Oskar Meding
Der Todesgruß der Legionen
Oskar Meding

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Neuntes Capitel.

Ernst und still saß Fräulein Luise Challier in dem Wohnzimmer des alten Hauses in St. Dizier. Traurige Wochen und Monate waren verflossen, seit ihr Geliebter sie voll freudiger Hoffnung und Zuversicht verlassen hatte. So schwer auch der Abschied von ihm sie erschüttert hatte, so hatte sie doch in den ersten Tagen glücklich und froh seiner gedacht; sie hatte die Tage gezählt, welche er zu seiner Reise bedurfte, sie hatte ausgerechnet, wie lange ein Brief von Hannover gehen müsse, um zu ihr zu gelangen und hatte nach Verlauf dieser Zeit mit zweifelloser Gewißheit, ungeduldig die Augenblicke zählend, einer Nachricht von ihrem Geliebten entgegengesehen.

Als ein Tag nach dem andern vergangen war, ohne daß eine solche Nachricht eintraf, hatte sie dann alle Möglichkeiten der Verzögerung sich klar gemacht, sie hatte auch wohl mit einem leichten Gefühl von Traurigkeit sich oft gesagt, daß der junge Mann unter dem Eindruck der Rückkehr in seine alte Heimath erfüllt von den lebhaften Gefühlen des Wiedersehens seiner Mutter gezögert habe, ihr zu schreiben. Ja sie hatte sich sogar in eine freudige Stimmung hinein gedacht, indem sie sich sagte, daß ihm die Ordnung seiner Verhältnisse und die Erlangung der Einwilligung seiner Mutter und seines Oheims zu der neuen Wendung seines Schicksals vielleicht schneller gelungen wäre, als er selbst es gehofft, und daß er ihr mit der ersten Nachricht vielleicht zugleich seine Wiederkehr nach Überwindung aller Schwierigkeiten anzeigen wolle – damit war wieder eine Reihe von Tagen vergangen, bis endlich auch dieser Grund nicht mehr zur Beruhigung ihrer immer banger werdenden Unruhe genügen wollte. Dann war jene entsetzliche, das ganze innere Wesen des Menschen zerstörende Zeit des Wartens gekommen, welche in ihrer dumpfen, bleiernen Schwere auf die Seele und den Geist vernichtender wirkt, als der härteste, aber bestimmt und klar eintretende Unglücksfall.

Wie die Blume vor dem mächtig niederrauschenden Wetter ihr Haupt senkt, um es später wieder frisch und duftig erheben, wie sie, wenn die Blüthe gebrochen wird, neue Blüthen treibt, so kann ein mächtiger Wetterschlag des Schicksals das menschliche Herz und den menschlichen Geist schwer und gewaltig erschüttern; aber nach dieser Erschütterung richtet sich der Muth wieder empor, die Kraft kehrt zurück, und neues Glück, neue Freude können unter wiederkehrendem Sonnenschein freundlicher Schicksalswendungen erwachsen.

Aber wie die Pflanze, der in dürrer Erde das Wasser entzogen wird, langsam erstirbt, vergeblich lechzend nach frischer erquickender Lebenskraft, und wie die vertrockneten Blüthen die verdorrten Blätter, langsam erstarrt und gestorben, sich niemals wieder zu neuem Leben aufrichten können, so tödtet und erstarrt das langsame erbarmungslose Verschwinden der Hoffnung den Glauben des menschlichen Herzens, und wenn es auch mechanisch in regelmäßigem Pulsschlag das Blut durch die Adern treibt, sein inneres Leben, der Duft und die Farben kehren ihm nie wieder zurück, und es ist todt, lange, lange, bevor es aufhört, zu schlagen.

So erstarb langsam und qualvoll die Freude und das Glück und endlich die Hoffnung und der Glaube in dem Herzen des jungen Mädchens, und wenn auch die Liebe, diese Tochter des Himmels, welche in dem geschaffenen Menschen Alles überlebt, weil sie unsterblich ist, wie der Schöpfer, der sie in sein Geschöpf legte, – wenn auch diese Liebe nicht aus ihrem Herzen verschwand, so erfüllte sie doch das Herz nicht mehr mit Licht und Wärme. Es war nur noch eine traurige Flamme frommer Erinnerung wie die ewige Lampe in einem Grabgewölbe.

