»Ich meine,« sagte der Staatsrath, »daß der Augenblick gekommen ist, um einen entschiedenen Entschluß zu fassen, und sich entweder in fester Allianz an Frankreich anzuschließen oder rückhaltlos und frei Preußen und damit zugleich Rußland die Hand zu reichen, wodurch dann – allerdings unter veränderten Verhältnissen – jene alte Tripelallianz wieder hergestellt werden würde, welche so lange die Schicksale von Europa beherrschte. Für die eine, wie für die andere Seite spricht Manches; wenn Österreich mit Frankreich zusammengeht, wenn Italien hinzugezogen wird, so wird im Fall des Sieges Alles wieder gewonnen werden, was 1866 verloren wurde, und bei so mächtig vereinten Kräften wird eine vernichtende Niederlage beinahe unmöglich gemacht, so daß also auch im ungünstigsten Falle Österreich nicht viel zu verlieren haben würde. Eine feste und rückhaltslose Allianz mit Preußen, damit auch zugleich mit Rußland würde auf der andern Seite Frankreich vollkommen isoliren. Die norddeutschen Mächte würden Österreich mit offenen Armen aufnehmen; vielleicht würden einer so mächtigen Coalition gegenüber selbst die unternehmungslustigen Politiker der Coterie der Kaiserin nachdenken – vielleicht würde der Krieg verhindert werden, wenn Österreich im entscheidenden Moment erklärte, daß es unter allen Umständen auf der Seite Preußens stehen würde. Für die europäische Stellung Österreichs ließe sich dadurch viel gewinnen. Allerdings aber würden auch die deutschen Traditionen dadurch vollständig und für immer aufgegeben werden müssen.«
Graf Beust hatte aufmerksam zugehört. Ein ganz leiser, fast unmerklicher Zug seiner Ironie erschien im Winkel seines Auges.
»Und zu welcher Seite dieser Alternative würden Sie rathen?« fragte er.
»Die Erinnerungen an die große Zeit,« erwiderte der Staatsrath, »in welche meine reichste Thätigkeit fällt, die Erinnerungen an die Zeit des großen Fürsten Metternich machen mich geneigt, zur Wiederherstellung jener alten Coalition der heiligen Allianz zu rathen, dieser weisesten Schöpfung, welche jemals die Diplomatie in's Leben gerufen. Außerdem spricht in diesem Fall die größere Sicherheit für den Anschluß an Preußen; auf der andern Seite ist viel zu gewinnen, hier aber ist Alles zu erhalten, was man schon besitzt. Ich habe wenig Vertrauen,« fuhr er fort, »auf die französische Macht. Ich verstehe Nichts von der Kriegsverwaltung, aber nach Allem, was ich gehört und gesehen, ist dort seit dem Tode Niels unter dem kranken Kaiser Alles in Verfall gerathen. Außerdem giebt man sich zu großen Illusionen über die Unbesiegbarkeit der französischen Armee hin, und ich fürchte, daß dem so wohl geschulten preußischen Heer gegenüber der französische Elan wenig ausrichten wird. Doch,« fuhr er fort, »das sind Alles Erwägungen, die ich Eurer Excellenz reiflichem Nachdenken überlassen will. Mein dringender Rath geht nur dahin, festen Entschluß zu fassen und bestimmt Partei zu nehmen. Ist dieser Krieg einmal ausgebrochen und Österreich demselben unthätig fern geblieben, so wird doch nichts Anderes mehr möglich sein, als sich vollständig an Preußen und Rußland anzuschließen. Dann aber wird dieser Entschluß keinen Werth mehr haben, während heute noch für denselben ein hoher Preis zu erlangen wäre. Vor Allem aber,« fügte er hinzu, indem sein stechender Blick scharf und durchdringend zu dem Grafen hinüberblitzte, »vor Allem aber wird dann dieser Anschluß vielleicht nicht mehr von Eurer Excellenz gemacht werden.«
»Und von wem denn,« fragte Graf Beust in etwas verändertem Ton.
»Von Demjenigen,« sagte der Staatsrath aufstehend, »der bereits hinter Ihnen steht und jeden Augenblick bereit ist, Ihre Erbschaft anzutreten, wenn die Vollendung des Werkes, das Sie begonnen, von außen und von innen her verhindert würde – wenn Österreich gezwungen werden sollte, dem Rathe des Grafen Bismarck folgend seinen Schwerpunkt vollständig nach Pesth zu verlegen – vom Grafen Andrassy, Ihrem ungarischen Collegen.«
Graf Beust war ernst geworden, doch zuckte er leichthin die Achsel und sprach:
»Ich kann Ihnen nur wiederholen, mein lieber Staatsrath, daß ich Ihnen für Ihre Mittheilungen, so wie für Ihren Rath herzlich dankbar bin. Ich hoffe – Sie werden, wenn Sie wieder nach Paris zurückgehen –?« fügte er mit einem fragenden Blick hinzu.
»Ich werde morgen Wien wieder verlassen,« sagte der Staatsrath, »und mich über Stuttgart nach Paris zurückbegeben, ich möchte mir dort die Politik des Herrn von Varnbüler an Ort und Stelle betrachten.«
»Ich bitte Sie also,« fuhr Graf Beust fort, »mich dann über Ihre Beobachtungen weiter au courant zu halten.«
Er verneigte sich leicht gegen den Staatsrath, welcher in seiner eigenthümlichen gebückten, fast demüthigen Haltung das Cabinet verließ.
»Der alte Klindworth,« sagte der Reichskanzler, sich bequem in seinen Stuhl zurücklehnend, »scheint mir diesmal dupirt worden zu sein. Die Sache ist zu abenteuerlich, zu unmöglich! – Er ist zwar sonst gut unterrichtet und combinirt vortrefflich die kleinsten Thatsachen, die zu seiner Kenntniß kommen. – Ich will immerhin noch auf anderem Wege darüber nachforschen lassen. – Sollte man aber auch in Frankreich wahnsinnig genug sein, um sich auf so unerhörte Weise in einen unübersehbaren Krieg zu stürzen, ich kann dennoch den Rath des alten viel gewandten Beobachters diesmal ebenso wenig für richtig, als seine Mittheilungen für zweifellos halten. – Ich habe es übernommen,« sprach er ernst, den Blick gedankenvoll emporrichtend, »das kranke und gebrochene Österreich zu heilen, und um das zu erfüllen, was ich versprochen und was ich mir vorgestellt, bedarf ich des Friedens, des Friedens unter jeder Bedingung noch auf Jahre hinaus. Keine Lockung, keine Hoffnung auf glückliche Zufälle wird mich von dem Wege abweichen lassen, den ich für den einzig richtigen erkannt habe. Und wenn wirklich der gewaltige Kampf, der im Schooß der Zukunft liegt, ausbrechen sollte, bevor Österreich an innerer Kraft den übrigen Mächten Europa's wieder gleich steht, so werde ich unbeirrt mein Ziel verfolgen und weder rechts, noch links blickend, den Frieden erhalten, selbst um den Preis,« fügte er leise hinzu, »daß diese Zurückhaltung mir selbst verhängnißvoll werden sollte. Lieber möge mein Werk von andern Händen vollendet werden, als daß ich es durch unüberlegtes Handeln gefährde.«
Er beugte sich über seinen Schreibtisch und begann die auf demselben aufgehäuften Depeschen zu durchlesen.