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An einem schwülen Sommerabend des Jahres 1811, es dunkelte schon, sahen wir einzelne Gruppen Leute auf der Straße stehen und in einer Richtung nach dem Himmel schauen. »Sie werden den Kometen sehen«, sagte mein Vater, nahm mich bei der Hand und führte mich auch hinunter. Da sahen wir auch auf und sahen das Himmelszeichen. Ein großer Stern, einen langen Feuerschweif hinter sich herziehend, stand über unseren Häuptern und schimmerte so unheimlich geisterhaft über den dunklen Häusern. Von den so fernen Wohnstätten des Friedens strebte er herab auf die unruhigen, bewegten Länder und Völker, und die Leute versahen sich nicht des Besten von den kommenden Tagen.
Das Prophezeien von Krieg und Heereszügen mochte in jenen Tagen nicht schwer sein; denn seit Anfang des Jahrhunderts hatte ja der gefürchtete, dämonische Mann in Europa alles durcheinander gerüttelt, und Deutschland seufzte unter seiner despotischen Faust. – Ein armer, hektischer Schuhflicker, der im Hinterhause wohnte, trat auch zu der Menschengruppe und erklärte einigen alten Frauen, wie von diesem schrecklichen Krieg die Offenbarung Johannis ganz genau berichte, ja selbst den Namen des französischen Kaisers deutlich nenne, der uns all das Elend bringe. Auf Hebräisch heiße er Abbaaon, auf Griechisch Apolion – und die Franzosen nennen ihn Napolion. Er habe es gestern abend selbst gelesen. –
Der Krieg gegen Rußland brach los. Am 16. Mai, dem Vorabend des Pfingstfestes, wurde der Kaiser Napoleon erwartet. Schon nachmittag ging ich mit meinem Vater aus, um das Eintreffen der Franzosen zu sehen. Wir postierten uns am Postplatz; denn sie wurden von Freiberg her erwartet. Die Straßen waren von Menschen erfüllt, die Bürgergarde hatte bis in die Stadt hinein Spalier gebildet. Endlich kamen Leute und riefen, auf den Höhen von Roßtal sei alles schwarz, da kämen sie herunter. (NB. Das alles muß in einem Ton erzählt werden, wie es ein Kind erzählt, das andere Eindrücke von den Dingen aufnimmt, als ein Altes. Märchensprache.) Nach einer Stunde endlich hörte man das Rasseln der Trommeln und die Feldmusik, und nun erschien mit Staub bedeckt die Vorhut, der ein Regiment um das andere folgte. Erst nachts elf Uhr kamen die prachtvollen Garden, die polnischen Ulanen, die Nobelgarde in Silber glänzend bei dem Schein der Kienkörbe und Fackeln, die längs der Straßen aufgestellt waren. Besonders wunderbar kam mir eine Schar Mamelucken vor. Der Kaiser war in einem Wagen mit seiner Gemahlin. Trompetenschmettern, Trommelrasseln, das Läuten aller Glocken und Kanonendonner dazwischen, Vivatrufen der Volksmenge – das alles mußte mich wohl in so später Stunde munter erhalten.
Von dieser Zeit an gab es nun immer Neues zu sehen und zu erleben. Truppenzüge aller Art, Illuminationen und Feuerwerke, Tedeums und Monarcheneinzüge; es drängte ein Ereignis das andere, nur kannte ich deren Bedeutung nicht oder nur im allgemeinsten. Ich hatte meine Freude an den bunten Schauspielen. Die Schule konnte ich wegen der weiten Entfernung wenig und später gar nicht mehr besuchen und lag viel am Fenster, wo es immer etwas zu sehen gab.
Wir bewohnten zu jener Zeit eine Etage im Goldenen Löwen, oben am Elbberge gelegen, und konnten somit die ganze Amalienstraße bis zum Pirnaischen Tore und rechts den Elbberg hinab bis nach Neustadt sehen. Die Promenaden existierten auch noch nicht, sondern statt dieser ein Stadtgraben, und drüben die Wälle der hohen Stadtmauer, mit Schanzen versehen und mit hohen Bäumen bewachsen. Dies war unser vis-à-vis.
