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Es kam die Zeit, wo es angemessen erschien, die ersten Stufen des Weisheitstempels zu erklimmen; denn wer Birnbäume erklettert, muß auch über jene Stufen gelangen. Freilich hingen da nicht so süße Birnen in Fülle, wohl aber setzte es Nüsse zur Genüge!
Ich wurde also in die katholische Schule geschickt, welche ganz nahe am Zwinger stand, und welchen Raum jetzt das Museum mit seinen Schätzen deckt. An dem Flecke, wo jetzt die himmlische Sixtina schwebt, schwitzte ich über ABC und noch mehr über Einmaleins.
Ich kann nicht sagen, daß mich die Schule sehr erfreut hätte; sie stand auch für damalige Verhältnisse gewiß auf der untersten Stufe besagten Tempels, und ich kann mich nicht erinnern, etwas mehr als Lesen und Schreiben gelernt zu haben. Freilich mochte das auch Schuld des unfähigen oder unlustigen Schülers sein, welcher von der dritten Wissenschaft, dem Rechnen, auch nicht das geringste profitierte; denn alle seine Errungenschaften auf diesem Gebiete waren die oben angedeuteten und wohlverdienten Kopfnüsse in Unzahl.
Die Schiefertafeln, die schon so manchen armen Jungen zum »Malen« verführt hatten, übten auch auf mich ihren Reiz zu ungelegener Zeit, nämlich in der Rechenstunde, und in dem Moment, wo ich einen mächtigen Dampf gemacht und im blinden Eifer des Komponierens halblaut gegen meinen zusehenden Nachbar ausrief: »Aber jetzt muß die Kavallerie einhauen!«, schlug das Rohrstöckchen ganz unbarmherzig auf mich los. »Ja, einhauen soll sie, einhauen soll sie!« rief der hinter mir stehende Lehrer und übte recht tapfer in Wirklichkeit, was ich höchst unschuldig nur bildlich darstellen wollte. Die Tafel wurde, wie billig, konfisziert, und die große darauf konterfeite Bataille sollte dem Direktor, Pater Kunitz, als corpus delicti vorgelegt werden. Einstweilen wurde ich bei den Ohren genommen und an solchen bis zur Tür geführt, wo ich knien mußte, bis die Stunde aus war und die Reuezähren flossen. – Warum warst du auch so ganz blind in der infamen Bataille und ließest dich von deinem Eifer sogar zu hörbarem Ausrufe verleiten! – aber es ist so – blinder Eifer schadet nur! – Das einzige, worin ich in der Schule glänzte, war meine Schrift, daher Herr Stolze, der Schreiblehrer, mich auch nach Möglichkeit liebte und lobte und, wo er konnte, protegierte. Die großen, kunstvollen Vorschriften, welche ich gemacht hatte, mit großen »Zügen«, Schnörkeln und Mustern, hingen noch vor zehn Jahren unter Glas und Rahmen in der Klasse. Sobald ich indes die Schule verlassen hatte, gab ich mir alle Mühe, diese eingelernte schöne Schrift wieder loszuwerden; sie erschien mir höchst leblos und kalt. Eine individuelle Handschrift aber erfreut, sobald sie nur leserlich ist.
Es war Gebrauch der Schule, jeden Vormittag nach ihrer Beendigung in geordnetem Zuge zur Kirche zu gehen (welche sehr nahebei war) und die heilige Messe zu hören. Da ich aber kein Gebetbuch besaß oder keines mitgenommen hatte, so betrachtete ich gewöhnlich während der ganzen Zeit das große Altarbild, die Himmelfahrt Christi von R. Mengs; daß aber Gott Vater so unbehilflich und unbequem von ihn umflatternden Engeln gehalten, getragen und gestützt wurde, erfuhr stets meine stille Mißbilligung, und ich versenkte mich desto lieber in den verklärten Ausdruck Christi und die Schönheit seiner ganzen himmlischen Erscheinung. Das Bild, jahrelang täglich gesehen, hat sich tief in die Seele gelegt.