Luise hatte sich zuerst in ihrer feurigen und kräftigen Natur lebhaft aufgebäumt gegen den Gedanken, daß der, den sie so sehr liebte und an dem ihr Herz mit so vollem und hingebendem Vertrauen hing, sie so schnell habe vergessen können.

Qualvolle Unruhe, Zorn, Erbitterung hatten sie erfüllt, immer und immer wieder hatte sie Gründe für sein Verstummen gesucht, und von Neuem hatte sie ihre Hoffnungen wieder aufgerichtet, um sie immer wieder von Neuem zusammen sinken zu sehen. Und alle diese Kämpfe, alle diese Qualen und Leiden hatte sie tief in sich selbst verschlossen.

Mit lächelnder Miene hatte sie, als ihr Vater anfing, seine Verwunderung über das Schweigen des jungen Mannes auszusprechen, Gründe aufgesucht, an welche sie selbst nicht glaubte. Mit Anstrengung aller Willenskraft hatte sie sich den Tag über aufrecht erhalten, um vor den Augen ihres Vaters und ihrer Hausgenossen ruhig und heiter zu erscheinen; sorgfältig hatte sie am Morgen ihre von Thränen und Nachtwachen gerötheten Augen gekühlt, um die Spuren ihres innern Leidens zu verbergen, und stolz und kalt hatte sie Herrn Vergier, wenn derselbe sie zuweilen mit dem Anschein freundlicher Theilnahme nach dem jungen Cappei fragte, geantwortet, daß derselbe sich vortrefflich befinde, und daß sie hoffe, er werde bald zurückkehren.

Endlich aber war das Alles über ihre Kräfte gegangen, alle Gründe, die sie für sich selbst und ihren Vater aufsuchen mochte, konnten nicht mehr ausreichen, um dies wochenlange Schweigen des jungen Hannoveraners zu erklären, und als endlich eines Tages der alte Challier deutlicher und bestimmter seine Besorgnisse und seine Unruhe über das Benehmen des jungen Mannes, zu dem er so großes Vertrauen gehabt, aussprach, da war sie wie gebrochen in sich zusammen gesunken, zu schwach, den Kampf länger auszuhalten und ihre inneren Qualen unter lächelnder Miene zu verbergen.

Ein Strom heißer Thränen stürzte aus ihren Augen und laut schluchzend warf sie sich in die Arme ihres Vaters.

»Oh, er hat mich verlassen!« rief sie. »Er hat mich vergessen! Er hat sein Spiel mir getrieben hier in der Verbannung, – nun er zurückgekehrt ist zu den Seinen in sein Vaterland und in seine alte Heimath, da gedenkt er meiner nicht mehr. Und,« fuhr sie heftiger weinend fort, »da hält er es nicht einmal für nöthig, einen Vorwand zu suchen – mir ein Wort des Abschieds zu sagen! Nein, er läßt mich langsam vergehen in vergeblicher Erwartung! Oh, das ist schlecht,« rief sie, den Kopf emporhebend und mit fast verwirrtem Blick im Zimmer umher starrend – »das ist schlecht, das habe ich nicht um ihn verdient! Ich habe ihn doch so sehr geliebt, und auch jetzt noch liebe ich ihn,« rief sie. »Ich zürne mir selbst, fast möchte ich mich verachten, daß ich ihn noch lieben kann. Aber dann wieder, wenn sein Bild vor mich hintritt, wenn ich an seine Augen denke, die so gut und treu blicken, an alle seine Worte so voll Wahrheit und tiefen Gefühls – dann kann ich es nicht glauben, kann ich es nicht für möglich halten, daß er mich so vergessen, so unwürdig bei Seite werfen sollte, dann erfaßt mich eine namenlose Angst, daß ihm ein Unglück widerfahren sei, daß er todt sein möchte. Oh, mein Gott, mein Gott,« rief sie laut aufschreiend, »gieb mir ein Ende dieser Qualen, ein Ende dieser Angst, nur einen Lichtblick der Gewißheit, und wäre es die traurigste, die schmerzlichste, sie wäre ein Glück gegen diesen Zustand.«

