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Kinderjahre

Am 28. September 1803 erblickte ich das Licht dieser Erde, und zwar in der Friedrichstadt, einer Vorstadt Dresdens, welche die Hautevolêe zu ihrem Sitze nicht erkoren hatte. Auf der geraden und sehr breiten Friedrichstraße, welche bei der Kirche ins freie Feld endete, lag zwar das schöne Palais des Grafen Marcolini, in dessen Räumen sich einige Jahre später das welthistorische Ereignis abspielte, daß Kaiser Napoleon I. seinen Hut daselbst fallen ließ, welcher von Metternich nicht aufgehoben wurde, was dann seine große Bedeutung und noch größere Folgen hatte. Dies Palais nun ausgenommen – wir wohnten ihm schrägüber –, trugen die Häuser dieser ganzen Vorstadt mehr den Charakter einer kleinen Landstadt; auch wohnten viel arme Leute da.

Meine Eltern wohnten in den ersten Jahren ihrer Verheiratung daselbst auf der Ostrastraße. Und mein späterer lieber Freund Ernst Oehme hat mir in Rom, wo wir uns kennenlernten, mehrmals erzählt, wie er mich als Wickelkind herumgetragen habe, denn er war etwa sechs Jahre älter als ich, und unsere Mütter befreundet. Mein Vater war Zeichner und Kupferstecher und ein Schüler Adrian Zinggs, von welchem ich auch meinen Vornamen Adrian bekommen habe, weil er mein Pate gewesen.

Das Verhältnis Zinggs zu seinen Schülern war eigentümlicher Art und erinnert noch an die Meisterschulen des vorigen Jahrhunderts. Er nahm Knaben in seine Schülerwerkstatt auf, welche Lust und Fähigkeit zur Kunst zu erkennen gaben, schulte sie zu einer sichern Handfertigkeit in einer scharf bestimmten Manier des Zeichnens und Tuschens, und zeigten sie sich endlich darin tüchtig, so erhielten sie je nach ihrer Brauchbarkeit einen monatlichen Gehalt und arbeiteten für ihn. So hatte er einige der besten Schüler noch in seinem Solde, als dieselben sich bereits verheiratet hatten. Der vorzüglichste derselben war mein Vater, welcher nicht allein Kupferplatten für ihn stach, sondern auch die großen Sepiazeichnungen, welche Zingg alljährlich auf die Kunstausstellung gab, komponierte und bis auf das letzte Tüpfel selbständig ausführte, unter welche dann der alte Zingg ganz naiv seinen Namen setzte. Es war dies auch gar kein Geheimnis, und Zinggs akademische Kollegen bezeichneten die Blätter als Zinggs Ausstellungsarbeit, von Richter gezeichnet. Die Eltern nahmen bald eine Wohnung in der Stadt, auf der äußeren Rampischen Gasse, wo der Vater näher zu dem Atelier Zinggs hatte, welches auf der Moritzstraße war.

