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»Lexel, kommst morgen früh um neun zu mir, kannst auch mitmachen, dein Vater wird's nicht verbieten, wenn's nichts kost'.«
So sprach zu mir unser Pfarrer Barthelmeyer des Morgens in der Sakristei, wo ich mich als eine Art Unterküster und Diener bei der heiligen Messe, kurz, als sogenannter Ministrant eingefunden hatte. Der Pfarrer knüpfte sich dabei das weiße Schultertuch um, ein Gewandstück, das ohne die darübergeworfene Alba ein wenig komisch aussieht, wie eine Serviette, die sich einer aus Versehen hintenherum gebunden hat. –
»Was hast denn mit der Alba wieder angestellt, Kerl, man meint, du hätt'st sie mit der Heugabel hing'schüttelt.«
Also lautete das zweite Wort seiner Hochwürden.
Nämlich als Ministrant hatte ich die sazerdotalen Gewänder auf dem heiligen sozusagen Toilettentisch für den Priester handgerecht bereitzulegen, was bei dem äußerst umfangreichen weißlinnenen Kleid, das man die Alba nennt, viel Sorgfalt, ja Kunst erforderte. Denn das Anordnen dieses Gewandes auf dem Ankleidetisch hatte nach ganz besonderen Regeln zu geschehen.
»Da mag ja der Teufel 'neinfahren und sich darin verwirren«, polterte seine Hochwürden weiter.
Aber der Teufel, wahrscheinlich weil ihm der Ort nicht geheuer dünkte, oder weil weiße Gewänder seinem Geschmack wenig entsprechen, wollte nicht erscheinen und in die Alba fahren.
Statt dessen fuhren, trotz allem Fluchen, Seine Hochwürden hinein und ich zeigte mich dabei behilflich, so gut es gehen wollte.
Es wollte aber nicht gut gehen, und der hochwürdige Herr, dessen Geduld nun bis auf den Grund ausgeschöpft war, fuhr herum, um mir eine wuchtige Ohrfeige aufzubrummen. Aber während ich durch rasches Bücken geschickt auswich, verfing sich der weite Ärmel der noch ungeordneten Alba in der spitzigen Ecke des Ankleidetisches und riß der Länge nach durch. Da schämte sich der Herr Pfarrer und nahm endlich doch in Gottesnamen seine Zuflucht zur ausgegangenen Geduld.
Er warf sich die Stola über, und ich, in demütiger Haltung und froh, der zugedachten Ohrfeige glücklich entronnen zu sein, reichte ihm das Zingulum dar wie der fromme Knecht Fridolin in der Schillerschen Ballade. Mit diesem kunstreich geflochtenen weißbaumwollenen Strick gürtete sich der Priester und band die Stola hübsch kreuzweise über den vorspringenden Vorderteil seines Körpers, indessen ich am Hinterteil die Alba in hohepriesterliche Falten und Fältchen ordnete, wie man es mich gelehrt hatte, wohlbedacht, daß der untere Spitzenrand weder den Boden schleifte, noch auch von den weltlichen Stiefeln oder den schwarzen Röhren der Unaussprechlichen allzuviel sehen ließ. Mit dem Überstülpen des steifgefütterten Meßgewandes aus großblumigem Seidenstoff, durch breite Streifen abgefummelten Goldbrokats verziert, fand die Investitur ihren Abschluß.
Über dem Ankleideschrank hing ein Kruzifix. Zu ihm erhob der Priester jetzt Augen und Hände und murmelte das Reinigungsgebet vor dem heiligen Opfer. Indessen bekleidete sich auch der Ministrant in aller Eile mit seinem Amtsornat.
Das erste Stück war eine Art Unterrock von himmelblauem Tuch, unten mit roten Litzen verziert, auch nicht ganz sauber, sondern mit Flecken von allerlei Farbe und Gestalt übersät. Ich zog das Ding an, wie man eben einen Weiberrock anzieht, ich heftete ihn mir um die Hüften. Leider reichte er nicht so weit nach unten wie das Meßhemd des Priesters und ließ nicht nur meine kotigen Schuhe, sondern auch die abgeschossenen und ausgefransten Hosenenden fürwitzig hervorschauen. Über dem blauen Unterrock trug auch der Ministrant ein weißes Linnenkleid – wenn es gerade frisch gewaschen war – ein Chorhemdlein, doch ohne Armhüllen, also daß auch hier die irdische Weltlichkeit ihre unheiligen Zipfel in Form zweier geflickter Wamsärmel rücksichtslos zur Schau stellte.