Ernst und traurig hatte der alte Herr Challier diesen so plötzlichen Ausbruch des Jammers seiner Tochter mit angehört. Voll tiefen, liebevollen Mitgefühls sah er auf das junge Mädchen herab, welches zitternd in sich zusammen geschmiegt vor ihm stand, die Hände gefaltet und den brennenden Blick fragend auf ihn gerichtet, als erwarte sie von ihm das Licht und die Aufklärung nach denen ihre Seele dürstete.

»Meine Tochter,« sagte er, »gieb Dich nicht der Verzweiflung hin. Das Leben bietet harte und schwere Schicksalsschläge genug, es muß immer in unserm Herzen etwas leben, das uns über das Unglück erhebt, und wäre es nur der Stolz und das muthige Selbstgefühl, welches eine Tochter der Bragars niemals verlassen soll.«

»Oh, mein Vater,« rief sie, »ich würde Muth und Kraft haben, Alles zu ertragen, wenn er mir gestorben wäre, wenn die Hand der Vorsehung mit unwiderstehlicher übermächtiger Gewalt in meine Hoffnungen und in die Träume meines Glücks eingegriffen hätte; aber daß es so enden soll, daß er mich vergißt, daß er aus dem Kreise meines Lebens verschwindet, ohne daß ich weiß wodurch und warum: Das, mein Vater, zerstört meinen Geist, das zerbricht meinen Willen und meine Kraft, das untergräbt mein Vertrauen an die Gerechtigkeit Gottes.«

»Wenn er sich unwürdig gegen Dich betragen hat, mein Kind, wenn er Dich so leicht vergessen konnte, so sollte Dein Stolz sich um so höher erheben und Dir den Willen und die Kraft Deiner Seele wiedergeben,« sagte Herr Challier mit ernstem, fast vorwurfsvollem Ton. »Aber,« fuhr er fort, »noch ist es so weit nicht, noch kann irgend ein Mißverständniß vorliegen. Er kann krank geworden sein, – wenn ich an den jungen Mann zurückdenke, wie ich ihn gekannt habe, als er unter uns lebte, wenn ich mir sein ganzes Wesen, seinen Charakter vergegenwärtige, so kann ich es kaum glauben, daß er Dich so leicht vergessen und verlassen hat; und ich muß fast an irgend ein äußeres Hinderniß glauben, das diesem unerklärlichen Schweigen zu Grunde liegt.«

»Das sagt auch mir mein Herz,« rief Luise, indem sie mit einem dankbaren und hoffnungsvollen Ausdruck zugleich ihren Vater ansah, »eine Stimme in meinem Innern ruft mir zu, er kann nicht so niedrig, so schlecht und undankbar sein, um, selbst wenn das Schicksal unserer Verbindung unübersteigliche Hindernisse in den Weg entgegenstellte, sich so von mir zu trennen.«

»Wenn Du das glaubst,« sagte der alte Challier, »so mußt Du an ihn schreiben und Erklärung von ihm verlangen. Ist er krank, was ja möglich ist, so wird der Brief in die Hände der Seinigen kommen, und Alles wird klar werden.«

»Ich soll ihm zuerst schreiben,« rief Luise, indem eine dunkle Röthe ihr Gesicht überflog, »ich soll ihn mit meiner Liebe verfolgen – wenn er mich vergessen hätte.«