Eine meiner frühesten Erinnerungen ist der Besuch bei Großpapa Müller, der ein kleines Kaufmannslädchen auf der Schäferstraße besaß und ein Haus mit sehr großem Garten. Auf dem Wege zu den Großeltern waren wir bei einem Hause vorübergekommen, vor welchem ein schöner Rasenplatz mit vielen blauen Glocken- und weißen Sternblumen meine Aufmerksamkeit so gefesselt hatte, daß ich kaum von der Stelle zu bringen war Als ich aber bei den Großeltern angelangt und regaliert worden war und vor dem Hause herumtrippelte – ich war etwa drei Jahre alt –, fielen mir die wunderbaren Sternblumen wieder ein, und ich wackelte in gutem Vertrauen fort, durch mehrere einsame Gassen, und gelangte auch richtig zu dem Gehöfte mit dem schönen Rasenplatz, wo ich denn für Großpapa einen prächtigen Strauß pflückte und wieder fortmarschierte. Da ich aber nur vertrauensvoll meiner Nase nachging, diese aber vermutlich damals ein noch zu kleiner Wegweiser war, so brachte diese mich nach der entgegengesetzten Richtung auf weitem, weitem Weg in die Stadt. Ich war sehr verwundert, daß Großpapas Haus auch gar nicht kommen wollte, trotzdem es Abend wurde. Lebhaft erinnerlich ist mir's, wie ich kleines Wurm, den Blumenstrauß fest in der Hand, jämmerlich weinend, um Mitternacht auf dem im Mondschein ruhenden Altenmarkt stand, ein so winzig kleines Figürchen auf dem großen, öden Platze. – Da kam der Rettungsengel in Gestalt eines Ratswächters, den Dreimaster auf dem Kopfe und Säbel an der Seite, von dem im Schatten liegenden Rathause herüber, fragte mich und trug mich zu der in Todesängsten schwebenden Mutter; denn man hatte das verlaufene Kind bereits auf dem Rathause gemeldet, und mein wirklicher Schutzengel hatte mich glücklich davor hingeführt.

Ich will aber jetzt auf die Großeltern zurückkommen, denn beide, sowohl die von väterlicher wie mütterlicher Seite, repräsentierten noch die alte Zeit, das vorige Jahrhundert, und zwar in seiner kleinbürgerlichen Gestalt. Mir haben sich die Bilder von ihnen und ihrer Umgebung bis ins kleinste lebendig erhalten; denn es waren charakteristisch ausgeprägte Typen bürgerlichen Kleinlebens, während die Dinge im elterlichen Hause viel mehr verblaßt sind, denn sie hatten das modern-nüchterne Gepräge der neuen Zeit und übten unendlich weniger poetischen Reiz auf mich aus! – Die Müller-Großeltern wurden oft besucht. Das kleine Kaufmannslädchen, durch welches man den Eingang in das noch kleinere und einzige Stübchen nehmen mußte, war ein höchst interessantes Heiligtum. Das Fenster außen garniert mit hölzernen, gelb und orange bemalten Kugeln, welche Zitronen und Apfelsinen vorstellten, die aber niemals in natura vorhanden waren und auch bei der armen Kundschaft keine Käufer gefunden haben würden; dann der große, blanke Messingmond, vor welchem abends die Lampe angezündet wurde, und der dann mit seinem wunderbar blendenden Glanz das Lädchen zu einem Feenpalast verwandelte; die vielen verschlossenen Kästen, der anziehende Sirupständer, dessen Inhalt so oft in den schönsten Spirallinien auf das untergehaltene Dreierbrot sich ergoß, die Büchsen mit bunten Zuckerplätzchen, Kalmus, Ingwerblättchen, Johannisbrot – und schließlich der Duft dieser Atmosphäre: welche ahnungsvolle Stätte voll Herrlichkeit!

Endlich der Kaufherr selbst, mit baumwollener Zipfelmütze und kaffeebrauner Ladenschürze geschmückt, wie hastig und eifrig fuhr er in die Kästen, langte dem Barfüßler für ein Pfennig Pfeffer, ein Pfennig Ingwer, ein Pfennig neue Würze und drei Pfennig Baumöl freundlichst zu, der Barfüßler verschwand, und die Klingel an der Türe bimmelte unaufhörlich der ab- und zugehenden Kundschaft vor und nach!