Über das Hemdlein legte ich einen scharlachroten breiten Schulterkragen mit gelben Litzen (damit keine Farbe fehlte) und auf den Kopf stülpte ich mir das scharlachfarbene Prachtstück meines Staates, eine Art Barett, ein schuhhohes vierseitiges Prisma mit aufgesetzter Pyramide, auf deren Spitze ein halb abgerissener himmelblauer Wollenball vergnügt hin und her baumelte.
Das Anlegen all dieser Herrlichkeiten machte mich sonst glücklich. Heute zum erstenmal war ich mit meinen Gedanken nicht bei der Sache. Die geheimnisvolle Andeutung des Pfarrers, daß ich »auch mitmachen dürfe«, ließ mich an nichts anderes mehr denken, um so mehr, als ich keine Ahnung besaß, wo und wobei ich mitmachen dürfe.
Auch draußen am Altar mußte ich weiter darüber nachgrübeln, und als der Priester die Epistel beendet hatte, überhörte ich mein Stichwort und vergaß, das Missale von der Epistelseite auf die Evangelienseite zu tragen, sondern blieb wie ein vergessener Regenschirm stehen, bis der Pfarrer mit der flachen Hand heftig aufs Meßbuch schlug. Da fuhr ich zusammen, aber in meiner Verwirrung glaubte ich, das Evangelium sei vorüber und die Opferung bevorstehend. Ich sprang deshalb mit aller Hast hinter den Altar nach den zinnernen Opferkännlein, die das Wasser und den Wein zum heiligen Sakrament enthielten.
Wenn ich auf das Klopfen des ungeduldigen Priesters nach dem Meßbuch gesprungen wäre, möchte ich leicht, mitten auf dem Altar, im Angesicht des Allerheiligsten und vor allem Volke ein paar Maulschellen abbekommen haben, denn der Pfarrer Barthelmeyer pflegte da nicht viel Federlesens zu machen; er war einer von der alten Schule und frei von jeder Art religiöser und anderer Sentimentalität.
Aber mit meinem erschrockenen Rennen nach den Meßkännlein und dem hilflos lamentablen Gesicht, als ich meinen Irrtum erkannte, wirkte ich erheiternd auf den Pfarrer, der für Humor nicht unzugänglich war. Er stellte selber das Missale von der rechten auf die linke Seite des Altars und begann ruhig: » In illo tempore dixit Jesus discipulis suis.« Er küßte dann das Missale, trat von der Evangelienseite in die Mitte des Altars, und gegen das Volk gewendet, mit ausgebreiteten Armen, sprach er: » Dominus vobiscum.«
» Et kum Schpirititu«, antwortete ich in hinterwinklerischem Latein. Die heilige Wandlung und die Kommunion dauerten nicht lange. Bei Pfarrer Barchelmeyer ging, wie die Hinterwinkler respektlos zu sagen pflegten, das Messelesen wie geschmiert. Nach den letzten Gebeten aber drehte sich der Pfarrer gegen den Altar und küßte die weiße Decke. Dann wandte er sich von neuem gegen das Volk und verkündigte: »Ite, missa est, geht, die Messe ist aus.«
Diese Worte sprach er nicht kurzweg, er sang sie feiertags sehr gedehnt, auf jede Silbe ein Dutzend Noten, wie wenn sie ein ganzer Hymnus oder langer Psalm gewesen wäre, wie wenn die harmlosen Wörtchen »geht, es ist aus« eine wunderbare Heilsverkündigung an die Menschheit enthalten hätten. Kam darauf das Schlußevangelium, das bei jeder Meßhandlung sich wiederholende: In principio erat Verbum et Verbum erat apud Deum et Deus erat Verbum usw. Kaum eine Minute brauchte Seine Hochwürden dazu.