Anfang Mai, als die Stadt von Russen und Preußen besetzt war, kursierten Gerüchte von einer bei Lützen zum Nachteil der Alliierten ausgefallenen Schlacht. Am 8. Mai waren die Truppen abgezogen, es war leer und still auf den Straßen. Die lange Amalienstraße bis zum Pirnaer Tore, die wir vom Fenster aus übersehen konnten, lag ganz verödet vor uns. Die Häuser waren geschlossen. Da kamen noch in vollem Jagen einige Kosaken die Straße herab, und an dem Pferdeschweif des letzteren hielt sich ein russischer Landwehrmann, der mit dieser zwar schnellen, aber unbequemen Gelegenheit sein Fortkommen suchte. Sie waren in der Nähe unseres Hauses und verschwanden in die Ziegelgasse, um über die Blasewitzer Schiffsbrücke zu entkommen, als auch schon ein Vortrab französischer Husaren aus dem Innern der Stadt kam, dem bald das Regiment folgte. Einige Stunden später sahen wir die brennende Schiffsbrücke geschwommen kommen, welche die Russen hinter sich angezündet hatten.
Einst wurde eine Abteilung Franzosen an der Elbe einquartiert; in Neustadt standen aber die Russen, welche auf die sich hinabschleichenden Franzosen schossen. Die Kugeln pfiffen scharf durch die Luft, und die Soldaten, welche sich an unser Haus quer über die Straße gestellt hatten, duckten sich lachend, wenn ein solcher Pfeifer zu hören war, und die Kugeln schlugen regelmäßig in eine hinter ihnen stehende Bretterwand, wobei dann höhnende Gebärden und lautes Gelächter den über der Elbe stehenden russischen Jägern antwortete. Einmal aber wurde einem Franzosen der Tschako vom Kopfe geschossen; der Mann lachte und hob ihn wieder auf, war aber doch etwas blaß geworden. – Der Vater trieb mich nun auch vom Fenster, gleichwohl guckte er selbst immer wieder vorsichtig hinab, wo ich denn allemal nachging und ebenfalls neugierig lauschte. Da aber endlich doch eine Kugel durch eine der oberen Fensterscheiben platzte und in die Wand fuhr, zogen sich Vater und Sohn vollständig zurück.
Die Mutter war um diese Zeit mit dem jüngeren Bruder Willibald und einem Schwesterchen (Hildegard) in der am anderen Ende der Stadt gelegenen Friedrichstadt bei ihrem Vater, dessen Frau (die Stiefmutter) infolge einer Operation gestorben war. Der arme Müller-Großvater war in dieser schlimmen Zeit ganz allein und wußte sich gar nicht zu helfen; deshalb versah die Mutter das Haus, und der gute Vater, bei dem ich blieb, hoffte wohl so leichter durchzukommen; denn an Arbeiten war selten zu denken, auch gab es nichts für ihn zu tun, und es ist mir heute noch rätselhaft, wie er, arm, ohne Verdienst, ohne Hilfe von irgendeiner Seite in dieser schlimmen Zeit durchkommen konnte. Die Einquartierung hörte nun gar nicht mehr auf. Wir beide hatten nur eine Stube zu unserem Gebrauch, die andere, wie Kammer und das Vorhaus, lagen fast stets voll Soldaten; der Boden war mit Stroh bedeckt, worauf sie schliefen; Gewehre und Montierungsstücke, Kommißbrot und Patronen und was weiß ich lag alles bunt durcheinander. Eine Zeitlang hatten wir dreizehn Mann auf einmal in unserem beschränkten Raum; denn der gutherzige Vater hatte auch die Mannschaft noch zu sich genommen, welche zwei über uns wohnenden Witwen zukam. Diese hatten ihre Türen verschlossen und beschworen meinen Vater, die Männer bei sich aufzunehmen; sie könnten als einzelne Witfrauen doch unmöglich in einer Stube mit den Soldaten zubringen; sie versprachen, ihm zu helfen und beizustehen in der Verpflegung derselben, so gut sie es vermöchten. Und so geschah es.
