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Der große Krieg dauerte nun schon den ganzen Sommer. Und da war es an einem Frühmorgen im Oktober. Und es war ein Wald, und die Blätter waren gelb, aber vor Alter statt vor Jugend. Das waren die Blätter des Ahorn und der Espe. Diese kleinen runden Blätter der Espe lagen wie ausgestreute Goldstücke auf dem braunen Boden umher; die Blätter der Buche aber waren rotbraun, und wo gerade ein Sonnenstrahl darauf fiel, da bekamen sie ein Leuchten wie gescheuertes Kupfer.
Der ganze Wald war überhaupt von einer tollen Farbigkeit, als wären alle Farbentöpfe der Welt darüber ausgegossen worden. Und dem Wald gegenüber, jenseits einer breiten offenen Talmulde, da ging die Sonne auf mit einem Angesicht wie Blut so rot.
Beim Eingang in den Wald, an dem gewundenen Stamm einer Hainbuche, lehnte ein deutscher Soldat. Den braunhaarigen Tornister gegen den feuchten Stamm gedrückt, die Hände an der Mündung seines Gewehres, auf das er sich stützte, stand er da, reglos. Etwa dreihundert Schritte von ihm entfernt mochte sich sein Kamerad postiert haben. Der hatte schon lange kein Zeichen mehr von sich gegeben, vielleicht war er im Stehen eingeschlafen.
Seit einer Stunde standen die beiden auf diesem äußersten Vorposten, und sie hatten bis jetzt weder einen Feind noch das leiseste Anzeichen eines Feindes wahrgenommen.
Doch galt der Posten für außerordentlich wichtig. Drüben in dem Dorf, auf der anderen Seite der Mulde, und im Biwak eine Stunde herwärts, lagen zwei Regimenter Infanterie. Das Biwak konnte man vom Waldsaum aus übersehen.
Ein Überfall vom Walde her hätte verhängnisvoll werden müssen. Man war übrigens nicht darauf gefaßt. Man vermutete, allem nach, keinen Feind in nächster Nähe.
Auch dort der Soldat, hinter dem weißen Stamm der Hainbuche, dachte kaum an den Feind.
Es hatte sich ja lange genug nichts gerührt.
Der Wald selber lag ohne Regung. Kein Tier, kein Vogel gab ein Lebenszeichen von sich, es war noch früh am Tag.
Nur die fallenden Blätter hörte man. Es war ein geisterhaftes Geräusch. Wie ein unaufhörliches leises Antippen von einem unsichtbaren Etwas.
Es war auch wie eine heimlich leise, eintönige Melodie, eine einschläfernde Melodie ...
Und der zweite Mann des Vorpostens, dort weiter hinüber, der lange schon kein Zeichen gegeben hatte, er mochte in der Tat eingeduselt sein vor übergroßer Ermüdung.
Der an der Buche aber sah wach und hell in den Morgen hinein.
Doch sein Auge blickte nicht wie das eines Jägers, der auf dem Anstand einem Wild auflauert. Und ein Mann auf dem Vorposten ist nichts anderes.
Der dort blickte wie ein Poet, wie ein Künstler, den Farben und Lichter entzückten. Sein Auge haftete eben an einem wilden Kirschbaum, der sich in dem braungelben Mantel des Waldes ausnahm wie ein blutiger Fleck, wie eine rote Wunde, an der das Leben des Waldes verblutete.
Und er mußte sich rückwärts wenden der Sonne entgegen. Sie war unterdessen höher gestiegen und nicht mehr rot, und durchtränkte den Duft des Morgens mit silbernem Lichtgeflimmer.
Es war schön, Alexander träumte.
Ein merkwürdiges Ereignis, ein Ausnahmeereignis seiner Kindheit stand ihm vor der halbwachen Seele.
In der Pfingstwoche war's und war auch ein Wald, ein Wald mit dichtem Unterholz, wie ihn die kleinen Vögel lieben zum Nesterbau, die Singvögel, und wo man um diese Zeit gern dem mütterlichen Reh begegnet mit seinen zierlichen Jungen, die gelbbraun sind wie der schönste Rahmkaffee, und deren Nasenspitzen glänzten wie ein frisch gewichster Stiefel.
Und so war auch das Buchenlaub noch gelbgrün vor Jugend und flimmerte in der Sonne wie Goldschaum.
Es war um die Mittagsstunde, nichts regte sich im Wald, er schien zu schlafen, und zu schlafen schienen die Vögel und alles Getier.
Nur der langgezogene Ruf eines Blutfinks klang von Zeit zu Zeit traumhaft durch die schläfrige Stille. Nur einen Kuckuck hörte man von weither, seine Stimme klang melancholisch wie ein verlorenes Echo ...
Dann waren es plötzlich nahe Geräusche. Das dürre Bodenlaub raschelte, Zweige knackten.
Und manchmal klang es, wie wenn ein Beil durch dünnes Holz fährt.
Alexander trug das Beil in der rechten Hand, ein zierliches Handbeil, dessen Stahl in der Sonne wie Silber blitzte, und unter dem linken Arm hielt er ein Bündel schlanker Gerten, daraus wollte er seiner Mutter Stöcke zurechthauen für ihre Bohnen im kleinen Gärtchen vor dem Hause.