Die Großmama, eine ruhige, etwas stolze Frau, bewegte sich gemächlich aus dem Stübchen zur Küche und aus der Küche in die Stube; und selten war sie anderswo zu erblicken; ich kann mich aber nicht erinnern, daß sie mit mir oder überhaupt viel gesprochen, oder das Gesicht einmal in andere Falten gezogen hätte; deshalb interessierte sie mich auch nicht. Mehr aber der alte Stahl, ein Holländer und Landsmann der Großmama, die eine geborene van der Berg war. Dieser erhielt einige Tage in der Woche den Tisch bei Müllers, saß dann tagüber am Fenster, ließ die Daumen umeinanderkreisen, und ich stellte mich gern vor ihm hin und bewunderte seine Perücke mit dem ehrwürdigen großen Haarbeutel, und besonders die blitzenden Stahlknöpfe auf dem hechtgrauen Frack. Er war ein Zeuge der Pariser Revolution, hatte bei der Schweizergarde gedient, und als diese am 10. August 1792 in Versailles meistens bei Verteidigung des Königs umgebracht wurde, war Stahl einer der wenigen, welche glücklich entkamen. Er hatte sich mehrere Tage in einer Schleuse verkrochen und in Gesellschaft der Ratten zugebracht, bis er sich nachts zu einem Freund retten konnte. Das Entsetzlichste indes, was er erzählte, war mir die Mitteilung, daß man in seinem Vaterlande Käse sogar in die Suppe schütte, wobei ich freilich an unsere landläufigen spitzen Quarkkäse dachte, was mir Schauder einflößte.

Ein Hauptvergnügen verschaffte mir der dicke Stoß Bilderbogen, welche im Laden zum Verkauf lagen und die ich alle mit Muße betrachten konnte. Außer der ganzen sächsischen Kavallerie und Infanterie war da auch »die verkehrte Welt« mit herrlichen Reimen darunter, das Gänsespiel, die Kaffeegesellschaft, Jahreszeiten und dergleichen, alle in derbem Holzschnitt und grell bunt bemalt. Der ehrbare Meister und Verleger dieser Kunstwerke war ein Friedrichstädter Mitbürger, Rüdiger, den ich auch mehrmals mit ehrfurchtsvoller Bewunderung die Schäferstraße hinabwandelnd gesehen habe. – Großer Dreimaster, zwei Haarwülste und Haarbeutel, apfelgrüner Frackrock, Schnallenschuhe und langes spanisches Rohr, schritt er ehrenfest daher! – Requiescas in pace, Freudenspender der Jugend, du Adam und Stammvater der Dresdener Holzschneider, ehrwürdiges Vorbild und Vorläufer!

Endlich der von den Nebengebäuden eingeschlossene Hof mit dem daranstoßenden, sehr großen Garten, welch ein Schauplatz süßester Freuden! Da wurde mit der Jugend der Nachbarschaft ein Vogelschießen veranstaltet, am Johannistag um eine hohe Blumenpyramide von Rosen und weißen Lilien getanzt, oben die herrlich duftende Vorratskammer besucht, wo die süßen Zapfenbirnen und anderes frisches und trockenes Obst in Haufen lagen, unten der Schweinestall mit seinen Insassen rekognosziert, und welch ein Festtag, wenn das Tier geschlachtet wurde! Zwar durfte ich bei dieser Exekution nicht zugegen sein und hörte die durchdringenden Seufzer nur von ferne; aber dann sah ich das schöne Fleisch gar appetitlich zerlegen, das Wellfleisch kochen, und das kleine, einfenstrige Wohnstübchen war für den Metzgermeister zum Wurstmachen hergerichtet. Ein Geruch von süßem Fleisch, kräftigem Pfeffer und Majoran durchwürzte die Luft, und welche Wonne, zu sehen, wie die hellen langen Leberwürstlein samt den teils schlanken, teils untersetzten oder gar völlig korpulenten Blut- und Magenwürsten in dem Brodeln des großen Kessels auf- und untertauchten, endlich herausgefischt und probiert wurden. – Wie lebendig wurde es dann im Lädchen, die Klingel bimmelte ohne Aufhören, denn »Müllers hatten ein Schwein geschlachtet«, und so kamen die Kinder in Scharen mit Töpfchen und Krügen, und immer wiederholte sich die Bitte: »Schenken Sie mir ein bißchen Wurstbrühe«, oder »für zwei Pfennig Wurstbrühe, Herr Müller!« Der cholerische, sonst gute Herr Müller konnte sich der Scharen gar nicht mehr erwehren, die Klingel bimmelte völlig Sturm, mit immer größeren Schritten lief er hinter der Ladentafel scheltend und polternd einher und glich so wegen der Kürze des Raumes einem im Käfig herumtrabenden gereizten Tiger. Endlich stand die Zipfelmütze bolzgerade in die Höhe, und das Wetter brach los: »Ihr Racker, jetzt packt euch alle, nun kommt die Hetzpeitsche!« und im Nu stürzte und purzelte die ganze kleine Bande zur Ladentüre hinaus, wobei einige der Kleinsten noch mit ihren Töpfchen übereinanderfielen. Der gute alte Müller stand mit der drohenden Hetzpeitsche wie der Donnergott Jovis unter der offengebliebenen Tür, und als die Schar in die Ferne sich verlaufen hatte, schloß er diese dann eigenhändig!