»Wenn Du ihn liebst,« sagte Herr Challier, »wenn Du Vertrauen zu ihm hast, so bist Du ihm und Dir selber schuldig, jenen Schritt zu thun, der Dir Aufklärung über ein Mißverständniß oder die unleugbare Gewißheit seiner Unwürdigkeit giebt. Es mag ihm widerfahren sein, was da wolle, so wird Dein Brief in die Hände seiner Angehörigen kommen und Du wirst irgend eine Nachricht erhalten. Und nur wenn er Dich wirklich verlassen will, oder wenn er uns eine falsche Adresse gegeben hätte, um seine Spur verschwinden zu lassen, wirst Du ohne Antwort bleiben.«

»Du hast Recht, mein Vater,« sagte Luise, »ich will den Glauben und das Vertrauen nicht so leicht aufgeben. Ich will ihm schreiben.«

Sie ging sogleich in ihr Zimmer und schrieb in fliegender Eile Alles, was ihr Herz ihr eingab, und als sie geendet hatte und den Brief nochmal überlas, sprach sie hoch aufathmend zu sich selbst:

»Wenn dieser Brief in die Hände seiner Mutter gelangt, wenn er nur von einem Menschen gelesen wird, der ein fühlendes Herz hat, so werde ich erfahren, was ihm begegnet ist, und warum ich keine Nachricht von ihm erhalten habe.«

Ihr Vater las den Brief, den sie geschrieben, mit wehmüthigem Blick, voll inniger Theilnahme sah er sein Kind an. Die ganze Qual ihres Herzens lag zwischen den Zeilen.

Er siegelte den Brief und versah ihn mit der Adresse, welche Cappei zurückgelassen hatte und brachte ihn selbst zur Post.

Abermals begann nun jene Zeit der unruhigen Erwartung, des bangen Zweifelns zwischen Furcht und Hoffen. Abermals zählte das junge Mädchen die Tage, welche ihr eine Antwort bringen konnten. Abermals aber verflossen diese Tage, ohne daß die ersehnte Nachricht kam, abermals arbeitete sich ihr gemartertes Herz durch alle Fasern dieses entsetzlichen Wartens hindurch, dessen Pein keine Ruhe und Rast, keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht kennt.

Bleicher und bleicher wurden die Züge dieses sonst so lebensfrischen Gesichts, aber es war diesmal nicht die zitternde, sehnsuchtsvolle Unruhe, nicht die schmerzvoll ringende Verzweiflung, welche sich in diesen Zügen malte. Kalt, finster und stolz wurde der Blick des jungen Mädchens, oft lächelten ihre Lippen bitter oder preßten sich mit dem Ausdruck düsterer Resignation auf einander. Kalt und ruhig ging sie einher, verrichtete genau und pünktlich ihre häuslichen Besorgungen, und sorgfältig wich sie jedem Gespräch mit ihrem Vater aus, welcher mit kummervollen Blicken ihr Treiben beobachtete.

Es waren fast drei Wochen vergangen, seit sie ihren Brief abgesendet, da trat sie eines Tages ernst und ruhig vor ihren Vater hin, als derselbe nach dem Diner in seinem Lehnstuhl saß und mit klarem Blick und mit fester Stimme sprach sie zu ihm:

»Es ist jetzt vorbei, mein Vater, der Traum, welcher eine Zeit lang mein Leben erfüllte, ist ausgeträumt. Die Liebe, welche mein ganzes Wesen durchdrang, ist in meinem Herzen gestorben, ich habe sie ausgerissen mit den letzten Wurzeln, ich habe sie verachten gelernt und will sie nun auch vergessen können. Du hast Recht gehabt, mein Vater, der Stolz giebt die Kraft, sich aus dem Bann leidenden Jammers zu erheben und im Gefühl der eigenen Würde die Niedrigkeit und Schlechtigkeit derer zu vergessen, die unser Herz mit Füßen traten. Ich habe ein Jahr meines Lebens verloren – das ist Alles,« sagte sie bitter und hart, »vielleicht habe ich dabei gewonnen, denn ich habe die Menschen verachten und die eigene Kraft schätzen gelernt. Nimm mich hin, mein Vater, es ist Alles, wie es früher war, Deine Tochter gehört wieder Dir und Dir ganz allein.«

Sie schlang ihre Arme um die Schultern ihres Vaters und ließ ihren Kopf an seine Brust sinken. Ein leises Zittern flog durch ihre Gestalt wie eine letzte Regung des tief schneidenden Schmerzes, der so lange ihr innerstes Wesen erschüttert hatte.