Doch nun hatte er genug, und er überließ sich der süßen Seligkeit, die seine Sinne tranken aus der Schönheit des Frühlings wie einen leichten stillen Rausch.
Ein Erbeben ging von Zeit zu Zeit durch seine Seele und durch seine Sinne.
Seine Nerven vernahmen, wie nie zuvor, die geheimnisvolle Sprache des Frühlings und antworteten darauf.
Und meinten sie zu verstehen.
Sie verstanden aber den Frühling als die Liebe Gottes.
Seiner Seele war zumut wie in einer heiligen Kommunion.
Das Wort hatte seit vier Wochen für ihn einen Sinn. Da hatte er in der Kirche kommuniziert, zum erstenmal. Und alle mystischen Ekstasen und Erschütterungen, womit er, das Kind einer schwärmerischen Mutter, das Sakrament in sich aufgenommen, und alle religiösen Schauer dieses Erlebnisses zitterten noch heute nach in seiner frommen Kinderseele. Und er empfand den Frühling als eine andere Kommunion, als ein starkes Sichfühlen in der Liebe Gottes, die auch das sterbliche Herz mit einer großen Liebe erfüllt und einem tiefen Gefühl der Bruderschaft gegen alle menschliche und jede Kreatur.
Alexander hätte vielleicht, wie der heilige Eustachus, wenn ihm nun ein weißer Hirsch begegnet wäre, zwischen seinem Gehörn das Bildnisses Gottes ragen sehen, der aus Liebe sich selbst geopfert hat.
Ein tiefer Friede lag in der Welt. Nichts regte sich. Die Welt schien zu schlafen, und zu schlafen schienen die Vögel und alles Getier.
Nur der langgezogene Ruf eines Blutfinks klang von Zeit zu Zeit traumhaft durch die schläfrige Stille. Nur einen Kuckuck hörte man von weither, seine Stimme klang melancholisch wie ein verlorenes Echo.
Er selber drang so geräuschlos als möglich durch die Stille, durch das Gebüsch und das hohe Grasgehälm.
Auf einmal erschrak er.
Er hatte, ganz nahe, einen Ton vernommen wie ein tiefes Schnarchen, wie das Schnarchen eines Greises.
Oder war es das Röcheln eines Sterbenden?
Alexander stand unbeweglich in bangem Lauschen. Sein Auge strengte sich an, die grünen Blattgegitter zu durchdringen. Aber er sah immer nur wieder grüne Blätter und hohes Grasgehälm.
Das Schnarchen war jetzt ganz deutlich. Es klang unheimlich in dieser Stille. Und Alexander fragte sich, wie nur ein schnarchender Mensch mitten in die Wildnis gekommen sein möchte.
Er rief laut »Holla!«
Da, wie von der Erde ausgespien, schoß es vor ihm in die Höhe.
Er taumelte rückwärts.
Und nahe bei seinen eigenen Augen, leuchteten ihm zwei andere Augen entgegen, zwei schwarzbraune Augen, die ihn anstierten, angstvoll oder feindlich, er konnte sich keine Rechenschaft geben!
Und wie ein Beben lief es über einen mächtigen braunen Körper.
Und der riesige Tierleib erhob sich, bäumte sich auf und – knickte plötzlich in sich zusammen.
Alexanders Beil hatte ihn getroffen.
Zwischen dem Gehörn, auf der Stirn, klaffte die Wunde, quoll Blut und Gehirn hervor.
Das Tier röchelte. Seine großen schwarzbraunen Augen sahen stumm-vorwurfsvoll zu dem Mörder empor.
Alexander hatte ein Gefühl, daß er diesen Blick in seinem Leben nicht vergessen werde.
Er war also zum Mörder geworden.
Da lag das prächtige Tier, ein junger Rehbock, tot zu seinen Füßen.
Wie war es möglich, daß er das tun konnte, daß er mit einem schnöden Mordinstrument dieses herrliche Geschöpf seines jungen Lebens berauben konnte, an diesem Festtag des Frühlings, wo die Liebe Gottes zu seiner Kreatur sichtbar über der Erde lag. Er hätte weinen mögen vor Schmerz und Weh.
Wie ein Verbrecher kam er nach Hause. Das brechende Auge des Tieres verfolgte ihn, er fand keine Ruhe, er mußte die Sünde beichten.
Aber der alte Dekan wollte ihn nicht recht verstehen. Und dann wieder verstand Alexander den Dekan nicht. Er hörte etwas von Jägern, die die Rehe zu Hunderten schießen, und von Schlächtern, die das Rind mit dem Beil töten, weil wir vom Fleisch des Rindes leben.
Alexander hatte nie an diese Dinge gedacht. Aber es gelang dem Priester nicht, das böse Gewissen des Kindes zu beruhigen. Des Seelsorgers Worte verklangen; aber das Auge des sterbenden Tieres sah Alexander immerfort an mit vorwurfsvollem erlöschendem Blick.
Diesen Blick konnte er nicht loswerden.