Bei all diesen Drangsalen der Zeit, dem gänzlich zerrütteten und zerrissenen Familienleben, der bitteren Geld- und Lebensmittelnot, sah es doch oft lustig genug in der Küche aus. Vater stand am Herd und rührte in einem riesengroßen Topfe, mit Reis- oder Kartoffelbrei gefüllt; die alten, freundlichen Weiblein spalteten Holz, stießen Pfeffer im Mörser, rieben harte Semmeln auf dem Reibeisen, wuschen die Teller, holten Wasser, lachten und schäkerten, während die Soldaten, ihre Gewehre auseinandergenommen, putzten, ölten, ihr Riemenzeug in Glanz brachten und außerdem durch Pantomime und gegenseitiges Kauderwelschen Gespräche führten (denn von uns verstand niemand Französisch, jene nicht Deutsch), die äußerst komisch anzusehen und zu hören waren.
Einstmal wurden von der Schiffbrücke unten an der Elbe gewaltig große Viehherden die Gasse heraufgetrieben, welche von den Truppen aus der Gegend von Bautzen zusammengeraubt waren und zur Verpflegung des Heeres dienen sollten. Das Vieh drängte sich in dichten Massen den Elbberg herauf, und die Einquartierung stand in der Haustür und sah der Sache zu. Ein verschmitzter Franzose, er war seines Handwerks Metzger gewesen, bespricht sich schnell mit seinen Kameraden, sie locken ein paar schöne Kühe ins Haus, werfen den Torweg darauf zu und bringen die Braune und die Schwarze in den Hof des Hinterhauses. Ehe die Tiere sich durch Brüllen verraten können, wird ihnen durch einen Schlag vor den Kopf der Garaus gemacht, die Haut abgezogen und mit größter Behendigkeit und kunstgemäß das Fleisch zerschnitten und jedem Soldaten im Hause sein Teil geliefert. Während dieser sehr belebten Szene guckte aus jedem Fenster des Hinterhauses eine Haube oder Zipfelmütze, je nachdem Maskulinum oder Femininum da wohnte, und jedwedes freute sich des herrlichen Fleisches, welches in solchen Massen lange Zeit die Küchen nicht beglückt hatte und die ergötzlichsten Mahlzeiten in Aussicht stellte. Da wir nun dreizehn Mann hatten, worunter auch der lustige Metzger selbst war, so war unser Anteil natürlich ein sehr reichlicher. Ein ziemlich großes Waschfaß wurde benutzt, noch am späten Abend das viele Fleisch darin einzupökeln, was dann die uns alliierten Frauen eifrigst und trefflich besorgten. Ein Rest, der noch übrig war, wurde zum baldigen Kochen und Braten beiseite gelegt; auch kam ganz zuletzt ein gutmütiger Hesse, der ebenfalls bei uns in Quartier lag, und brachte ein großes Stück lappiges Fleisch, Haut und viel Knochen und beklagte sich, wie die Franzosen unter sich das gute Fleisch verteilt und ihm, dem Deutschen, – wie immer – den schlechten Rest zugeteilt hätten.
Die anderen Frauen des Hauses hatten ihren Anteil ebenfalls aufs beste eingepökelt, und spät ging man nach dieser unverhofften Tätigkeit zwar müde, aber mit der lachenden Aussicht auf nahrhafte Tage, zu Bett.