Dann aber hob sie den Kopf empor und blickte ihren Vater fest an, wie um zu zeigen, daß ihre Kraft größer sei, als ihr Schmerz. Ihre Gesichtszüge waren ruhig und unbeweglich, ihre Augen klar und trocken.

Ihr Vater schüttelte langsam und schmerzlich den Kopf.

»Ich freue mich,« sagte er, »daß Du die eigene Kraft kennen und schätzen gelernt hast, aber nicht so darfst Du in Dein künftiges Leben gehen, Du darfst die Menschen nicht verachten, weil Einer sich Dir niedrig gezeigt hat, weil Einer unwürdig gegen Dich gehandelt. Auch diese Wunde wird heilen, mein Kind, wie so Vieles heilt in der geschaffenen Natur – Du wirst auch das Vertrauen zu den Menschen wieder finden, Du wirst Dich dem Leben und seinen reichen Gaben nicht verschließen. Du bist noch so jung und es wird die Zeit kommen, wo Alles, was Du jetzt gelitten, wie ein ferner Traum verklungen sein wird. Vergiß auch nicht,« fügte er hinzu, »daß Derjenige, der Dich unwürdig verlassen, kein Sohn Deines edlen Vaterlandes war. Vielleicht ist es ein Glück, daß es so kam, für das Leid, das der Fremde Dir zugefügt, wird, so Gott will, Frankreich Dir Ersatz bieten.«

Luise trat einen Schritt von ihrem Vater zurück, hoch richtete sie sich empor und sprach stolzen, flammenden Blickes:

»Glaube nicht, mein Vater, daß ich mit dem Leben abschließen will, glaube nicht, daß ich etwa daran denke, in klösterlicher Einsamkeit den Unwürdigen zu beweinen, der mein liebevolles Vertrauen getäuscht hat. Nein, ich werde frei und muthig, aber auch klar und kalt in das Leben treten, ich werde alle seine Pflichten erfüllen, – aber mein Herz werde ich für mich allein behalten und – für Dich, mein Vater,« fügte sie mit einem innigen Blick hinzu. »Es soll nicht wieder der Spielball unwürdiger Laune werden.«

»Das ist brav und recht, mein Kind,« sagte Herr Challier, »das ist tapfer und meiner Tochter würdig. Und Gott, der die Zukunft der Menschen lenkt,« fügte er die Hände faltend hinzu, »er wird auch nicht zulassen, daß Dein Herz in kalte Einsamkeit verschlossen bleibt, auch Dir wird noch Glück, Wonne und Freude zu Theil werden.«

Schweigend, mit schmerzlichem Lächeln schüttelte Luise den Kopf und ging hinaus, um die Geschäfte der häuslichen Wirthschaft zu ordnen.

Von diesem Augenblick an war zwischen Vater und Tochter von der Sache nie mehr die Rede, und ruhig ging das einfache Leben in dem alten Hause seinen Weg.

Herr Vergier, welcher sich eine Zeit lang wenig im Hause hatte sehen lassen, kam wieder öfter dorthin. Er leistete dem Alten Gesellschaft, sprach mit ihm über die Geschichte und über die Fragen der Politik, welche die öffentliche Meinung bewegten. Sein früher so heftiges und aufgeregtes Wesen war augenscheinlich ruhiger und sanfter geworden; er schien sich allmählig von den Ansichten des alten Herrn überzeugen zu lassen und hielt sich von allen heftigen Ausfällen gegen das Kaiserthum, von allen scharfen Urtheilen über die Regierung zurück – er hatte während des Plebiscits sich von jeder Agitation der democratischen Partei, mit welcher er früher innig verbunden gewesen war, fern gehalten, – der alte Herr Challier war darüber sehr erfreut und erblickte darin eine Wirkung des Einflusses, den er auf die Ansichten des Herrn Vergier ausübte. Das Verhältniß zwischen Beiden war in Folge dessen ein immer freundschaftlicheres und herzlicheres geworden.