Aber dann war die Messe auch wirklich aus, und wir zogen uns in die Sakristei zurück, der Priester mit dem verhüllten Kelch voran, ich mit dem schweren messingbeschlagenen Meßbuch hinterdrein, erfüllt von tödlicher Angst, was nun mit mir geschehen werde.
Aber es geschah nichts, Hochwürden schienen meine Dummheiten ganz vergessen zu haben.
Doch auch über seine aufregende Anspielung vor der Messe ließ der Herr Pfarrer kein Wort weiter fallen, und ich kam vollständig unaufgeklärt nach Hause, wo auch meine Eltern keine Auskunft wußten. Doch bald sollten wir, wenn auch nicht durch den Pfarrer, erfahren, um was es sich handelte.
Des Blässenbauern oder Blässenvogts zweiter Sohn, der vierschrötige Finzer, sollte »Pfarrer studieren«, und seine Studien sollten morgen bei der höchsten Hinterwinkler Lehrautorität beginnen.
Und ich durfte »mitmachen«.
Der Pfarrer, der seinen Finzer kannte, wußte wohl, warum er mich zu diesem Studium heranzog. Der Blässenbäuerin wird er auch seine Gedanken nicht verhehlt haben; meinen Eltern gegenüber aber hielt er es nicht der Mühe wert, auch nur ein einziges erklärendes Wort zu verlieren.
Ich für meinen Teil aber meinte, daß nun die Gebete der frommen Mutter Regina erhört worden seien und daß ich nun wirklich auch Pfarrer werden solle wie der Finzer, was ich mir gern gefallen ließ, da ich den geistigen Beschäftigungen viel Geschmack abzugewinnen wußte und mir auch leiblich viel Gutes davon versprach, wenn ich das Leben unseres Pfarrers Barthelmeyer in seinem stattlichen Pfarrhof mit dem anderer Leute verglich.
Und ganz glücklich war selbstverständlich meine Mutter über diese neue Wendung der Dinge, obwohl sie sich hütete, ihre Freude laut werden zu lassen, eingedenk des Sprichworts, daß man nicht vor der Kirchweih jauchzen solle. Mit meinem Vater aber traf es sich, daß er gerade an einer alten Hose des Pfarrers herumschneiderte, als die Sache zur Rede kam. Er versprach sich nicht viel davon und sagte nur: »Meinetwegen kann er hingehen; er wird's als armer Teufel nicht weit bringen, 's müßt' ein Wunder sein; doch am End' kann man nicht wissen, wozu etwas gut ist.«
Mein Vater war nicht so dumm, er wußte, warum ich »mitmachen« durfte. Ich sollte dem Finzer ein »Studierhelfer« werden. Der Pfarrer kannte seinen Finzer. Auch mich glaubte er zu kennen. »Lexel,« hatte er mir oft bei gewissen Antworten zugerufen, »Lexel, du solltest Professor werden.«
Aber dieses Lexel, der Professor werden sollte, bemächtigte sich jetzt eine schwere Sorge. Ich hatte ein böses Gewissen. Ich wußte, daß man, um Pfarrer zu werden, Latein lernen müsse, und nun erinnerte ich mich mit Schrecken einer schweren Unterlassungssünde, die ich nie gebeichtet hatte und die nun ans Tageslicht kommen und mir eine große Beschämung, wenn nichts Schlimmeres zuziehen mußte.
Meine Sünde war in Wahrheit ein Nichts, aber nicht nur kleine, auch große Menschenkinder haben sich schon durch ähnliche Nichtse ein Leben hindurch ihre Seele mit marternden Ängsten erfüllen und Glück und Frohsinn für immer verderben lassen. Sogar könnte ich sagen, daß jene Sünde vielmehr eine Tugend war, denn sie bestand darin, daß ich absolut Sinnloses mir nicht zueignen mochte, daß wie das Wasser kein Öl, so meine Seele kein Sinnloses annahm, kurz, daß ich dem auswich, was für mich ein Unsinn war. Und folgende Bewandtnis hatte es damit.
Als Ministrant hatte man die Responsorien des in jeder Messe sich gleichbleibenden Kanons lateinisch zu rezitieren. Man gab uns diesen Kanon, das sogenannte Confiteorbuch, gedruckt in die Hand, um ihn auswendig zu lernen, die Antworten oder Responsorien ganz und von den priesterlichen Gebeten das Stichwort, wie die Schauspieler sagen.