Aber der Verräter schläft nicht, sagt das Sprichwort, und so hatte auch irgendeine mißgünstige Person, die vielleicht zu kurz bedacht worden war, nichts eiliger zu tun als die Sache anzuzeigen. So geschah es, daß nach einem etwas längeren Schlaf als gewöhnlich und nach einem holden Traum vom »schönen Sonntagsbraten«, da alles so vergnügt noch so beim Kaffee saß und von den gestrigen Errungenschaften sprach, die erschreckende Meldung kam, die sämtlichen Hausbewohner haben allsogleich – bei Strafe – das Fleisch bei der Behörde abzuliefern. Es währte nicht lange, so sah man einen Trauerzug; mit wehmütiger Gebärde trugen die Weiber ihre Fäßlein mit dem Eingepökelten über die Straße nach dem Militärbureau, um es daselbst auf den Altar des Vaterlandes niederzulegen und dafür einen gnädigen Verweis und schadenfrohes Gelächter in Empfang zu nehmen. Wir allein kamen gut dabei weg; denn Papa hatte als erfindungsreicher Odysseus und in Übereinstimmung unserer Mannschaft den Ausweg getroffen, den Rest des Fleisches samt der großen Haut- und Knochenmasse unseres guten Hessen abliefern zu lassen, während das gefüllte Waschfaß ruhig im Keller versteckt blieb und uns noch manche gute Mahlzeit lieferte.
Ende August (1813) näherten sich die Alliierten mit einem Heere von 200 000 Mann der Stadt. Am 25. donnerten die Kanonen in der nächsten Umgebung. Des Nachts leuchteten die Wachtfeuer der Russen und Österreicher von den Anhöhen, und die Leute fürchteten einen Sturm auf die Stadt. Kanonen rollten durch die finsteren Straßen, es war ein unheimliches Treiben und Getöse in dieser schauerlichen Nacht, die allen Bewohnern den Schlaf verscheuchte. Keine Turmuhr durfte schlagen. Mit Angst und Spannung wartete man der Dinge, die da kommen sollten.
Endlich brach der Morgen an, und bald erzählte man, Napoleon komme von Bautzen her an der Spitze der großen Armee. Nach Mittag kamen denn auch im Eilmarsch die Regimenter die breite Amalienstraße herab, und ich lief hinunter und postierte mich an ein Eckhaus, um alles in der Nähe zu sehen. Wie erschöpft sahen die armen Menschen aus, welche zehn Meilen ohne Rast marschiert waren! Bleich, hohläugig, ganz mit Staub überzogen – (die junge Garde), und viele riefen im Vorübereilen mit heiserer Stimme nach Wasser, das ihnen niemand reichen konnte, denn es ging unaufhaltsam rasch vorwärts, den Ziegel- und Pillnitzer Schlägen zu, vor welchen sie zu kämpfen hatten.
Immer neues Trommelgerassel und Feldmusik verkündete neue Abteilungen. Plötzlich sah ich einen Trupp glänzender Generale und höherer Offiziere, und ihnen voran, ruhig vor sich hinsehend, wie ein Bild von Erz, den Kaiser, – ganz so, wie sein Bild stereotyp geworden ist: der kleine, dreieckige Hut, der graue Überrock, der Schimmel, den er ritt! Ich gaffte den Gewaltigen mit großen Augen an, und obwohl ich weiter nichts begriff, als daß er der Mann sei, um den sich alles dreht, wie um eine bewegende Sonne, so habe ich doch den Ausdruck dieses Gesichts nicht vergessen. Ein unbewegliches und unbewegtes Gesicht, ernst und fest in sich gesammelt, doch ohne Spannung. Sein Ich war die Welt, die Dinge um ihn nur Zahlen, mit denen er rechnete. Schon donnerten die Kanonen; denn man stürmte die Schanzen vor dem Ziegelschlage, und jetzt führte er Tausende von Ziffern ihnen entgegen.
Ich lief nun schnell hinauf zum Vater, und dieser stieg mit mir und anderen Hausbewohnern auf den Dachboden, wo wir durch die kleinen Fenster die Gegend nach Blasewitz, den Großen Garten und Räcknitz übersehen konnten.
