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Als ich ungefähr zwölf Jahre alt war, hörte der Schulbesuch auf, und ich bekam nun ein Plätzchen neben des Vaters Arbeitstisch oder an dem zweiten Fenster angewiesen, wo ich mich im Zeichnen übte Ich war niemals gefragt worden, welchen Beruf ich wohl erwählen möchte, sondern es wurde als selbstverständlich angenommen, daß ich werden solle, was der Vater war, nämlich Zeichner und Kupferstecher. In der Stille hegte ich zwar die Vorstellung. daß »Malen« noch etwas viel Herrlicheres sei als Kupferstechen; vorderhand mußte ich mich aber mit letzterem begnügen.
Der Vater hatte damals große Arbeiten für den Fürsten Czartoryski auszuführen; ja dieser Herr gab sich die größte Mühe, ihn nach Warschau zu ziehen, und offerierte ihm eine Professorstelle mit gutem Gehalt, welche Anerbietungen der Vater aber nicht anzunehmen wagte, da ihm bei seiner gänzlichen Unkenntnis der französischen Sprache und in beschränkten Verhältnissen ein solcher Umzug mit Frau und Kindern bedenklich schien. So arbeitete er denn an seinen mühsamen großen Kupferplatten fort, für welche er sich viel zu gering bezahlen ließ, und radierte zwischendurch, um den Lebensunterhalt damit zu decken, Blätter für die damaligen Volkskalender oder kleine Prospekte für Kunsthändler, welche koloriert wurden und damals Mode waren. Für diese kleineren Arbeiten wurde ich nun sehr bald in Bewegung gesetzt, indem ich nach anderen bunten Jahrmarktsbildern die Schlacht von Waterloo, den Wiener Kongreß oder große Feuersbrünste, Mordtaten und Erdbeben kopierte oder arrangierte. Später durfte ich sogar diese Sachen auf Kupfer radieren, und ich weiß noch genau, mit welch freudig stolzer Empfindung ich die Erlaubnis aufnahm, die Geschichte von Tells Apfelschuß auf die Kupferplatte umreißen zu dürfen, und mit welch selbstbewußten, frohen Blicken ich die glänzenden Striche am Feierabend betrachtete.
Es waren Buchbinder, welche diese Kalender im Verlag hatten, und zum Jahrmarkt im Anfang des Herbstes kamen alljährlich diese Vögel gezogen, um ihre Bestellungen zu machen. Von meinem Arbeitstischchen aus ergötzte ich mich denn an diesen zum Teil wunderlichen Gestalten und ihren Konversationen mit dem Papa: denn jeder bemühte sich, mit diplomatischer Schlauheit auszuforschen, welche interessanten Gegenstände aus der Geschichte des letzten Jahres die anderen Herren Kollegen zum Kupfer sich erwählt hatten, denn jeder wollte das anziehendste, das pikanteste Bild bringen. Außer den Dresdner Verlegern stellten Pirna, Meißen, Freiberg und Stolpen ihre Kontingente, und der Stolpener war meine besondere Freude. Zu Fuß kam er von seinem Bergstädtlein hergewandert und legte, sowie er in die Stube trat, höflichst seinen Hut, den leinenen Quersack und den langen buchenen Wanderstab auf den Boden an der Tür und kam nun mit lebhafter Gebärde und treuherzig ehrlichen Worten auf den Vater los und vertraute ihm allmählich das Geheimnis seiner Bilderwahl, die denn gewöhnlich auf Gegenstände gefallen war, welche seine Konkurrenten auch schon bestellt hatten. Bei dieser unangenehmen Entdeckung runzelte sich die Stirn, denn die Augenbrauen hatten sich blitzschnell hoch über die funkelnden Äuglein erhoben, und den Finger an das rötliche Knöpfchen seiner Nase gelegt, nahm er eine höchst nachdenkliche Stellung ein, bis sein guter Genius ihn einen anderen schönen Gegenstand entdecken ließ oder der Vater mit einem solchen herausrückte. Noch angenehmer nahm sich das ehrenhafte Männlein aus, wenn er endlich die gewuchtige Katze zog und eine Abschlagszahlung von sechs oder acht Talern mit dem Pathos eines gewissenhaften, »prompten« Geschäftsmannes bar aufzählte. So habe ich denn damals an allen großen Weltbegebenheiten einen lebhaften Anteil genommen, indem ich sie auf Kupfer kratzte.
