Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtzehntes Kapitel

Neun Monate später

Und nur um neun Monate später war's seit Beginn der welterschütternden Katastrophe, und Furchtbares und Großes war gewachsen und ausgereift im Schoße der Zeit und als Tatsache eingetreten in die blanke Tatsachenreihe der sogenannten Weltgeschichte: ein blutiger, entsetzlicher Krieg, unerhörte mörderische Schlachten, die Demütigung der Hochmütigsten, die Einigung der Uneinigsten, die politische Wiedergeburt eines Volkes, die Gründung eines mächtigen neuen Reiches.

Aber diese großen Dinge stehen aufgezeichnet auf ehernen Tafeln, die gegenwärtigen flüchtigen Blätter vermessen sich nicht solchen Unternehmens, sie haben es bloß mit dem armseligen Geschick eines Einzellebens zutun, noch dazu eines recht unbedeutenden, eines Hinterwinklers.

Und nach Hinterwinkel, von wo sie ausgegangen, führt die Geschichte zurück.

Hier in dem winzigen Häuschen an der Haselbachbrücke und dem Kanal der Heckenmühle, dem Lohehaufen des Gerbers Appel gegenüber, wohnte jetzt wieder Alexander Schmälzle.

Wieder, wie schon einmal vor fünf Jahren, wo er, ein halbwüchsiger Junge, mit dem Fuhrmann Jakob Schmitz in toller Anwandlung fortgefahren und bei Tauberbischofsheim den Krieg von Anno 66 gesehen hatte, war Alexander aus einem Kriege heimgekehrt – aus einem anderen wie damals, und er hatte selber dabei eine andere Rolle gespielt. Nicht mehr als kindischer Abenteurer und müßig neugieriger Zuschauer kam er von den blutigen Schauplätzen des Völkerkampfes, sondern als ernster Teilnehmer, als Soldat.

Und seltsam. Heute umgab ihn nicht, wie damals, ein Nimbus von Heldentum. Er war ja diesmal nicht einem eigenen abenteuerlichen Triebe gefolgt, sondern nur dem Rufe der Pflicht, dem Gebot der Notwendigkeit, wie alle: sein Los entbehrte jeder Romantik.

Man zuckte die Achsel über ihn, über den weggelaufenen Unterlehrer, der's nun doch zu nichts gebracht hatte, der nun wieder werden konnte, was er war: Geißhirt von Hinterwinkel.

So war denn alles erstunken und erlogen gewesen, was man von dem Lexel gehört, was der Schneiderjakob nur so angedeutet, mit halbem Wort, geheimnisvoll, und was die Mutter Regine in ihrer zutraulichen Art ihren weiblichen Bekannten erzählt hatte voll mütterlichen Stolzes: was alles ihr Alexander in Frankreich für Glück erlebt, wie er bei Grafen auf ihren Schlössern wohnte und wie gar eine Grafentochter ihn heiraten wollte.

Und man war so dumm gewesen und hatte ihr geglaubt.

Kein Schneider war er geworden, der Lexrel, aber ein Aufschneider.

Und wie er nun duckmäuserig herumschlich auf seinen alten Geißweiden, auf dem Kahlenbuckel und am Sindelwald und tagediebisch auf den »Steinmauern« hockte, zwischen Dornhecken, oder bei den Heiligenäckern droben am Salmischen Gehölz unter den alten Birken lag wie ein großes Kind, oder wie ein nicht ganz Gescheiter und vor sich hinbrütete, oder auf Papier Striche und Punkte kritzelte, auf Notenpapier, wie da und dort einer gesehen hatte.

Seine Lage war allerdings keine glänzende. Die in Frankreich verdiente Summe hatte der Krieg verschlungen, und Alexander stand wieder so arm in der Welt als nur je.

Eine Hoffnung hegte er, die ihm den Mut aufrichtete, die ihm aber nach außen und vor den Leuten kein Ansehen geben konnte. Ja, eines hatte auch er in dem großen Kriege erobert – zwar nicht das Eiserne Kreuz – aber einen guten Freund.

Ein junger Meister der Musik, Lehrer am Konservatorium der Hauptstadt, der mit ihm in derselben Kompanie gestanden, hatte sich lebhaft für die musikalische Begabung Alexanders interessiert und ihm Hilfe und Unterstützung zugesagt. Aber ein Brief von Alexander war bis jetzt unbeantwortet geblieben.

Und so trieb Alexander einstweilen sein einsames Wesen weiter.