Die Kanonade hatte schon begonnen, es entwickelten sich immer mehr die dunklen Linien der Infanterie, welche sich aufstellten. Endlich begann auch das Musketenfeuer, ein fortwährendes Knattern, unterbrochen von dem ferneren und näheren Donner des Geschützes. Lange Streifen Pulverdampfes stiegen über den Linien der Infanterie, dicke Wolkenmassen da auf, wo Batterien standen. – Der Kampf wurde heftiger und gewaltiger; es war zuletzt ein Knattern, Krachen und Tosen grauenhafter Art, ohne die geringste Unterbrechung. Das Dorf Strehlen, was vor uns lag, ging in Feuer auf. Es war von Russen besetzt, und die Granaten der Franzosen schossen es in Brand. Da aber einzelne Kanonenkugeln auch in die Nachbardächer hineinschlugen und Ziegel- und Sparrwerk splitternd umherflog, ja eine Granate in eine Stube des Hinterhauses einschlug und zurückprallend im Hofe zerplatzte, so eilte alles, was Beine hatte, in den Keller, wo man vor den Kugeln gesichert war. Da saß denn die ganze bunte Gesellschaft (der alte Magister Erbstein, Frau Naumann, die lustige, hübsche Bierschrötersfrau usw.) bei der höchst spärlichen Beleuchtung eines Küchenlämpchens im Kreise herum auf Fässern, Kisten und Klötzen, wie es sich eben machen wollte, besprachen ihre Not und trösteten sich gemeinsam. Es war eine kleine Rembrandtsche Szene!
Dann und wann schlich sich einer der Hausväter kundschaftend hinauf. Die Straßen waren öd und leer, wie ausgestorben, aber ein dumpfes, fernes Donnern, vom näheren Krachen der Geschütze unterbrochen, rollte ununterbrochen um die geängstigte Stadt. In dem kühlen und düsteren Kellerraum wurde es für die Länge unerträglich. Innerlich waren alle in höchster Spannung und Erregung, äußerlich aber so ganz untätig, bis endlich die kleine, alte Witfrau ein verborgen gehaltenes Kleinod aus ihrem Keller herbeiholte, eine Flasche von ihr aufgesetztem Kirschschnaps. Dies brachte wieder Leben in den Kreis, die Vorstellungen, die fieberhaft ins Unbestimmte schweiften, wurden durch einen nahen, greif-, fühl- und schmeckbaren Gegenstand gefesselt, und der Papa, welcher stets einen guten Humor hatte, brachte wieder Leben in die Gesellschaft; ja sie wurden sogar heiter und fingen an, über das Wunderliche ihres Zustandes zu scherzen und zu lachen.
Endlich gegen Abend wagten wir uns wieder hinauf in die Wohnung. Beim Dunkelwerden verstummte der Kampf mehr und mehr. Die Straßen füllten sich mit Truppen, man brachte Verwundete. Einen der bei uns einquartierten Franzosen, einen alten Artilleristen, sahen wir verwundet auf dem Protzkasten seines Geschützes liegend vorüberfahren; er winkte freundlich nach uns herauf. Es war nun ein Leben und Treiben in den dunklen Straßen, was mit der vorhergehenden Öde seltsam kontrastierte. Die Munitions- und Pulverkarren samt Geschütz rumpelten und rasselten wieder auf dem Straßenpflaster. Die Truppen lagen auf den Gassen und Plätzen und füllten die Häuser. Es waren ja 100 000 Mann, welche nun die Stadt schützten. Am andern Tage, der grau und trüb anbrach und endlich sich in strömenden Regen ergoß, begann der Kampf von neuem. Doch tobte er weniger in unserer Nähe, und nur aus den Dachluken konnten wir die Höhen von Räcknitz sehen, wo die Russen standen und Moreau an diesem Tage an der Seite Alexanders so tödlich verwundet wurde (Randvermerk Richters: Heer der Verbündeten 300 Kanonen. – Napoleon brachte 60 000 Mann herbei. Einige 300 00 Mann standen in Dresden, also über 100 000 Mann. – Das Schlachtfeld: 23 000 Tote und schwer Verwundete lagen zerstreut und in ganzen Haufen umher.)