Der Knabe, welcher mir zunächst kniete, hatte einst die Genoveva von Schmid (Verfasser der Ostereier) mitgebracht, und wir lasen da die schöne Geschichte während der Messe. Da es aber gar zu rührend wurde und meine Tränen allzu reichlich auf das Buch tröpfelten, wovon dann das dünne Löschpapier ebenso erweicht wurde wie der Leser, und so dem Buche offenbar Schaden geschah, so mußten wir die Lektüre in der Kirche schließen, ehe die Geschichte zu Ende war. Auch war der Lehrer, der von ferne mein beträntes Gesicht bemerkt hatte, über meine ungewöhnliche Andacht aufmerksam geworden.
Ob aber der warme Anteil an dem Schicksale eines frommen, verleumdeten Weibes und ihres armen Kindes, ihr heiliges unschuldiges Leben in der Wildnis und das Hervorleuchten göttlicher Führung am Schluß der Erzählung nicht erbauender gewirkt hat als die mir damals wenig verständlichen Gebete seichter Andachtsbücher, ist mir kaum zweifelhaft.
Einen anderen Ausweg, die Langeweile in der Messe, deren Bedeutung ich nicht verstand, zu vertreiben, fand ich endlich darin, für die armen Seelen im Fegefeuer zu bitten; ich glaubte dadurch ganz unbemerkt etwas wesentlich Gutes wirken zu können mit meinen schwachen Kräften; ja es beglückte mich der Gedanke, daß die armen Seelen, denen ich durch meine Fürbitte Linderung ihrer Leiden gebracht, auf mich armen kleinen Jungen recht dankbar herabsehen würden, zumal wir uns gegenseitig unbekannt waren –
Der Religionsunterricht war ebenso mangelhaft wie alles übrige; trockene Definitionen, die ich nicht verstand und mich auch nicht interessierten, Aufzählung der göttlichen Eigenschaften, der drei Haupttugenden, der sieben Todsünden, die Gebote der Kirche und dergleichen. Alles wurde dürr abgeleiert, nichts warm ans Herz gelegt und durch Gleichnisse und biblische Geschichten anschaulich gemacht, und so blieb das religiöse Bedürfnis, das vorhanden war, unbefriedigt und ungenährt.
Der Weg zur Schule war ein ziemlich weiter, und so bestellten meine Eltern mir einen Mentor, namens Gabriel Holzmann, ein älterer und armer Junge aus der Nachbarschaft, welcher ebenfalls die katholische Schule besuchte und mich gegen eine kleine Vergütung abholen und zurückbringen mußte. Mit dem Engel Gabriel, welcher ja dem jungen Tobias auch zum Mentor bestellt war, hatte Holzmanns Gabriel indes keine Ähnlichkeit, weder äußerlich noch innerlich. Auf ein Paar schmutzigen Nankinghosen saß eine schäbige, apfel-grüne Jacke, und diese Jacke gipfelte in einen Spitzkopf, ein rotes, im Winter veilchenblaues Gesicht mit nur einem Auge, das andere schimmerte weißlich, wie eine mit Papier verklebte runde Fensterscheibe, ganz oben auf dem Dache strohgelbes, kurzborstiges Haar. Dieser stark kolorierte Jüngling Gabriel war aber ein harter Tyrann und hatte mich dadurch in seiner Gewalt, daß er, wenn ich seinen Willen zu tun mich weigerte, mit der Drohung hervorrückte, irgendwelches meiner Vergehen den Eltern mitzuteilen, und mir die darauffolgende Strafe sehr lebendig ausmalte. So gebot er mir an einem Palmsonntage, wo ich einige Zweige geweihter Maikätzchen (die pelzige Blüte der Weidenbüsche) aus der Kirche brachte, drei dergleichen Kätzchen zu verschlucken; wer das tue, bekomme das ganze Jahr kein Fieber und keine Halsschmerzen, und es sei Sünde, wenn man es unterlasse. Da ich dergleichen Übel noch nie gehabt hatte, so sah ich die Notwendigkeit nicht ein, diese pelzigen Dinger zu verschlucken. Es half aber kein Bitten, und unter vielen Tränen schluckte und würgte ich drei Stück hinunter.