Der alte Dekan schüttelte den Kopf über ihn. Ein sonderbarer Junge. Daß er einen Jagdfrevel begangen hat, ist ihm kaum bewußt. Was die Welt am furchtbarsten ahndet, die Verletzung fremder Eigentumsrechte, dafür scheint ihm das Verständnis zu fehlen; aber ein Tier getötet zu haben, kommt ihm wie ein Verbrechen vor. Seine Mutter möchte einen Priester aus ihm machen, er ist ja sehr fromm, aber seine Frömmigkeit, fürchte ich, stammt aus der Phantasie, und das ist eine verdächtige Quelle.
Sein Abenteuer wurde bekannt. Man sprach nicht öffentlich davon – denn der Jagdpächter sollte es nicht erfahren – aber alle Welt erzählte sich's heimlich. Und von aller Welt wurde Alexander bewundert.
Das hatte ihm niemand zugetraut.
Um so mehr bestaunte man seine Tat.
Er aber ging umher sozusagen mit einer Wunde im Gewissen, und lange träumte er von nichts anderem als von dem vorwurfsvoll brechenden Auge des sterbenden Rehs. Und so jetzt wieder in dem Wald des fremden Landes.
Da schlug Geräusch an sein Ohr – Rascheln des Laubes, Geräusch von Zweigen, die auf die Seite gebogen und wieder losgelassen werden.
Und schon hatte er sein Gewehr zum Anschlag emporgerissen. Er machte sich dünn hinter seinem Baumstamm und sein Auge suchte.
Es brauchte nicht lange zu suchen.
Und diesmal war's wirklich der Feind. Und ganz nahe stand ihm das Unerwartete, das nicht mehr Erwartete.
Kaum mehr als dreißig Schritte von ihm zog sich ein halbverwachsener Weg hin, dort ritt ein Reiter langsam und vorsichtig gegen den Waldrand. Er ritt einen Apfelschimmel mit fast grünlichem Anflug, und von den Schultern fiel ihm ein schwarzer Radmantel mit aufgezogener Kapuze.
So ritt er langsam und vorsichtig zwischen einer Art Birkenallee.
Am Waldrand machte er halt.
Er nahm die Kapuze ab und sah um sich. Es war ein Jüngling in der Blüte der Jahre, in der Kraft und Schönheit der Jugend. Sein regelmäßig schönes Gesicht war rosig angehaucht von der Morgenfrische. Aus seinen Augen, fast wie schöne Frauenaugen dunkel umschattet, ging ein schwärmerischer Blick über das Tal hin, das im lichtgetränkten Duft verschleiert lag.
Das schöne Reiterbild stand so, unbeweglich zwischen den gelben Birken, wie in einem Goldrahmen.
Nach seinem Käppi war der Jüngling ein Offizier.
Er setzte seinen Feldstecher ans Auge.
Da – tat es einen Knall.
Und einige Augenblicke danach raste ein lediger Schimmel auf dem verwachsenen Weg in den Wald hinein, wie ein verfolgter weißer Hirsch.
Sein Reiter lag dort bei den Birken auf dem Boden in seinem Blute.
Er lag auf dem abgefallenen Birkenlaub wie auf gelber Seide.
Mit Entsetzen hatte ihn Alexander fallen sehen.
Das hatte er getan.
Er hatte einen Menschen getötet in der Kraft und Schönheit seiner Jugend. Eine wunderbare Menschenblüte hatte er abgeknickt. Er hatte sich dem Tod, dem grausigen Herrn, zum Henkersknecht verdingt.
Er hatte einer Mutter ihr Kind erschlagen.
Er hatte in dem Herzen einer Braut mit kalter Faust einen ganzen Frühling der Liebe verheert mit allen Träumen künftiger Seligkeiten.
Er hatte Welten der Schönheit zerstört, die der Jüngling vielleicht unter seiner Stirne trug.
Das hatte er getan.
Er kam sich selber vor wie ein unheimliches Rätsel.
Und wahrhaftig, keine Heldentat war's, so aus dem gesicherten Hinterhalt einen Menschen zu töten. Keine Heldentat, aber die Erfüllung einer unumgänglichen Pflicht.
Ganz verstört eilte Alexander hin zu seinem Opfer.
Der Jüngling lebte noch.
Ratlos, verzweifelt, vernichtet stand er vor seinem Werk.
Ein matter Blick aus den Augen des Sterbenden traf ihn wie fragend. Wie ein ungeheurer Schmerz, wie ein unendliches Weh kam es über Alexander.
Der andere mochte lesen, was in seiner Seele vorging, ein eigentümliches schwaches Lächeln trat auf seine Lippen. Sein Arm machte eine Bewegung, wie wenn er die Hand ausstrecken wollte, er sagte leis und mühsam: »Sie haben nur Ihre Schuldigkeit getan.«
Da konnte sich Alexander nicht mehr halten, er sank in die Knie und verbarg sein Gesicht in den Händen und weinte. Sein Kamerad kam herbei.
»Donnerwetter,« rief er, »den Hund hast du aber gut getroffen. Um den Schuß beneid' ich dich ...«