Dies kleine Müllerlädchen mit seiner Kundschaft, die in einem armen Stadtviertel eine recht bunt-charakteristische ist, hat gewiß auf mein künstlerisches Gestalten in späteren Jahren viel Einfluß gehabt; unbewußt tauchten diese Geister alle auf und standen mir Modell.

Dies waren nun die Eindrücke aus der Menschenwelt. Der Garten bot nun anderes. Noch bis heute berührt mich der Anblick der Blumen – aber nur die allbekannten, welche ich in der Jugend sah, ganz eigentümlich und tief. In der Farbe und Gestalt, im Geruch und Geschmack' mancher Früchte oder Blumen liegt für mich eine Art Poesie, und ich habe die Früchte mindestens ebensogern nur gesehen als gegessen. Der Garten hatte Rosenbüsche in Unzahl. Wie oft guckte ich lange, lange in das kühle, von der Sonne durchleuchtete Rot eines solchen Rosenkelches, und der herausströmende Duft mitsamt der himmlischen Farbenglut zauberte mich in ein fernes, fernes Paradies, wo alles so rein, so schön und selig war! – Ich wußte freilich nichts von Dante; jetzt aber meine ich, er habe wohl auch in solche Rosenglut geschaut und kein besser irdisch Bild für seine Paradiesvision sich erdenken können, und in den Kelch setzt er die Reinste der Reinen!

Es stand am Ende des Gartens ein uralter Birnbaum, zwischen dessen mächtigen Ästen ich mir einen Sitz zurechtgemacht hatte und da stundenlang in dem grünen Gezweig träumerisch verbrachte, um mich die zwitschernden Finken und Spatzen, mit welchen letzteren ich zur Zeit der Reife die Birnen teilte, die der alte Baum in Unzahl trug. Von diesem verborgenen Aufenthalt überblickte man den ganzen Garten, mit seinen Johannis- und Stachelbeersträuchern, den Reihen wild durcheinander wachsender Rosen, Feuerlilien, brennender Liebe, Lack und Levkoien, Hortensien und Eisenhut, Nelken und Fuchsschwanz – wer nennt alle ihre Namen! Dann zur Seite die Gemüsebeete, und über die Gartenmauer hinüber die gelben Kornfelder und die fernen Höhen von Roßtal und Plauen! Das war nun mein Bereich, wo ich mich einsam oder in Gesellschaft von Spielgenossen oder tätig beim Begießen der Gurken, des Kopfsalats, der Zwiebeln und Bohnen beschäftigte.

Ob sich bei solch müßigem Treiben auf einem für das Kindesalter geeigneten reichen Schauplatze Phantasie und Gemüt nicht noch besser ausbilden sollte, als in den jetzt beliebten Kleinkindergärten, wo systematisch gespielt wird, stets mit »bildender« Belehrung und von »liebevoller Aufsicht« umgeben?


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