Wir hatten bald nach dem Krieg eine Wohnung auf der Moritzstraße bezogen, wo uns der alte Zingg, der einige Häuser von uns wohnte, oft besuchte. Eines Tages saß ich eben fleißig vor einer Radierung von Berchem, welche ich mit der Feder kopiert hatte. Es war schon gegen Abend, und der schöne, rote Levkoi und die gelben Lackstöcke dufteten recht herrlich am Fenster, woran ich saß (ich habe immer gern unter Blumen gearbeitet), und während ich meine Arbeit nochmals betrachtete und hie und da mit einigen Strichen nachhalf, trat der Vater und Mutter mit Pate Zingg in lebhaftem Gespräch ein. Etwas verlegen suchte ich mein Kunstwerk samt dem Original heimlich in die Mappe zu praktizieren; denn die große Ehrfurcht, die ich vor meinem gepuderten Paten und Professor hatte, erlaubte mir nicht, mit meinen Kunstwerken ihm unter die Augen zu treten. Jedoch gerade das Geräusch des Papieres, welches ich verbergen wollte, machte ihn aufmerksam. Der alte Herr hatte sich in meiner Nähe auf einen Stuhl niedergelassen und eine Prise aus seiner goldenen Tabatiere genommen, als er meinen Vater fragte: »Was macht der Bue da?« Der Vater winkte mir: »Zeig es mal dem Herrn Professor!« Ich wurde rot und brachte es ihm. Er betrachtete die Zeichnung lange, indem er mit dem Rücken der Hand, in welcher er eine Prise hielt, die Linien der Esel und Schafe und Menschen umschrieb und beifällige Töne dabei vernehmen ließ. Papa meinte ironisch: »Nicht wahr, man sollte denken, es sei von Berchem selber?« – »Ah, by Gott! aus dem Bue kann was werde«, sagte darauf der alte Herr ganz ernsthaft, und ich wurde nun noch röter als zuvor, nahm mein Blatt und packte es ein, ganz in der Stille, mit einem gehobenen, seelen frohen Herzen.
Es gibt »geflügelte Worte«, die wie ein Blitz treffen und zünden, oder auch wie ein Samenkorn in die empfängliche Frühlingserde fallen und darin lebendig fortwirken, und von letzterer Art war mir das Prognostikon meines Herrn Paten; es befeuerte mich mächtig, und ich arbeitete unablässig weiter.
Zingg wohnte in dem Meinholdschen Hause auf der Moritzstraße. In dem Hausflur nach dem düsteren Hofe heraus wohnte Frau Harnapp, seine Haushälterin. Ihr Sohn war auch Schüler von Zingg und zugleich dessen Faktotum und hatte viel Verkehr mit meinem Vater. Wenn meine Eltern des Abends dann und wann beim alten Zingg waren, ließen sie mich gewöhnlich unten im Gewahrsam der Hausfrau und deren beiden Töchter. Es war eine düstere, hohe und sehr winklige Stube, sauber, aber rumplig und verräuchert. In einem der Winkel war das Gemach horizontal geteilt und die obere Hälfte ein eingefügter Holzverschlag, zu welchem man auf einer Leiter hinaufstieg. Dies nannte man eine »Kuhkanzel« und war das Schlafgemach der Mädchen.
Da saß ich nun oft des Abends mit Milchen, die ein paar Jahre älter war als ich, bei einem trüben Küchenlämpchen unter besagter Kuhkanzel, und da sie sehr bewandert war in allerhand Geschichten und Märchen, so gab sie deren zum besten. Ich hörte hier namentlich das Märlein vom Aschenbrödel mit besonderem Wohlgefallen von ihr vortragen, wobei ich immer ganz entzückt und verwundert bald das hübsche, rosige Gesicht, bald die gelben Haare betrachtete, die so reizend vom Lämpchen beleuchtet waren, und bald war das Märchenbild und die Erzählerin zu einer Person verschwommen.