Am zweiten Tage nach der Schlacht ging ich mit dem Vater zum Ziegelschlage hinaus, das Schlachtfeld in unserer Nähe zu besehen. Schon am Schlage lagen mehrere Franzosen in einem Graben, und einer derselben fiel mir deshalb besonders auf, weil eine Kanonenkugel ihm den Schädel in zwei Hälften zerrissen hatte, deren eine noch am Körper, die andere daneben lag. Diese dünne zersprungene Schale, die mir wie ein Kürbis vorkam, machte mich ganz ängstlich für meinen eignen Kopf, der mir nun höchst zerbrechlich vorkam.
Obwohl man schon tags zuvor beschäftigt gewesen war, die Verwundeten fortzuschaffen – man legte sie gewöhnlich auf mit Stroh bedeckte Leiterwagen – so lagen doch außer den Massen der Toten noch unzählige Verwundete und Sterbende herum. Wir gingen den Weg nach Blasewitz zu, der damals öd und sandig und unbebaut war. Auf einem Hügel, wo eine russische Batterie gestanden hatte, lagen ganze Haufen toter und zum Teil gräßlich verstümmelter Gestalten. Wir gingen nicht ganz in die Nähe, denn es schauderte uns, das Gewimmer zu hören. Es war gerade der Wagen da, auf welchen die Verwundeten gebracht wurden, und daß dies nicht sanft und mit Schonung geschah, läßt sich bei solchen Massen, welche fortzuschaffen waren, leicht denken. – Eine Erscheinung aber ist mir heute noch wie ein wilder Traum lebhaft im Gedächtnis, obwohl ich sie nicht zu erklären weiß. Einer der Verwundeten, ein russischer Artillerist, schrie so furchtbar und schnellte sich dabei von dem Boden soweit in die Höhe, daß ich, der ich unten am Hügel stand, zwischen ihm und dem Erdboden über eine Eile den Horizont sehen konnte. Wir hörten, es seien ihm beide Augen ausgeschossen, und dieses In-die-höhe-schnellen sei ein Krampf infolge des Schmerzes. – Wir wandten uns schaudernd ab und hörten bald darauf einen Schuß fallen! Die Leute hatten sich seiner erbarmt!
Jetzt kamen wir an eine Sandgrube, in welcher ebenfalls eine Menge toter Russen lagen. Ein altes krummes Mütterchen hatte sich uns angeschlossen. Sie hatte ein so trauriges Gesicht, sah wie Not und Jammer aus und trug in einem Handkorbe einen großen Topf Wassersuppe nebst einem Näpfchen und altem Blechlöffel, um den verschmachtenden Menschen eine Erquickung zu bringen, gewiß die einzige, die ihr möglich war. Indem wir nun hinabsahen auf die Getöteten, schien es uns, als hätten wir ein leises Wimmern vernommen. Wir horchten auf. Und wieder war es zu hören. So stiegen wir zu einem hinab, der in einen weißen Soldatenmantel mit roten Aufschlägen eingewickelt dalag, und neben ihm eine Blutlache. Von ihm schienen uns die Schmerzenstöne gekommen zu sein. Der Vater schlug unten den Mantel etwas zurück, weil er da Blut im Sande sah, und siehe da, der Fuß war ihm ein Stück über dem Knöchel, wo die Halbstiefel endigten, abgeschossen, hing aber noch mit einer Faser am Bein. Er schlug etwas die Augen auf und brachte abermals einen leisen, zitternden Ton hervor, indem er auf den Mund deutete.
Das Mütterchen war auch sogleich bereit, dem Verschmachteten, welcher nun schon den dritten Tag so gräßlich verstümmelt in kalter Nacht und im Sonnenbrand am Tage, ohne einen Tropfen Labung, ohne sich rühren zu dürfen, im Wundfieber dagelegen hatte, mit ihrer Wassersuppe zu erquicken, indem sie ihm etwas davon einflößte. Wir hingegen ratschlagten, wie wir ihn wohl in eine nicht allzuweit entfernte Scheune zu bringen vermöchten, wo viele Verwundete lagen und amputiert wurden; denn wir erkannten wohl, daß er hier in dieser Grube schwerlich entdeckt würde und dann verschmachten müßte.