Auch Fräulein Luise trat Herrn Vergier immer näher, er unterhielt sich freundlich und ruhig mit ihr; er sprach mit ihr über viele Dinge, welche den regen Geist des jungen Mädchens interessirten, und niemals kam ein Wort über seine Lippen, das an die Vergangenheit erinnerte oder die Hoffnungen und die Wünsche berührte, die er früher gehegt, und die er früher in so heftiger und leidenschaftlicher Weise gegen sie ausgesprochen hatte.

Das junge Mädchen, das anfänglich verschlossen, kalt und zurückhaltend gegen ihn gewesen war, begann in seiner Unterhaltung Zerstreuung und Beruhigung zu finden, und so kam es, daß nach Verlauf einiger Zeit Herr Vergier wieder der tägliche und gern gesehene Gast im Hause des Herrn Challier war, der in den kleinen Kreis freundliches und heiteres Leben brachte.

Die verhängnißvollen Tage des Juli waren gekommen, die gewaltige Aufregung, welche Paris bewegte, und welche bereits ganz Europa zu ergreifen begann, schlug ihr helles Feuer auch hier in diesem ruhig abgeschlossenen Leben der alten Stadt St. Dizier, und das Gefühl aller dieser Nachkommen der Soldaten Franz I. wallte hoch auf bei den Berichten über die Vorgänge im Corps legislatif, und als die Rede des Herzogs von Gramont in den Journalen erschien, in welcher dieser Träger eines edlen, alt französischen Namens das Nationalgefühl Frankreichs aufrief gegen die Wiederherstellung des Reiches Karl V., dieses deutschen Kaisers, der einst in seinen Kämpfen gegen den ritterlichen König Franz I. die Stadt St. Dizier belagert und vor deren Mauern den entscheidenden Widerstand gegen sein siegreiches Vordringen gefunden hatte, da war in dieser kleinen Stadt nur eine Stimme der Entrüstung und der Begeisterung, und jeder Bürger von St. Dizier wäre bereit gewesen, die Waffen zu ergreifen, um unter den Fahnen Frankreichs hinaus zu ziehen zum Kampf gegen die Nachkommen der Soldaten Karl V.

Die vollste Übereinstimmung zwischen ihren Anschauungen und Gefühlen herrschte zwischen Herrn Challier und Herrn Vergier, und wenn die Abendzeitungen die neuesten Nachrichten über die Vorgänge in Paris und in Ems brachten, so ergingen sich Beide in gleichen und einander ergänzenden Ausdrücken der Entrüstung gegen die deutsche Anmaßung und der begeisterten Hoffnung auf einen siegreichen Krieg Frankreichs; und mit leuchtenden Blicken hörte Luise diesem Gespräch zu, – jedes Wort fand einen Wiederhall in ihrem Herzen. Zum ersten Mal nach langer Zeit schlug dies Herz wieder in höherer Wallung auf, die Erinnerung an ihre verlorene Liebe verschwand fast vor dem Gefühl des nationalen Stolzes, der sie erfüllte.

Eines Abends trat Herr Vergier hastig und von heftiger Aufregung zitternd in das Wohnzimmer, in welchem der alte Challier mit seiner Tochter saß.