Ich machte damals auch sofort einen Versuch, die unaussprechlichen und unverständlichen Worte meinem Gedächtnis einzuprägen. Doch sagte ich mir schnell, das sei unmöglich und gab mir keine weitere Mühe. Ich lernte gern, aber was ich lernen sollte, durfte mir keine Anstrengung verursachen und mußte mich freuen. Dies »Confiteor« erfüllte keine von beiden Bedingungen; ich ließ es auf sich beruhen und machte mir einstweilen seinetwegen keine Schmerzen.
Nichtsdestoweniger ministrierte ich flott drauflos. Amen wußte ich zu sagen, auch Et cum spiritu tuo, natürlich mit hinterwinklischer Aussprache; es klang dann etkum schpirititu. Und warum sollte auch ein Hinterwinkler Geißbub das Latein nicht ebenso seinem Schnabel anpassen und sich entsprechend zurechtquetschen, da doch die gebildeten Franzosen und Engländer und andere dasselbe tun, den deutschen Philologen zum Trotz, die allein die richtige Aussprache zu haben glauben und von denen dann wieder die Italiener behaupten, daß sie die Sprache der Römer wie rechte Barbaren herauspolterten, so hart und holperig, daß einem die Ohren schmerzten.
Den Anfang des Kanon hatte ich mir auch eingeprägt. Der Priester, vor die Stufen des Altars tretend, spricht: Introibo ad altare dei. Laut und vernehmlich wußte ich zu antworten, nicht ohne selbstgefälliges Pathos: Ad Deum qui laetificat juventutem meam.
Ich verstand nicht, was ich sagte, ich hatte keine Ahnung davon, aber der Klang der Worte gefiel meinem Ohr, und ich sprach sie immer mit großer Lust. Auch außer der Kirche, wo ich ging und stand, pflegte ich sie vor mich hinzusagen: Ad Deum qui laetificat juventutem meam – zu Gott, der meine Jugend erfreut. Ich endete damit, daß ich eine Melodie darauf machte, und sie sang, bald leise vor mich hin, bald laut in die Welt hinaus, und sicher hat die Melodie zu dem Sinn der Worte, wovon ich nichts wußte, vortrefflich gepaßt und muß rührend anzuhören gewesen sein. Sie war, ganz unbewußt, meine erste Komposition, und sie war vielleicht zugleich meine beste, was ich aber wohl nur darum anzunehmen geneigt bin, weil sie eben nicht aufgeschrieben worden ist.
Warum auch schreiben wir unsere Sachen! Sie wären alle ungeschrieben viel besser. Wir könnten an sie als an wahre Wunder glauben durch alle Ewigkeiten hindurch, wenn wir so klug gewesen wären, sie nicht mit rußigem Schwarz auf langweiliges Weiß zu fixieren.
Nach dem einen Spruch war ich aber auch mit meinem Latein zu Ende. Von dem Confiteor, dem Bekenntnisgebet und größtem Responsorium wußte ich außer dem Anfangswort nur noch die drei letzten Wörter: Dominum Deum nostrum. Den Zwischenraum füllte ich mit Gebrummel aus, und nach diesem Rezept verfuhr ich bei allem übrigen.
Diese Art zu beten erschien mir doch von Zeit zu Zeit wie eine freche Gotteslästerung, und ich empfand heftige Gewissensbisse. Ich machte auch gelegentlich einen erneuerten schwachen Anlauf, mir ein paar der schlimmen Runen mehr anzueignen, doch stand ich immer sehr schnell wieder davon ab und beruhigte mein Gewissen damit, daß ich die Sache von neuem für unmöglich erklärte.
Nun aber wollte ich Pfarrer werden, und das konnte ich doch nicht, wenn ich das Lateinlernen für unmöglich hielt. Mit den artigen Verbeugungen allein, womit ich als Ministrant die Frommen zu erbauen wußte, war's, da doch nicht getan. Ich bekam also auf die Ankündigung des Pfarrers Barthelmeyer hin eine ungeheure Angst. Die Sünde wurde zur Sorge.