So fanden wir nach einigem Umschauen endlich eine Stubentüre, welche vielleicht zum Behuf eines Wachtfeuers aus einem Vorwerk (das Lämmchen) in die Nähe gekommen sein mochte. Eine schwere Sache war es aber nun, den Armen auf diese Türe zu bringen, da wir zu gleicher Zeit das an einer langen Flechse noch hängende Bein behutsam mit ihm selbst weiter heben mußten. Bei dieser Berührung wimmerte er denn kläglichst; doch gelang es unseren schwachen Kräften, ihn glücklich auf die Türe zu lagern und ihn langsam fortzutragen nach jener Scheune. In der Nähe derselben angelangt, mußten wir ihn niedersetzen; denn mehrere Männer riefen uns zu, daß jetzt kein Platz mehr darin sei; wir sollten warten. Ein Blick in das offene Scheunentor überzeugte uns nur zu gut von der Wahrheit des Gesagten. Es lag da gestopft voll. Doch schleppte man eben einige Gestorbene, nackt ausgezogen, heraus und warf sie auf einen hochgetürmten Haufen ebenfalls nackter, starrer Leichen, welche hinter dem zum Teil zerschossenen Torflügel lagen, meist verstümmelt durch schreckliche Wunden.
Mit Grausen sahen wir, wie der Mensch mit Menschen verfuhr, ja verfahren mußte.
Nun war ja wieder Platz gewonnen, und unser armer Russe wurde von den Gehilfen hineingetragen, wo die Chirurgen in voller Tätigkeit waren, während Geschrei und Stöhnen aus diesem Ort der Qual herausklang.
Aufs tiefste erschüttert traten wir unseren Rückweg an nach Hause.
Wenn ich später von Schlachten las, von großen, herrlichen Siegen, von dem Todesmut der Kämpfenden und ihrer großen Tapferkeit, so mußte ich immer mit innerem Entsetzen an das Ende denken, an das Schlachtfeld.
*
Das unglückliche Dresden, der Mittelpunkt von Napoleons Operationen, ward nun schwerer und schwerer heimgesucht. Der Kriegslärm dauerte ununterbrochen fort. Die Not der Einwohner stieg von Tag zu Tage, und es bleibt unbegreiflich, wie in solcher Lage der gemeine Mann, der auch in guter Zeit, wie man zu sagen pflegt, aus der Hand in den Mund lebt, jetzt, wo er meist ohne Verdienst war, bei unerhörter Teuerung und Mangel der Lebensmittel noch sein Leben fristete.
Kanonendonner und brennende Dörfer, Truppenzüge und Einquartierung illustrierten diese Tage.
Am 7. Oktober verließ Napoleon zum letzten Male die Stadt. Ihm folgte unser König nach Leipzig, und der Marschall St. Cyr blieb mit 30 000 Franzosen in der Stadt. Erneute Gefechte vermehrten die Zahl der Verwundeten in den Spitälern, in denen das Lazarettfieber wütete, so daß wenige lebend herauskamen. Wir hatten ein solches schrägüber in dem Winterbergschen Hause, wo täglich die Gestorbenen, ganz entkleidet, aus den Fenstern des ersten und zweiten Stockes herabgeworfen und große Leiterwagen bis obenherauf damit angefüllt wurden. Zum Entsetzen schrecklich sah eine solche Ladung aus, wo abgezehrte Arme, Beine, Köpfe und Körper herausstarrten, während die Fuhrleute auf diesem Knäuel herumtraten und mit aufgestreiften Hemdsärmeln hantierten, als hätten sie Holzscheite unter sich.
In dieser Zeit starben täglich 200 in den Spitälern, und das Nervenfieber war epidemisch geworden und forderte auch in dem Bürgerstande täglich seine Opfer.
Wir blieben indes trotz der gefährlichen Nähe des Lazaretts gesund. Zu den Kartoffeln, wenn wir solche hatten, wurde roher Meerrettich, dessen Schärfe mir die Tränen aus den Augen preßte, in Essig gegessen, welches der Vater für ein Präservativ gegen das Nervenfieber hielt.