Bedenklicher aber war ein anderer Versuch, seine Herrschaft zu üben. Es gab damals in Dresden ein etwas konfuses Original, einen heruntergekommenen ehemaligen Buchhändler, namens Helmert, auch Diogenes genannt. Dieser betrieb sein antiquarisches Geschäft auf dem Neumarkt, an und auf dem großen Wassertrog, welcher vor der Salomonis-Apotheke stand. Ringsherum auf den nassen Stufen des großen Bassins sowie auf dort aufgestapelten Tonnen und Fässern lagen seine Scharteken und Landkarten ausgebreitet und verzettelt umher, und eine große Anzahl Kinder war um den Alten herum, blätterte in den Büchern und trieb Unfug mit ihm. Ein verschrumpftes Hutfragment ohne Krempe bedeckte sein struppiges graues Haupt, eine grobe Pferdedecke umgab ihn als Tunika, und darunter umhüllte ihn noch eine Art Kittel, mit einem Strick festgebunden; dies war sein ganzes Kostüm. Wäsche hatte er nicht. Meist jammerte er mit weinerlicher Stimme über die ihn umtobende Brut; manchen Liebling belohnte er auch, wenn er ihm einen kleinen Dienst geleistet, mit einem Buch oder einer halben Landkarte. Da mein Weg täglich bei seinem Trödel vorbeiführte und ich ein großer Bücherfreund war, so besah ich mir oft, was da herumlag, kaufte auch manchmal irgendein billiges Werkchen, wenn es nicht mehr als drei bis sechs Pfennige kostete.
Einst stand ich mit Gabriel Holzmann auch daselbst und sah dem Toben und Treiben etwas von ferne zu, als dieser mir befahl, ein kleines Broschürchen, was ganz seitab im Nassen lag, ihm herüberzuholen. Ich mußte wohl die Ahnung haben, daß Holzmann auf diese Weise nicht sowohl kaufen als annektieren wollte, was man aber damals noch »mausen« nannte. Ich weigerte mich aber entschieden, einen solchen kühnen Griff zu tun, denn ich wußte ja, daß dergleichen unrecht sei. Seine Drohungen steigerten sich aber nach und nach zu einer für mich so entsetzlichen Höhe, daß ich endlich doch unter vielen Tränen das schmutzige, nasse Opus kaperte und ihm überbrachte. Aber diesmal ließ mir mein Gewissen keine Ruhe; ich gestand mein Vergehen der Mutter, die Mutter teilte es dem Vater mit, und der Vater gab dem Mentor andern Tages den Abschied, und von da an ging ich allein nach der Schule.
Als ich in späteren Jahren von Rom zurückkam, sah ich besagten Holzmann, der bereits Gatte und Vater geworden war, als »Brezeljungen« an der Apotheke stehen, seinen großen Brezelkorb auf dem Rücken.
Nach einiger Zeit führte ich aber meinen jüngeren Bruder Willibald denselben Schulweg, wartete auf ihn, bis seine Klasse aus war, und ging mit ihm Hand in Hand unserer Wohnung zu.
Wir mochten komisch genug aussehen, besonders da wir ganz gleich gekleidet waren. Es war Winter, und außer den beiden gleichfarbigen Pelzmützen prangten wir mit gleichen Mänteln, die von Richter-Großvaters altem Mantel von braunem Kapuzinerkuttenstoff gemacht waren. Jeder trug ein Paar Fausthandschuhe an grünen Bändern befestigt; sie dienten jetzt zur Winterzeit nicht allein zum Wärmen der Hände, sondern hatten auch im Gesicht zu funktionieren. So strebten wir mit unserm Ränzel auf dem Rücken ehrbar nach Hause, wurden aber häufig in der Nähe des Prinzenpalais von einem Kometenschweif lutherischer Schulknaben in unserer Bahn gekreuzt und irritiert. Sie »stellten uns«; neckende, anzügliche Redensarten flogen herüber und hinüber, ähnlich den Aufforderungen, welche die Helden von Troja ihren Kämpfen vorangehen ließen, bis schließlich ein kleiner, kühner Ketzer uns mit weithallender Stimme »katholische Möpse« titulierte, worauf die Geduld zu Ende war und ein heftiges Handgemenge alle bunt durcheinander brachte. Schneeballen flogen, Lineale und Bücherbände arbeiteten wacker, und endlich wurden wir Katholischen aufs Haupt – vulgo auf die Pelzmütze – geschlagen und mußten, unter Wiederholung obigen Prädikats verfolgt vom ganzen Chor, den Rückzug antreten. Dies waren die ersten und heftigsten konfessionellen Streitigkeiten, die ich zu bestehen hatte.