Ganz verzweifelte ich indessen nicht. Es war Herbst, ich mußte am Nachmittag die Dorfziegen auf die Stoppelfelder treiben – die Gänse hatten um diese Zeit Ferien und durften frei umherlaufen.
Also steckte ich mein Confiteorbüchlein zu mir und suchte eine einsame Gegend aus jenseits des Kahlenbuckels, am Rand des sogenannten Salmschen Gehölzes, und indem ich die guten Geißen sich selbst überließ, begann ich: Quia tu, quia tu, es, es: quia tu es; Deus, Deus: quia tu es Deus. Das ging ja ganz gut: Quia tu es Deus. Jetzt weiter: for, for – ti, ti: forti. Noch einmal: forti. Und weiter: tu, tu, fortitu, langsam: for – ti – tu. Waren das Wörter! Aber weiter: tu, tu, do, do, tudo, zusammen: forti ... tudo. Und also das Ganze. Quia tu es Deus, forti ... Immer wieder blieb ich hier stecken.
Gehen wir weiter:
Qua, qua – re, re: quare. Noch einmal: Qua, qua – re, re: quare. Auch das ging. Weiter: tris, tris – tis, tis: tistris – nein: tris – tis: tristis ... Nicht tristris, sondern tris – tis. Also: quare tristris ... wie heißt's? tris – tis, nämlich tis, nicht tris. Noch einmal: quare tristris ...
Mutlos starrte ich die drei Zeilen an, sie bildeten kaum den zwanzigsten Teil von dem, was ich lernen sollte. Ich versuchte noch einmal, ich las silbenweise die Zeilen im Zusammenhang. Qua – re tris – tis es, ani – ma mea? Dann wollte ich den Anfang wiederholen; ich wußte keine Silbe mehr –
Nein, das würde ich niemals auswendig zusammenbringen, niemals, nicht diesen kleinen Teil, geschweige das andere dazu, niemals, wenn ich auch hundert Jahre daran lernte.
Ich konnte also kein Pfarrer werden. Quare tristis es, anima mea: Warum bist du traurig, meine Seele? Meine Frage klang wie ein Hohn auf mich selber. Ich war traurig, ich war elend, meine Seele war bis zum Tode betrübt, weil – weil ich kein Pfarrer werden konnte, nein, nicht deswegen, aber weil ich so dumm war, ich, den der Pfarrer fälschlicherweise für gescheit hielt – dümmer war, als der Finzer und all die andern, die das Latein nur so herunterschnappern konnten, und weil ich andern Tages mit Schimpf und Schande fortgejagt werden und ganz Hinterwinkel davon sprechen würde. In meiner Herzensangst und Verzweiflung hielt ich mich an das, was ich längst konnte, was mir im Ohr lag, ohne daß ich wußte, wie es hineingekommen war, und unaufhörlich murmelte ich schweren Herzens vor mich hin: Ad Deum qui laetificat juventuteam meam – zu Gott, der meine Jugend erfreut.
Die Ziegen waren zusammengelaufen und umstanden mich und hörten mir verwundert zu. Die schönste unter ihnen, kaffeebraun, mit weißer Stirn und kohlschwarzem Bart, meine Lieblingin, die heute zum ersten Mal noch kein Liebeswort von mir erhalten, meckerte mich fragend an. Ich verstand sie aber nicht, heute zum ersten Male. Vielleicht hatte sie mir's abgelernt und meckerte lateinisch. Vielleicht lautete es: Quare me repulisti? Warum hast du mich verworfen vor deinem Angesicht, o Herr?
Mit Zittern und Zagen und wahrer Höllenangst machte ich mich am nächsten Morgen auf den Weg zum Pfarrhof. Wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm, so klammerte ich mich auf dem ganzen Weg an mein Ad Deum qui laetificat. Der Nachbar Gerber mit dem gelben Schurzfell und dem krausen Vollbart von der gleichen Farbe, lehnte, seine Pfeife rauchend, unter der Haustüre. »Wo 'naus so eilig, Herr Nachbar?« Ich antwortete: » Ad Deum qui laetificat juventum meam ...« Zu Gott, der meine Jugend erfreut.
Mein Herz klopfte, als ich vor der Hoftüre des Pfarrhauses im Begriff stand die Klingel zu ziehen, ich mußte gewaltsam Atem schöpfen.