Viele kranke Soldaten wollten nicht mehr in die Lazarette, weil sie dann unrettbar sich verloren glaubten; sie zogen es vor, in einem Winkel der Straße oder auf der Treppe eines Hauses zu sterben. – So wurden wir einst am frühen Morgen durch einen Schuß in dem Hausflur aufgeschreckt. Ich lief hinunter. Da lag ein junger, bleicher Soldat, das Gewehr neben sich. Das Hemd brannte noch etwas am Halse, vom Pulver entzündet. Er war krank gewesen und sollte ins Lazarett schleichen, hatte es aber vorgezogen, in das Haus zu treten und da sein Leiden zu enden.
Auf der Amalienstraße waren große Ställe von Brettern erbaut; die Pferde hatten aber die ganze Länge dieser Schuppen hinab die Bretter abgefressen, welche hinter den Krippen sich befanden, und über die gefallenen Pferde, die auf den Straßen lagen, fielen wiederum die Franzosen her und schnitten sich das Fleisch heraus, wo dessen noch befindlich war.
Die Hungersnot nahm täglich mehr überhand, denn die Stadt war blockiert, nichts kam herein, und die Vorräte waren aufgezehrt. Die Bäcker hatten die Läden geschlossen, und wo einer noch am Morgen etwas gebacken hatte, da gab es ein Gedränge, das man seines Lebens nicht sicher war.
So machte ich auch einmal am frühen Morgen einen Versuch, vor einem so belagerten Bäckerladen eine Groschensemmel zu akquirieren. Die gute Bäckersfrau hatte mich bemerkt und rief, man solle doch den Kleinen heranlassen, und so erhielt ich denn für meinen Groschen ein winzig kleines Semmelchen und bemühte mich, es fest unter den Mantel haltend, mich wieder zu entfernen. Als ich aber aus dem Gedränge mich herausgewunden hatte, fand sich nur noch eine fingerlange Hälfte dieses Semmelchens in meiner Hand; die obere Hälfte hatte mir irgendeiner im Gedränge abgebrochen, was denn ein sehr mageres Frühstück ergab. Jetzt saßen wir, der Vater und ich, abends oft bei einem Stückchen Kommißbrot, welches von einem Soldaten erhandelt war, oder bei einigen wenigen Kartoffeln, und der Vater fragte zuletzt wohl etwas bedenklich, ob ich denn satt sei? Ich antwortete kleinlaut: »Ja«, – es war auch nichts weiter in Küche und Keller, und ich schlich mit hungrigem Magen ins Bett!
So verstrich der Monat Oktober düster und traurig; Bilder des Todes und Jammers aller Art erfüllten die Stadt. Hier warf man die Leichen aus den obersten Stockwerken; dort schlug man sich um Brot an den Bäckerläden; Butter, Holz, Salz waren gar nicht zu haben; da lagen verhungerte Pferde oder Hunde in den mit Stroh, Kehricht und allem Schmutz gefüllten Straßen, und ich sah es selbst, wie ein kranker Soldat auf allen vieren langsam den Elbberg heraufrutschte und aus einem Kehrichthaufen sich einige Krautstrünke herausklaubte und sie heißhungrig verzehrte Die Not war aufs höchste gestiegen; da endlich verbreitete sich das Gerücht, es seien Verhandlungen zu einer Kapitulation eingeleitet, und am 12. November zogen die Franzosen wirklich zum Freiberger Schlage hinaus, wo sie das Gewehr streckten.
So war nun die Stunde gekommen, wo wir uns trotz der gänzlichen Erschöpfung aller Mittel von einer unerträglichen Last befreit fühlten und ein Hoffnungsschimmer besserer Tage wieder aufwachte.
Brot wurde zunächst gekauft, und mehr als wir brauchten; denn mit der Befreiung der Stadt waren auch zur Stunde ganze Wagen mit Lebensmitteln aus der nächsten Umgebung eingetroffen. Man atmete wieder frei, man kam wieder zur Besinnung, und die häuslichen Verhältnisse ordneten sich allmählich wieder.