Bei seinem Umhertreiben in Feld und Heide gesellte er sich wieder öfter zur alten Hanne Strohmelker, die noch immer Steine klopfte und unter Anrufung der heiligen gebenedeiten Jungfrau und des kreuzsterbenden Heilands das Lob ihres Cyprian sang, der unterdessen droben in Hamburg eine reiche Frau geheiratet – oder auch einmal tüchtig auf ihn schalt, weil er ihr gar nichts schicke, keinen Pfennig, der abscheuliche Mensch – worauf sie immer wieder schnell in ihre Lobpreisungen einlenkte. Denn der arme Bub brauchte eben selber sündheidenviel Geld in einer so großen Stadt, das kann man sich denken, du kreuzsterbender Heiland, und wenn man sich eine solche Uniform kaufen muß als Wachtmeister, die von Gold und Silber nur so strotzt; denn viel Ehr' trägt sich schwer.

Und dabei verhehlte sie nicht ihr Mitleid mit dem armen Alexander. Er war ein so guter Kerl, aber ein Cyprian ist eben nicht jeder, und man muß halt sehen, wie man sich durchs Leben bringt. Von einem Bettelweib geboren sein, einer lumpigen Steinklopferin auf dem kleinen Dörfle, und doch aufs hohe Roß gelangen und in goldstrahlender Rüstung gehen, das gelingt keinem so bald wieder.

Wie sie so sprach, das siebzigjährige Weib mit dem ergrauten Haar, das Jammerwesen von Haut und Knochen, das nicht einmal Lumpen genug aufbringen konnte, um seine Blößen zu decken, da schlug sie mit erhöhter Kraft, als ob neues Leben in ihr erwachen wolle, auf die Steine los, daß die Splitter flogen, und ihre Triefaugen leuchteten heller von Mutterglück und Mutterstolz.

Einmal hat ja auch die Mutter Regine ein solches Gefühl gekannt. Allein das ist schnell vorbeigegangen. Alexander nahm es der Hanne Strohmelker nicht übel, daß sie ihn bemitleidete.

Er bemitleidete sich selber. Er lächelte bitter und schlich hinweg in die Einsamkeit.

»Daß dich auch der Fuchs nicht beißt«, rief ihm die alte Freundin nach, die gern höhnte.

Ihre Nase war indessen noch dünner und spitziger geworden. Und immer noch mehr Schnupftabak stopfte sie hinein, als ob der ihr einzig Nahrung und Leben sei.

Einmal auf dem Kahlenbuckel begegnete er der Cölestine Bächle; sie trug ein mächtiges Bündel roten Klee auf dem Kopf, das ihre Rechte festhielt, während sie mit der Linken ihren bald vierjährigen Wilhelm hinter sich dreinschleppte. Beide sahen unsauber und unordentlich aus. Die Arme mußte für sich und ihr Kind mit Taglöhnerarbeit ihr elendes Brot verdienen. Sie machte ein vergrämtes Gesicht und sah, nach den wenigen Jahren, schon fast aus wie eine alte Frau.

Alexander redete sie an auf die alten Erinnerungen, aber er brachte nichts aus ihr heraus, so daß er fast vermuten mußte, sie kenne ihn gar nicht mehr. Jedenfalls war ihr an das Garbenbinden auf dem Acker des Füllentoni bei der Breiten Steinmauer keine Spur im Gedächtnis geblieben. Ja, sie schien die ganze sechsundsechziger Kriegsgeschichte vergessen zu haben wie manche andere Leute auch und dachte wohl kaum je daran, daß ihr rotznasiger Bube ein Preußenkind war.

Auch mit Artur Blankenhorn, es war kaum zu vermeiden, traf Alexander eines Tages zusammen. Der alte Sigmund Blankenhorn war tot, und Artur war würdig an seine Stelle getreten.

Vor der Schmiede, wo sie einst an dem ausgedienten Schleifstein ihr Knöpfespiel getrieben, stießen die ehemaligen Schulkameraden aufeinander.

Hier hatte Alexander zunächst die Anmerkung machen können, wie in den einfachen und ursprünglichen Lebensverhältnissen, gleichwie in der ewigen Natur, davon sie letzten Endes ein Teil sind, alle Verrichtungen im engsten Kreislauf sich immerfort wiederholten, den größten politischen Umwälzungen zum Trotz, so daß der Wechsel selber sich darstellt als das Wandellose, das ewig sich gleiche. Ein Krieg zerstört zahllose Menschenleben; am Leben der Menschheit, an ihrer innern und äußern Gesamtphysiognomie, ändert er, wie mörderisch er auch sei, nicht ein Haar; die kleinste und unscheinbarste Erfindung hat oft durchgreifendere Wirkungen. Der größte Krieg ist, sub specie aeternitatis, ein kleiner Zufall.