Hier aus diesem Rembrandtschen Helldunkel leuchteten mir zuerst die schönen, alten Geschichten entgegen: zwei rote Mädchenlippen und zwei gläubige Kinderaugen waren die lebendigen Verkünder einer Wunderwelt, die niemals alternd in ewiger Jugend grünt und duftet! Solch genügsame Armut, gläubige Einfalt und Herzensreine, wie hier sich vorfanden, sind wohl auch die Geburts- und Pflegstätte – das heilige Bethlehem – dieser uralten Dichtungen gewesen.
Wer das Ohr auf diesen Waldboden niederlegt, der hört aus der Tiefe des Gemüts das Rauschen eines verborgenen Quells, den Herzschlag des deutschen Volkes.
War ihr Vorrat von Märchen erschöpft oder sie hatte keine Lust zum Erzählen, so holte sie aus ihrer kleinen Kommode einige der alten Jahrmarktsbücher, »vom Kaiser Oktavianus« oder die »schöne Melusine«, und wir steckten dann die Köpfe zusammen und lasen zusammen aus einem dieser Bücher. Das war nun wieder wunderschön, und wir hätten gern wer weiß wie lange gelesen, wenn nicht die alte brave Frau Harnapp etwas ungehalten ermahnt hätte, doch lieber die Bibel, das Gesangbuch oder eine Arbeit zur Hand zu nehmen, anstatt an diesen albernen Rittergeschichten die Augen zu verderben und sich am Ende Raupen in den Kopf zu setzen. Frau Harnapp gehörte der böhmischen Gemeinde an und führte wie die meisten dieser von den mährischen Brüdern abstammenden Leute ein gutes, aber strenges Regiment.
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Um diese Zeit war es auch, wo ich öfter als früher zu den Großeltern von väterlicher Seite kam, von denen ich bisher noch nicht gesprochen habe, und der Eindruck dieses armen, kleinen Hauswesens und seiner Insassen ist mir durch seine stark ausgeprägte Physiognomie und poetische Färbung recht lebendig geblieben. Es sind abermals Bilder im Rembrandtschen Dämmerlicht.
Der alte Großvater Richter wohnte in einem engen, düstern Hofe eines Hauses hinter der Frauenkirche. Eine Treppe hoch war in diesem Hinterhause eine Judenschule, und zur Zeit der langen Nacht lauschte ich oft an der Tür und sah in dem erhellten Raume die Leute in ihren weißen Sterbekitteln sich neigen und beugen und, sonderbar klingende Laute ausstoßend, beten. Am Laubhüttenfeste war das enge Höfchen mit Tannenreisern und Laubwerk überdeckt, und das Volk Israel im bunten, reichen Festgewande saß schmausend und plaudernd darunter. Der ganze Hof duftete nach Majoran und andern Würzkräutern, nach Backwerk und Gebratenem. Beim Großvater bekam ich dann Matzen, das Brot der Wüste, was mir wunderbar schmeckte.
Oben über der Judenschule saß im dunklen Stübchen hinter dem Ofen die freundliche blinde Großmutter, lauschend, ob nicht die Klingel an der Vorhaustür irgendeinen Eintretenden verkünde, der in ihre Einsamkeit etwas Leben brächte; denn sie war von Natur heiter und zur Mitteilung aufgelegt. Der Großvater stand in der Druckerstube an der Presse – er war Kupferdrucker –, und die Großmutter hörte den ganzen Tag nur das Klappern der Kupferplatten beim Einschwärzen derselben oder das Knarren der Presse und außerdem das rasende Geticke-Getacke der vielen Wanduhren, welche Großpapa aus Liebhaberei mit seinen zitternden Händen repariert hatte. Die größte derselben rief alle Stunden ihr lautes Guck-guck in das Geschwirre.