»Die Entscheidung ist da,« rief er, dem alten Herrn ein Zeitungsblatt hinreichend, »alle diplomatischen Künste können diesmal den Krieg, nach welchem Frankreich dürstet, nicht aufhalten. Unsere Ehre ist engagirt, und wenn die Regierung jetzt nicht unmittelbar handelt, so wird das Nationalgefühl dies nicht länger ertragen. Der König von Preußen,« sagte er, zu Luise gewendet, während Herr Challier das Zeitungsblatt durchlas, »hat es verweigert, den Botschafter Frankreichs anzuhören, ja nur zu empfangen. Das ist eine Beleidigung, wie sie im Verkehr der Nationen noch nicht vorgekommen ist, und zum Überfluß hat die preußische Regierung diese unerhörte Thatsache noch in der schroffsten und verletzendsten Form allen übrigen Cabinetten Europa's mitgetheilt. Die unmittelbare Kriegserklärung ist die einzige mögliche Antwort auf diese Provocation. Bereits sind Eisenbahnzüge angemeldet,« fuhr er fort, »welche die Truppen nach den Grenzen führen, die Commando's sind vertheilt, und in vierzehn Tagen vielleicht schon können wir die Nachricht von den ersten Siegen unserer Armeen erhalten.«

Einen Augenblick zuckte es schmerzlich über das Gesicht Luisens, dann aber leuchteten ihre Augen in hoher Begeisterung auf, fragend richtete sie den Blick auf ihren Vater.

Dieser hatte das Zeitungsblatt langsam durchgelesen.

»Ja,« sagte er ernst, »das ist der Krieg. Ein Krieg, der die Welt erschüttern wird, und der hoffentlich alles Unrecht wieder gut machen wird, welches das coalirte Europa uns einst gethan. Gott segne Frankreich!« fügte er hinzu, die Hände gefaltet.

»Ja, Gott segne Frankreich,« flüsterte Luise leise, indem ihr Blick sich mit dem Ausdruck innigsten Gebets aufwärts richtete.

Herr Vergier schlug einen Moment die Augen zu Boden, dann trat er zu Luise hin und sprach nach einem leichten Zögern:

»Fräulein Luise, ich habe nie wieder dessen erwähnt, was früher zwischen uns vorgegangen, obgleich die schmerzliche Erinnerung daran mich keinen Augenblick verlassen hat. Verzeihen Sie, wenn ich Sie heute daran erinnere, aber in einem Augenblick wie dieser, in welchem alle Kinder Frankreichs in gemeinsamen Wünschen und Hoffnungen sich begegnen, soll es auch zwischen uns klar werden. Sie haben mir einst schwer gezürnt, als ich dem bitteren Schmerz Worte verlieh, den mein Herz darüber empfand, daß Sie Ihre Liebe einem Fremden, einem Feinde Frankreichs, zugewendet. Fräulein Luise, mein treues und tiefes Gefühl für Sie hat in seinem Instinct das Richtige erkannt, jener Fremde hat Sie verlassen, Ihre Liebe verachtet, – ich habe das nie erwähnt, aber ich habe es wohl gesehen, und ich habe auch gesehen, was Sie gelitten haben. Ich will heute nicht noch einmal den Verdacht aussprechen, den ich gegen jenen Fremden gehegt; die Ereignisse haben jenen Verdacht nicht entkräftet, und vielleicht werden auch Sie heute meine damaligen Besorgnisse anders beurtheilen, als Sie es zu jener Zeit gethan. Ich kann mir,« fuhr er fort, »nicht denken, daß heute noch in Ihrem Herzen ein Rest von Liebe gegen Denjenigen bestehen soll, der vielleicht in diesem Augenblick schon mit der Waffe in der Hand gegen die Grenzen unseres heiligen Vaterlandes heranzieht –«

Mit stolz blitzenden Augen schüttelte Luise schweigend den Kopf.

»Ich will mir auch nicht anmaßen,« fuhr Herr Vergier fort, indem bei der Bewegung des jungen Mädchens ein freudiger Strahl in seinen dunklen Augen aufleuchtete, »ich will mir auch nicht anmaßen, daß es mir möglich sei, so schnell in Ihrem Herzen die Gefühle erwecken zu können, welche Sie mir früher versagten, aber Freundschaft und Vertrauen werden Sie mir heute hoffentlich nicht mehr verweigern können, heute, wo alle Franzosen nur eine große Familie bilden.«

Luise reichte ihm mit einer Bewegung voll aufrichtiger Herzlichkeit die Hand.