Und so geschah es jetzt, daß wieder der Schmied ein Pferd beschlug und der kleine Sohn des neuen Lehrers, fast genau so gekleidet wie damals der kleine Artur, sah dem Geschäft zu, eine schlanke Blume im Mund und die beiden Hände in den Hosentaschen.

Alexander wollte an dem Dorfkrämer vorübergehen, aber diesmal war es Artur, der ihn anhielt.

»Willst du das Goldene Buch, du hast jetzt Zeit dazu?« fragte er mit süßlichem Lächeln in boshaftem Nachgenuß dessen, was er einst dem Sohn des Jakob Schmälzle angetan hatte.

Alexander dankte trocken.

»Du warst ein recht dummer Kerl«, versetzte Artur überlegen. »Mit dem Buch habe ich dir einen famosen Bären aufgebunden. Aber du hast es nicht gemerkt. Dir konnte man überhaupt alles weismachen. Der Himmel mag wissen, wo mein Papa die Deklamation seinerzeit hergenommen hatte. Das Buch, von dem ich dir vorgefabelt, hat nie existiert.«

Das Goldene Buch eine Mystifikation. Also eine bloße Vorspiegelung, eine Lüge, das Geflunker eines Schalks, hatte für Alexander – wie für manche Menschen noch – die Ursache gebildet von soviel Sehnsucht und Unruhe und Schmerz. Eine Nichtsache kann doch eine Ursache sein: armes menschliches Hirn.

Täglich besuchte Alexander seinen alten Freund Rotermund, der auch noch immer seine Körbe flocht in glücklicher Zufriedenheit, doppelt glücklich, wenn er von seiner Tochter Olga erzählen konnte, die jetzt als Kinderfräulein mit ihrer Botschafterfamilie in Rom wohnte, der Hauptstadt der Welt und des jungem Königreichs Italien, der Ewigen Stadt.

»Wer das gedacht hätt',« meinte Rotermund, »als ihr beide noch um mich herumspieltet und mir die Weiden verdarbt.«

Dem Nepomuk, dem alten Hoboisten und Soldaten, erzählte Alexander auch seine wenigen Kriegserlebnisse; denn in Wahrheit hatte er, als Nachgeschobener, nur an späten und geringfügigen Aktionen teilgenommen.

Eines dieser Erlebnisse wurde erzählt, ein anderes, wo er aus einem Zweitöter ein Dreitöter wurde, war besonderer Natur.

»Diese Geschichte«, versicherte Alexander, »erzähle ich nur dir, es braucht niemand sonst darum zu wissen. Und besonders möchte ich nicht, daß sie die Mutter erfährt. Man täte ihr zu weh damit. Die Sache ist auch nichts weniger als schmeichelhaft für uns Deutsche. Das Schmerzlichste aber: daß der Fall nicht einmal vereinzelt dasteht. Er ist zugleich das Grauenhafteste, was ich persönlich im Krieg erlebt habe. Der dichteste Kugelregen und das blutigste Gemetzel im Bajonettangriff sind ein Kinderspiel dagegen.«

Und Alexander erzählte.

In Saint-Feréol spielte das Drama, in demselben Orte, an den sich für ihn noch andere Erinnerungen knüpften.

»A Berlin, à Berlin!« hatte es ihm auf dem Bahnhof daselbst nachgerufen. Etwas über fünf Monate später wurde Alexander in dem nämlichen Saint-Feréol als deutscher Soldat einquartiert.

Fast acht Tage lang lag er dort. Er ging sogar nach La Renardière. Theodosie von Montmerle aber fand er nicht dort.

Die Mutter Marcelline traf Alexander kauernd an ihrem Herd, wo sie in ihrem Kessel rührte, wie wenn sie seit den fünf Monaten sich nicht von der Stelle gerührt hätte.

Von Theodosie wollte sie nichts wissen.

»Sie wird bei ihrem Herrn Tissot stecken, dem alten Narren«, warf sie hin mit verächtlichem Achselzucken.

Ihr geliebter Sohn, Monsieur Louis – Louis d'or, den goldenen Louis, nannte sie ihn in ihrer mütterlichen Zärtlichkeit – stand nun auch im Feld; sie wußte nicht wo, denn sie bekam nie eine Nachricht von ihm.

Vielleicht war er längst totgeschossen von den Preußen.

Bei diesem schmerzlichen Gedanken blieben zwar ihre Augen trocken, aber ihr altes Runzelgesicht verzerrte sich zu unheimlichen Grimassen.