War nun schlecht Wetter, so traf es sich zuweilen, daß mehrere lange Tage dahinschlichen, wo die gute Großmutter stumm in ihrem Winkel saß und vergeblich auf das Kommen irgendeines menschlichen Wesens harrte, mit welchem sie sprechen konnte. Die Besuche, welche hier aus und ein gingen, waren sehr wunderbare Gestalten und besser zu zeichnen, als zu beschreiben. Der Vorzüglichste, ihr Liebling, war der alte Schuhmann, wohlbestallter Noten-, Pauken- und Baßgeigenträger beim Herrn Stadtpfeifer, wenn dieser mit seinem Chore Gartenkonzerte in dem Linkeschen Bade gab, wo dann Schuhmann als Konzertbüchsenhalter am Eingange figurierte. Er ließ seine Verdienste um das rechte Instrumententragen nicht unbeleuchtet, denn: »Es heißt alles Pauken tragen, aber wie?« sagte er. Er war, wie schon gesagt, der Favorit der Großmutter, denn er wußte immer etwas Neues mitzuteilen und tat es sehr gern, denn er konnte sich keine dankbarere und aufmerksamere Zuhörerin wünschen. Diese beiden Alten so am Ofen sitzen zu sehen, freundlich schwatzend, wobei »Schuhmannchen« zuweilen aus einem Papiertütchen eine Prise nahm, war schon an und für sich ein allerliebstes Genrebild, und die Zippe im Vogelbauer schien derselben Meinung zu sein, was sie mit einigen ziepsenden Lauten zu erkennen gab.
Dagegen hatte der Großvater in der alten Marianne eine Vertraute gefunden, die stets einen ganzen Kram von Neuigkeiten vor ihm auszupacken wußte. Die kirchlichen Sympathien und Antipathien der beiden Alten berührten sich ebenfalls ganz gleichmäßig, und so wurden die »Lutherschen« öfters scharf mitgenommen, was denn der blinden Großmutter Stiche ins Herz gab; denn sie hing im stillen immer noch der Lehre an, in welcher sie erzogen war. Beide Großeltern waren lutherisch gewesen; ja die Großmutter war die Tochter eines Schulmeisters zu Wachau, und einer ihrer Brüder Pastor in Döbrichau bei Wittenberg. Einige Jahre später nach ihrer Verheiratung hatte Großvater seine Kupferdruckerei in Dresden eingerichtet und war ihm durch einen katholischen Geistlichen die Aussicht geworden, die neuen Kassenbillets zum Druck zu bekommen, wodurch seinem Geschäft eine sehr bedeutende Förderung erwuchs. Er wurde katholisch und drang auch in seine Frau, überzutreten. Die Arme kämpfte mit aller Macht dagegen und weinte Tag und Nacht. Sie wußte sich nicht zu helfen und verzweifelte schier. Entweder – so mochte sie glauben – verliere sie die ewige Seligkeit oder sie lebe fortan, von Mann und Kindern als Ketzerin gehaßt, innerlich unglücklich und wie ausgestoßen ein unglückliches Leben und zerstöre dadurch das Glück der Ihrigen.
Endlich faßte sie in ihres Herzens Jammer den Entschluß, an ihren Bruder, den Pfarrer, zu schreiben. Dieser riet ihr, obwohl mit schwerem Herzen, ihren Kindern das Opfer zu bringen und nach dem Willen ihres Mannes die Konfession zu wechseln. Sie sollte sich an ihren Gott und Heiland halten und ihm vertrauen, er sei in dieser wie in jener Kirche der nämliche. Sie tat den Schritt, dem ihr Herz widerstrebte, um des Friedens willen und ihrem Mann und Kindern zuliebe und blieb nach wie vor einfältig fromm. Später erblindete sie, und tiefe Nacht und Einsamkeit umhüllte sie noch dreißig Jahre.
In der Zeit, von welcher ich jetzt erzähle, ohngefähr im zwanzigsten Jahre ihres Blindseins, lauschte sie nun oft in ihrem Winkel hinter dem Ofen gar sehnsüchtig, ob eines ihrer Kinder schicke und sie abholen lasse, und mein Vater hatte mir das Amt anvertraut, sie zu führen. Kam ich nun, so war das erste, mich zu befühlen, ob ich auch gewachsen sei, ob die Ärmel an dem Jäckchen oder die Hosen noch lang genug seien, oder ob ich wie die Schnecke aus meinem Gehäuse herausgekrochen sei. »O du Sternsöhnchen, wo willst du noch hinwachsen? Ich kann ja kaum an dir hinauflangen, die Ärmel gehen dir ja nicht mehr über die Knöchel! Jetzt aber führe mich schön an den Häusern hin, damit wir nicht unter die Kutschen kommen.« Und so führte ich die alte gute Großmutter zu unserer Wohnung, wo sie recht glücklich war, mit ihrem Karl, meinem Papa, sich unterhalten zu können, welcher indes an seinem Tische saß und arbeitete.