Dann tat sich das Tor auf, und da fuhr mit wütendem Gebell der Pfarrhund, ein giftiger schwarzer Spitz, auf mich los und bleckte seine weißen scharfen Zähne. Ich stieß einen hellen Schrei aus.
»Bist ein rechter Sch ...kerl«, klang eine Stimme vom Himmel herunter. Sie kam aber nicht ganz so weit her, sondern sie gehörte dem Herrn Pfarrer, der im zweiten Stock breit zum Fenster herauslag und aus seiner langen Pfeife Wolken in die Luft blies.
Unten im Gang kam mir die alte Rosalia entgegen, die Häuserin des Pfarrers.
»Du bringst einem mal einen Lärm ins Haus«, waren ihre Empfangsworte, als ob ich den Lärm gemacht hätte und nicht ihr Hund. Sie zeigte mir eine Türe, dadrin sollte ich einstweilen warten.
Bald kam auch der Finzer und wurde zu mir hereingewiesen. Wir guckten uns zuerst stumm an; dann flüsterte der Finzer: »Kannst du das Confiteor und das Suscipiat Dominius, mein Vater sagte mir, das würden wir hersagen müssen.«
Die Tür ging weit auf, ich glaubte versinken zu müssen.
»Wollen wir in Gottes Namen anfangen,« sprach der Pfarrherr, »aber daß ihr mir die Ohren spitzt, sonst kann da gleich das Donnerwetter dreinfahren.« Er schob mir einen Zettel hin. »Lies das, Lexel.« Ich begann:
mensa, der Tisch
mensae, des Tisches
und so weiter die folgenden Kasus, dann mußte der Finzer lesen. Aber schon bei der ersten Silbe saß ihm eins am Ohr. »Mach's Maul auf, Lümmel«, sagte der Pfarrherr lachend.
Ich war Kindskopf genug, daß ich plötzlich ebenfalls laut lachen mußte; sofort bekam ich ebenfalls eine Watsche mit der Bemerkung: »Gleiche Brüder, gleiche Kappen.«
»Morgen müßt ihr's auswendig können,« verfügte unser gestrenger Lehrer darauf, »und jetzt macht, daß ihr fortkommt ...« ite, missa est, hätte es auf lateinisch geheißen.
Also nichts von all den Schrecken, die ich mir vorgestellt und wovon ich die ganze Nacht geträumt hatte.
Aber, wie es oft geschieht, daß uns plötzlich etwas geläufig ist, was wir am Tage zuvor umsonst versucht haben, so kam mir jetzt unversehens der Satz in den Mund: Quare tristis es, anima mea? Warum bist du traurig, meine Seele? Und die Worte, unverstanden von mir, hatten einen tiefen Sinn in diesem Augenblick. Mit der kindlichen Freudigkeit, die bis jetzt fast ungetrübt, einer Sonne gleich, in den Winkel meiner Armut geschienen und ihn wohlig erwärmt hatte, war's ein für allemal vorbei. Ich wußte das nicht, ich verstand auch nicht, was ich sagte; aber ich rezitierte nicht mehr: Deum qui laetificat juventutem meam. Einen Satz hatte ich von all meinen gestrigen Anstrengungen auf dem Kahlenbuckel, am salmischen Holz, im Gedächtnis zurückbehalten: Quare tristis es, anima mea?
Als ich vom Bäckensteg ab meinen alten Lieblingspfad einschlug, am Rande des Haselbaches und den Krautgärten hin, deklamierte ich noch lauter als vorher mein neues Sprüchlein und vergaß darüber, eine goldgelbe Birne aufzuheben, die mir im Wege lag. Einmal fuhr ich erschrocken zusammen. Eine Türe war hinter mir ins Schloß gefallen, die des Pfarrgartens, der auch hier lag. Wegen der hohen Bohnen hatte ich die alte Rosalia, die mit einem Korb voll Gemüse aus dem Garten trat, übersehen und darum war ich bei dem Einfallen des Gartentores so erschrocken. Ich wußte nicht, es sei die Türe zum Paradiesgärtlein meiner Kinderseligkeit, die hinter mir zuschlug, aber mechanisch wiederholte ich: Quare tristis es, anima mea?