Über eins verwunderte sich Alexander. Sie schimpfte nicht auf die Preußen. Sie lobte sie. Das waren anständige Soldaten und gute, liebenswürdige Menschen. Seit vielen Wochen schon wechselte fortwährend die deutsche Einquartierung im Dorf, und mit allen war man zufrieden. Nie wurde eine Klage gehört. Diese Soldaten nahmen nur, was man ihnen freiwillig zukommen ließ, und seitdem es keinen Wein mehr gab im Haus, schafften sie ihn selber zu den Mahlzeiten; sie holten ihn aus dem benachbarten Schloß des Bürger Françon, dessen Verwalter sich ihn mit gutem Geld bezahlen ließ. Und schenkten der alten Mutter freigebig und reichlich davon ein.

»Jetzt haben wir zwei,« schloß die Marcelline, »die sehen aus wie Wilde, aber sind sanft wie Kinder und gut wie das liebe Brot. Sie werden sie sehen, ich höre sie kommen.

Draußen kreischten die Hühner – es waren ihrer allerdings weniger geworden – und zwei alte Landwehrleute mit verwilderten gelben Bärten traten in die Küche.

Man begrüßte sich herzlich als Landsleute und Kameraden. Verwunderlicherweise waren es zwei Hamburger, von denselben, die sich vor vier Jahren in Schwaben so vergnügte Tage gegeben hatten. Sollten sie vielleicht zu denen von Hinterwinkel gehört haben? War gar einer davon der Vater von der Cölestine Bächle ihrem Buben? Sie konnten sich aber nicht mehr erinnern an die Namen der vielen Dörfer, wo sie damals in Quartier gelegen.

Doch hatten beide den Kapellmeister Franke gekannt. Er hatte unterdessen, sie wußten nicht warum, seinen Abschied bekommen und dirigierte seitdem das Orchester eines Tingeltangeltheaters in der Sankt-Pauli-Vorstadt.

Auf der dunkeln Treppe, die zu der Stallung oder dem Keller hinunterführte, schob sich ein grauborstiger ungeschlachter Kopf in die Höhe und ein breitschultriger Körper folgte. Es war der blödsinnige Alte. In der Art eines Betrunkenen kam er auf die Gruppe am Herd zugewankt. Er knurrte nicht zornig wie ehemals; ein vergnügtes Grinsen lag auf seinem schlechtrasierten Gesicht.

Zu Alexanders Erstaunen erkannte ihn der Narr.

»Suchen Mademoiselle Theodosie«, stackste er hervor. »Liebes Vögelchen. Ist fortgeflogen.«

Er stak wie vor fünf Monaten in dem gleichen schmutzigen Zwilchanzug, man hätte ihn für einen entlaufenen Sträfling halten können. Er klopfte jetzt einem der Hamburger Landwehrleute vertraulich auf die Schulter.

»Gute Menschen,« grunzte er, »gute Menschen, die Preußen. Bons gens, les prussiens. Sagen immer: trincaltre, trincaltre! Soll heißen: Buvez, mon vieux, buvez. Haben Napoleon kaputt gemacht. Est foutu, Monsieur Napoleon. A bas, Napoleon! Es lebe der König, mein Vetter! Vive mon cousin! vivo le roi!«

*

Just am Tage nach diesem Besuch erhielt Alexanders Abteilung unvermutet den Befehl zum Antreten. Ein Verräter war vom Kriegsgericht verurteilt worden und sollte erschossen werden, ein Ordensmann aus einer Niederlassung in der Nähe von Saint-Feréol, von deutscher Abstammung, der ein deutsches Detachement absichtlich in die Irre geführt hatte.

Die Soldaten standen vor dem Rathaus in Reih und Glied, der Elende wurde vorgeführt. Mitten auf dem Markt, zum abschreckenden Beispiel der französischen Landbevölkerung, sollte er kriegsrechtlich behandelt werden.

Zu den kommandierten zwölf Mann gehörte auch Alexander. Er erhielt als Gefreiter das Kommando übertragen.

Die Soldaten hatten Distanz genommen. Nach dem armen Sünder schaute Alexander so wenig wie möglich, aber das Wort »Feuer« blieb ihm halb in der Kehle stecken – ein Blick zum Delinquenten hatte ihn entsetzt.

Es war der Vetter Pankraz.

Alexanders Leute hatten auch auf das halbe »Feuer« losgedrückt, und der Körper des Unglücklichen war mit verspritztem Gehirn aufs Pflaster hingeschlagen.


 << zurück weiter >>