Einst war die Großmutter auch bei uns, als dem Vater durch einen Kanzleidiener ein Schreiben mit Königlichem Amtssiegel überbracht wurde. Der Vater war überrascht, wir alle in erwartungsvoller Spannung. Er erbrach endlich das Siegel, sah lange und freudig und farbewechselnd in das Schreiben hinein, während wir um ihn standen und in seinem Gesichte zu lesen suchten. Endlich sagte er: »Ich bin zum Professor an der Kunstakademie ernannt mit zweihundert Taler Gehalt.« Welche Freude, welcher Jubel! Ich durfte das Schreiben auch lesen, und mein Schwindel über diese Ehre gipfelte sich aufs höchste, als ich las, daß er nicht nur so ein gewöhnlicher Professor, sondern ein »außerordentlicher« geworden war. Die blinde Großmutter aber hob segnend die Hände in die Höhe und rief: »O mein Sohn Karl, an dir hat Gott Großes getan! Der Herr segne dich immerdar und gebe dir vom Tau des Himmels und von der Fettigkeit der Erden!« Und wir Kinder jubelten und sprangen, während die Eltern zur Verherrlichung des freudenreichen Tages einen Punsch brauen ließen. Am Abend erschien dann der Großvater, um später seine »Mutter« mit heimzuführen.
Wenn er zuweilen auf wundersame Geschichten aus seiner Jugendzeit zu erzählen kam, so horchten wir hoch auf; denn das Geheimnisvolle und Unerklärte hat immer einen großen Reiz für die Jugend. Da war z. B. in einem Dorfe ein Wunderdoktor, vulgo Hexenmeister oder Quacksalber gewesen, Niklas, welcher die Gabe des Fernsehens besaß und wußte, was die Leute dachten. Großvater wurde einst von seiner Gutsherrschaft zu ihm gesandt, Rat zu holen wegen der Krankheit eines Kindes. Niklas' Wohnort lag mehrere Stunden entfernt. Eine halbe Stunde vom Orte, an einem Kreuzwege, mußte Großvater seinen Schuh festbinden, welcher aufgegangen war. Dabei sah er nochmals seine schriftliche Instruktion an und die zwei Taler, welche er dem Mann verabreichen sollte. »Auch schade für das Geld«, dachte Großvater, »der wird doch nicht helfen.« Wie er nun zu Niklas kommt, tritt ihm dieser, ihn scharf ansehend, entgegen und sagt: »Was dachte er denn von mir am Wilschdorfer Kreuzwege, wo er sich die Schuhe band? Geb' er seinen Zettel nur her. Ich werde ihm Kräuter mitgeben, und sage er der Herrschaft, das Kind wird in vierzehn Tagen gesund im Hofe herumlaufen.«
Ein andermal wird Großvater nach Dresden geschickt. Es ist spät in der Nacht, als er in die Langebrücker Heide kommt, wo es nicht geheuer sein sollte. Etwas ermüdet von dem langen Wandern auf diesem sandigen Waldwege – damals war noch keine Chaussee – setzt er sich unter eine alte Eiche, die mitten auf dem breit ausgefahrenen Wege steht, und ruht aus. Es ist eine schwüle, dunkle Nacht. Nichts regt sich im Walde, alles still. – So sitzt er eine Zeitlang und berechnet, daß er gegen Morgen in Dresden sein kann. Da erwacht er aus seinen Gedanken und glaubt aus weiter Ferne ein Getöse und dazwischen ein Rufen, Johlen und Schreien zu hören, was sehr schnell sich nähert. Er sieht um sich – ein Bellen, Klatschen, Halloschreien und Brausen wie eines Sturmwindes zieht über den Wald, er sieht Gestalten, »wie Türken gekleidet«, sagte er, schreiend über den Weg rennen und im Walde verschwinden, und dann verzieht sich der Sturm, und alles ist wieder still und einsam wie vorher. »Das war der wilde Jäger.« – Er stand auf, eilte weiter, und bei Anbruch des Tages gelangte er wieder nach Langebrück, wo er am Abend eingekehrt war. Der wilde Jäger hatte ihm diesen Schabernack gespielt! – Solches erzählte Großvater mit ruhiger Zuversicht und nicht ohne Beimischung eines Lächelns über die jetzige kluge Welt, die dergleichen Dinge nicht glaubt, weil sie nichts davon erfahren hat.