»In Zeiten wie die heutigen, in denen wir großen und vielleicht langwierigen Entscheidungskämpfen entgegengehen, bedarf eine Frau mehr als je des Schutzes und der Gewißheit einer sichern und ruhigen Zukunft. Sie wissen, Fräulein Luise, daß ich mein Glück nur an Ihrer Seite finden kann, Sie wissen auch, daß Sie in mir eine treue und feste Stütze für das ganze Leben finden werden, Sie wissen, daß Ihr Vater unsere Verbindung einst wünschte, und daß er sie vielleicht jetzt wieder wünscht. Erlauben Sie mir in diesem großen Augenblick die Frage an Sie zu richten, ob Sie in Erwiderung meiner tiefen und glühenden Liebe mir Vertrauen und Freundschaft schenken, mir Ihr Leben anvertrauen wollen.«

Luise sah ihn klar und frei an.

»Ich danke Ihnen, Herr Vergier,« sagte sie, »dafür, daß Sie all des Schmerzlichen, das zwischen uns liegt, bisher niemals erwähnt haben, – ob in meinem Herzen Dasjenige jemals wieder erwachen kann, was man die Liebe nennt,« fuhr sie mit traurigem Ton, durch welchen eine gewisse Bitterkeit hindurchklang, fort, »weiß ich nicht. Freundschaft und Vertrauen glaube ich Ihnen geben zu können, und in dieser Freundschaft und in diesem Vertrauen antworte ich Ihnen frei und offen. Ja, ich will Ihren Antrag annehmen und ich will versuchen, Ihrem Leben soviel Freude und Glück zu geben, als aus meinem Herzen noch erblühen kann.«

Mit ruhigem, freundlichem Lächeln reichte sie ihm die Hand, welche er, seine leidenschaftliche Bewegung bemeisternd, ehrerbietig an die Lippen drückte.

»Aber,« fuhr Luise fort, »Sie müssen mir versprechen, daß über diesen Gegenstand jetzt nicht weiter gesprochen wird. In diesem Augenblick, in welchem das Vaterland in Gefahr ist, in welchem Frankreich sich zu einem gewaltigen Kampf rüstet, schickt es sich nicht, an etwas Anderes zu denken, als an die Zukunft unseres Landes. An dem Tage, an welchem unsere Heere wieder siegreich in Paris einziehen, will ich Ihnen meine Hand reichen, an jenem Tage soll unsere Verbindung vor dem Altar den Segen des Himmels erhalten.«

»Das ist brav gesprochen,« rief der alte Challier, »gesprochen wie eine Französin, wie eine Tochter der alten Bragars.«

»Und damit bin ich von Herzen einverstanden,« rief Herr Vergier, »und wenn es möglich ist, werden nun meine Wünsche noch glühender die Waffen Frankreichs begleiten, denn der stolze Tag des großen Nationalsieges wird zugleich mit der erneuten herrlichen Größe des Vaterlandes das Glück meines Lebens begründen.«

Luise stand langsam auf und trat an ein Pianino, welches zur Seite des Fensters stand, sie öffnete dasselbe, setzte sich auf den davorstehenden Sessel und schlug in einfachen kräftigen Accorden die ergreifende Melodie des Chant du départ an, welche so mächtig und gewaltig alle französischen Herzen erfaßt und die Erinnerung an jene von Begeisterung glühenden Freiwilligen aufsteigen läßt, die voll Muth und Todesverachtung nach den Grenzen hinauszogen, um dort Zeugniß abzulegen für die edlen und großen Gedanken, welche in der Revolution lebten und welche in dem blutigen Schlamme von Paris untergingen.

Leise bewegte Herr Challier die Lippen, die Melodie begleitend, – Herr Vergier wandte sich ab und trat an das Fenster, nach dem dunkel glühenden Abendhimmel hinausblickend.

»Ich habe gesiegt,« flüsterte er vor sich hin, – »möchte nun,« fuhr er fort, indem ein düsterer Grimm in seinen Augen brannte, »die erste französische Kugel jenen verhaßten Feind meines Landes treffen, der fast das Glück meines Lebens zerstört hätte.«


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