Eine zweite, weniger auf- als anregende Haltestation wurde auf der Schloßgasse gemacht vor Herrn Peter Röslers Kunstladen, an welchem ein buntgemalter sächsischer Dragoner und einige alte Kupferstiche das kunstliebende Publikum anlocken sollten.
Wie still und öde war die breite Schloßgasse; nichts von all den glänzenden Schaustellungen zu sehen, die jetzt den Blicken sich aufdrängen. Aber das Wenige und an sich Geringe zog um so mehr den Blick auf sich und prägte sich tief ein, während jetzt das Viele und Vielerlei, zur stumpfen Gewohnheit geworden, kaum imstande ist, die zerstreuten und übersättigten Sinne auch nur für einen Augenblick flüchtig zu reizen. Kurz und gut, Peter Röslers rotrockiger Dragoner tat seine Wirkung.
Endlich war dritte Haltestation am Eingange des alten, dunklen Pirnaischen Tores. Da klebte der Theaterzettel. Er wurde regelmäßig studiert, obwohl ich noch kein Theater gesehen hatte und ich weiß nicht was für eine Vorstellung davon haben mochte, auch keine Aussicht auf ein solches Vergnügen vorhanden war. War nun besonders eine große Zahl handelnder Personen darauf verzeichnet, so steigerte sich das Verlangen nach solchem Schauspiel mächtig, und die Phantasie versuchte aus dieser Personenliste, ihren Namen und Bezeichnungen ein Gewebe herrlicher Begebenheiten zusammenzukomponieren.
In dieser Zeit war es auch, wo mein Vater öfter gegen Abend ein Paket mit Kupferstichen heimbrachte, welche er aus einer Auktion eines verstorbenen Kollegen billig erstanden hatte, und damit den Grund legte zu einer ganz hübschen Sammlung von Stichen und Radierungen, die mir noch späterhin eine unschätzbare Quelle der Freuden und künstlerischen Bildung wurde. Die Mutter schien diese Freude zwar weniger zu teilen; denn sie mochte in der Stille die kleinen dafür verausgabten Summen überschlagen, welche für die Hauswirtschaft nötiger angebracht gewesen wären; aber sie mußte sich doch über des Vaters überströmende Begeisterung freuen, der über die alten vergilbten Blätter in Wonne und Seligkeit fast zerfließen wollte und welcher in seinem ältesten Sprößling bereits eine sympathisierende Seele gefunden hatte. Das große und das kleine Gesicht waren über solch ein Blatt gebeugt, und bald sah ich die Radierung an, bald meinem Vater in die freudestrahlenden Augen, als wollte ich seine Begeisterung wie ein kleiner Schwamm aus seinem Anblick aufsaugen. Wie strömten da seine Worte, wie wußte er die Schönheiten dieser Kunstwerke hervorzuheben und mich darauf aufmerksam zu machen! – Welche Mitteilungslust und -drang war über den sonst schweigsamen Vater gekommen; die Kunst muß doch etwas ganz Großes und Gewaltiges sein, daß sie die Herzen so warm und lebendig machen kann, dachte ich dabei!
Um diese Zeit wird es auch gewesen sein, wo ich öfter die Professoren Graff und Zingg gesehen habe. Es war dies in einem Bier- und Kaffeegarten des bayrischen Brauhauses, wo beide mit meinem Vater sich zuweilen einfanden. Der ernste, bedächtige Pate Zingg und der lebhaft sich bewegende, heitere Graff befanden sich da mit anderen etwas jüngeren Künstlern recht behaglich bei ihrem Glase Bier und einfachen Abendbrote. Beide waren alte Junggesellen. Mich interessierte aber der blinde Harfner, der in der Nähe unter den Linden saß und bald seine Balladen, bald neckische Volkslieder zum besten gab, mehr als die Gespräche der alten Herren, weshalb ich mich bei jedem Liede vor ihn hinpostierte, als wollte ich ihm die Worte aus dem Munde zählen.