In früheren Zeiten, als seine Einnahmequellen ergiebiger waren, hatte er viel mit Adepten verkehrt und dem Goldmachen fleißig obgelegen. Sein bares Silber ging zwar dabei verloren, dafür kam er aber dem Geheimnis, Gold herzustellen, sehr nahe, wie er behauptete. Großmütterchen ärgerte sich zwar über »die verfluchten Teptusse« (Adepten), welche ihre schönen Taler in Rauch aufgehen ließen und weder den Stein der Weisen, noch die Universalmedizin, noch eitel Gold zuwege brachten; aber ihre Einwendungen waren ohnmächtig gegen den brennenden Wissens- oder beliebig anderen Durst dieser Weisen.
Aus früheren Jahren erinnere ich mich besonders eines uralten Juden, namens Salomon, ein langer Mann mit schäbiger Flachsperücke, ein Gesicht darunter mit tausend tiefen Runzeln, ein altväterischer Rock, der in den Nähten und Vertiefungen der Falten verriet, daß er einst scharlachrot gewesen – wie man an alten Tempeln die Farbenreste auch nur in Einschnitten und Winkeln des Ornaments noch entdecken kann. – Kurz, ein Chodowieckisches Prachtexemplar! Mit diesem Alten, der übrigens ein frommer und grundehrlicher Mann war, verkehrte Großvater besonders gern; denn er war in »geheimer Weisheit« wohlerfahren.
Die Großmutter lebte noch eine kleine Reihe von Jahren. Nach ihrem Tode zog Großvater zu uns und lebte auf seine stille Art fort. Er ging fast täglich zur Kirche, um die Messe zu hören, und nahm sonst wenig Anteil mehr an dem, was um ihn vorging. Doch war er stets heiter und liebte ein Späßchen zu machen. Er wurde achtundneunzig Jahre alt und würde vielleicht die Hundert erreicht haben, wenn sein Tod nicht durch eine äußerliche Veranlassung, einen Unfall, herbeigeführt worden wäre. Er war ausgegangen, und auf der Straße rannte ein fideler Schusterjunge an ihn mit solcher Gewalt, daß er umfiel und den Arm brach. Der Junge hatte sich im Laufen nach einem andern, ihn verfolgenden Burschen umgesehen, und so war das Unglück geschehen. Die Heilung des Bruches verzögerte sich, die Kräfte nahmen plötzlich ab, und so empfing er die Sterbesakramente und verschied sanft und ruhig.
So hatte mein Vater seine Eltern redlich gepflegt und unterhalten. Ich war bei beider Tode nicht in Dresden.
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Der freundschaftliche Verkehr mit dem alten Zingg dauerte fort, und der Vater mochte die stille Hoffnung hegen, daß er, als sein Liebling, im Testamente des vermögenden und alleinstehenden Mannes wohl bedacht sein würde. Wenigstens glaubten es andere, und Andeutungen Zinggs ließen etwas Derartiges vermuten. Zingg, der in hohem Alter war, wurde schnell körperlich und geistig schwach. Ein ihm bisher völlig fremder, älterer Mann, ein Beamter, suchte freundlich zudringlich sein Vertrauen zu gewinnen und wurde nun fast täglich bei ihm gesehen. Die Leipziger Ostermesse hatte begonnen, und Zingg entschloß sich, dieselbe nochmale trotz des Abratens seiner Freunde und Bekannten zu besuchen. Jener Beamte benutzte diesen Entschluß und die Schwäche Zinggs, ihn in der letzten Stunde vor der Abreise zur Unterschrift eines Testaments zu nötigen, das er aufgesetzt hatte und worin er sich selbst zum Universalerben gemacht hatte. Unruhig über diese Unterschrift reiste der Alte ab.
Nach etwa acht Tagen ereignete sich nun folgender sonderbarer Vorfall: ich erwachte eines Nachts aus meinem gesunden Schlafe durch ein nahes Getöse. Der Mond erhellte trotz der herabgelassenen Rouleaus genugsam die Kammer, in welcher ich mit meinem Vater schlief. Ich rieb mir die schlaftrunkenen Augen aus und war erstaunt, meinen Vater ebenfalls sitzend im Bette und gespannt horchend zu finden. »Hast du den Lärm auch gehört?« fragte er mich. Und es ging in demselben Augenblicke dasselbe Getöse wieder los. Wir horchten genau. Es war ein heftiges Werfen, Poltern und manchmal schmetterndes Krachen, das aus dem kleinen Kabinett kam, welches an das nebenanliegende Atelier stieß und in welchem eine schöne Sammlung Gipse und die Kupferstichsammlung des Vaters sich befand.
Es war gar nicht zu zweifeln, man hörte deutlich die größeren und kleineren Figuren herabstürzen und zerbrechen. Nachdem wir uns überzeugt, daß es keine Täuschung war, sprang Papa aus dem Bette, ergriff einen Säbel, eine Reliquie vom Schlachtfelde, welcher an der Wand hing, und marschierte so im Hemde, die Nachtmütze auf dem Kopfe, den Sarras in der Hand, nach der Tür. Ich aber wollte meinen Papa doch nicht allein in dieses schreckliche spukende Gipskabinett zur Ratten-, Diebes- oder Geisterschlacht ziehen lassen, oder ich fürchtete mich, allein zurückzubleiben; kurz, ich sprang mit einem kühnen Satze ebenfalls aus dem Bette, hielt mich an das Hemd des Vaters, bewaffnete mich mit einer Reißschiene, und wir öffneten vorsichtig die Ateliertür und, da sich hier nichts zeigte, auch die Tür zum Gipskabinett. Wir glaubten in eine grauenvolle Zerstörung sehen zu müssen und nichts von alledem. Es war mäuschenstill, wie es nach Mitternacht in einem stillen Hofe nur sein kann. Der Mond beschien mit Wohlgefallen den Leib der Mediceischen Venus, deren Torso an die Wand gelehnt stand: ein lebensgroßer Amor daneben streckte die Arme zum Himmel, wie er es seit Jahren getan, der Antonius stand neben Fischers Anatomie, den geschundenen Nachbar belächelnd; die Köpfe der Niobe und des Laokoon nebst diversen Armen, Beinen, Medaillons und Basreliefs – alles repräsentierte sich in alter Ordnung und ohne irgendeine Verletzung unseren Blicken. – Was nun? – Wir sahen in den Hof hinaus – still und dunkel wie immer; oben drüber sah der Vollmond herein, und das ganze Ilias lag im tiefsten Schlafe! – Zu kämpfen gab es daher nichts. Ich legte die Reißschiene wieder ins Atelier, Papa hängte seinen Sarras an die Wand, und wir zogen uns kopfschüttelnd über dies Abenteuer wieder in unsere Betten zurück.
Die nächste Nacht verging ruhig. Aber am frühen Morgen, da wir noch im Bette lagen, kam Frau Harnapp mit der Mutter in unsere Schlafkammer und rief: »Ich muß Ihnen eine Nachricht bringen, die – Ich weiß es schon«, unterbrach sie Papa, »der alte Zingg ist gestorben!« Und so war es. Eine Stafette war diesen Morgen von Leipzig gekommen mit der Nachricht, daß Zingg gestern nacht nach kurzem Unwohlsein plötzlich verschieden sei.
Alle, welche Zingg gekannt hatten, waren aufs höchste überrascht, als nach Eröffnung des Testaments der Universalerbe bekannt wurde. Dies wurde aber später von weitläufigen Verwandten Zinggs, welche aus der Schweiz gekommen waren, angefochten. Schließlich kam es zu einem Vergleich, in welchem der Beamte nur den kleineren Teil der Erbschaft erhielt. Die schöne Kunstsammlung kam unter den Hammer, und der Vater erstand viele treffliche und wertvolle alte Stiche und Radierungen, teils Zinggscher Sepiazeichnungen, welche er nach Warschau verkaufte. Auf diese Weise wurden das kleine Legat von 300 Talern, was er geerbt, und die 150 Taler, welche mir als Paten ausgesetzt waren, zu Kunstsachen verwendet, und da ich diese Schätze teils zum Kopieren, teils betrachtend benutzte, so haben sie gewiß die reichlichsten Zinsen getragen. Ich habe diesen Sachen größte Anregung und Förderung fürs ganze Leben zu danken.