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Siebentes Kapitel

Charles Fourier und eine weiße Katze

»Ich habe eine gute Neuigkeit für Sie«, sagte Tissot nach einigen Tagen während des Abendessens zu Alexander. Und dann erzählte er, er komme von seinem Freunde, dem Marquis von Auberoche-Lescar; der Marquis habe zwei Söhne im Alter von neun und zwölf Jahren: ihnen solle Alexander Unterricht in deutscher Sprache geben; er solle sich schon morgen, wenn er Lust habe, dem Marquis vorstellen.

Wer aber war dieser Herr Tissot mit so unheimlich gelegener und doch so heimlicher Wohnung, mit seinem Kosttisch in einer Art Schifferherberge, mit seinem Marquis Auberoche als Freund, mit seiner so raschen Zuneigung zu einem fremden Vagabunden?

Herr Tissot war ein Rätsel und gab Rätsel auf.

»Eroberungen haben Sie auch schon gemacht«, begann er am andern Tage. »Das Fräulein von Montmerle scheint sich sehr für Sie zu interessieren.«

Verständnislos schaute Alexander ihn an.

»Ich rede von der Dame, die uns am ersten Abend hier überrascht hat«, erklärte Tissot. Alexander wurde dadurch nur halb aufgeklärt. Er hätte gern gewünscht, dieses Thema möchte weitergesponnen werden. Unglücklicherweise aber geriet Tissot jetzt auf die Philosophie, die er sein Steckenpferd nannte.

Nun wird er bald von seiner hohen Meinung über dich zurückkommen, sagte sich Alexander in Angst und Bangen.

Ob Herr Alexander auch Charles Fourier und seine Lehre kenne, fragte Tissot.

Leider mußte der Ex-Unterlehrer aus Hopfingen gestehen, den Namen nie gehört zu haben.

»Wie! Charles Fourier! Sie hätten nie von ihm gehört? Unmöglich!«

Aber es war so, trotz der Unmöglichkeit.

»Leider sind Sie in Ihrer Unwissenheit nicht der einzige«, begann nicht ohne einige Erregtheit der sonst nur höflich lächelnde Franzose. »Noch ist der große Mann – er ist in der Straße geboren, wo Sie seit drei Tagen wohnen – nur allzu sehr verkannt. Aber es wird eine Zeit kommen, und der Meister Viktor Hugo, der Hohepriester der modernen Weltanschauung, ebenfalls ein Kind unserer schönen Stadt, hat sie prophezeit; für sie wird Charles Fourier sein, was Christus für die zeitlich und räumlich engbegrenzte christliche Ära war, ja unendlich mehr; denn Fouriers Menschheitsreligion, in seinem Phalansterium begründet und befestigt, wird Beherrscherin sein des ganzen Erdballs und alles Lebens darauf.

Denn, hören Sie, junger Freund, was Charles Fourier lehrt:

»Nach Ablauf von sechstausend Jahren, vom Anfang der Welt gerechnet, also von heute an in einunddreißig Jahren, sieben Monaten und dreizehn Tagen, wird die erste Weltphase, die des Unglücks, abgeschlossen sein, um der fünfunddreißigtausend Jahre dauernden Phase der Einheit Platz zu machen. Darauf wird die Phase der ›Glückseligkeit‹ folgen, die nach sechsundsiebzigtausend Jahren eine viertausendjährige Phase des ›Verfalles‹ zur Nachfolgerin haben wird als Vorläuferin von der Welt Ende. Wir stehen also kurz vor der zweiten Weltphase, derjenigen der Einheit, die, wie gesagt, in einunddreißig Jahren, sieben Monaten, dreizehn Tagen und drei Stunden und so und so viel Minuten und Sekunden beginnen wird.«

Herr Tissot sah, während er dies aussprach, rechnend auf seine goldene Taschenuhr.

»Unter dem Einfluß des Phalansteriums und seiner gesteigerten physikalischen, chemischen und industriellen Mittel,« fuhr er fort, »wird die ganze Erdoberfläche bewohnbar und fruchtbar werden. Eine Licht- und Feuerkrone um den Nordpol wird das Eismeer schmelzen, und eine gleichmäßig harmonische Wärme über alle Erdteile verbreiten. Mit dieser physischen Vervollkommnung der Erde werden die jetzigen leiblichen und geistigen Fähigkeiten aller Lebewesen in die achtundneunzigste, neunundneunzigste, ja hundertste Potenz erhoben werden, einige sogar in die einhundertundeinste. Die Menschen werden dann nicht nur ein Alter von rund einhundertvierundvierzig Jahren, eine Höhe von zwei Meter und zwanzig Zentimeter, ein Gewicht von zweihundertzweiundzwanzig Kilogramm erreichen und 17,71 Kilogramm Nahrung zu sich nehmen, sie werden auch mit solcher Souveränität über die Natur herrschen, daß Löwe und Tiger ihnen als Zugtiere, die Affen als Stiefelputzer, Friseure, Aufwärter, Läufer usw., die Zebra als Livreelakaien, die Elefanten als Gärtner, Billettverkäufer und dergleichen, die Hyänen, ihre böse Natur mit Gewalt bezwingend, als Totengräber, die Schwalben und Tauben als Briefträger, die Adler als Vorspanne bei Luftschiffen dienen werden. Die ganze Erde wird dann drei Milliarden Seelen, keine mehr und keine weniger tragen, darunter siebenunddreißig Millionen Mathematiker, denen gegenüber Newton und Deskartes als altmodische Schulknaben erscheinen werden, und so durch alle Zweige.

Und sagen Sie selber, teurer Freund,« wandte sich Tissot mit erhöhter Wärme an Alexander, »sind nicht, wiewohl wir einunddreißig Jahre, sieben Monate, dreizehn Tage und drei Stunden vom Anbruch der Einheitsphase entfernt sind und noch ganz in der Unglücksphase stecken, sind nicht jetzt schon Anzeichen dafür vorhanden, die über die Verwirklichung der Fourierschen Prophezeiung keinen Zweifel mehr lassen? Schon heute gibt es Brieftauben. Einen kleinen Anfang zu den siebenunddreißig Millionen lyrischen Dichtern und den siebenunddreißig Millionen Romanschreibern haben wir auch, und wenn Sie bedenken, welche Dienste die Elektrizität und der Dampf leisten, die doch auf niedrigerer Stufe stehen, als der Löwe und die Giraffe, so müssen Sie zugeben, daß wir bereits zu einer Beherrschung und Dienstbarmachung der Naturkräfte vorgeschritten sind, von der zu Fouriers Zeit außer ihm niemand eine blasse Ahnung hatte.

In der ›Einheitsphase‹ gibt es selbstverständlich keine verschiedenen Nationen mehr«, erklärte Tissot weiter. »Alle drei Milliarden Menschen werden von einem einzigen Allherrscher oder Omniarch patriarchalisch regiert. Sie sprechen eine einzige Sprache, nicht etwa französisch oder englisch oder italienisch, noch irgendeine andere jetzt lebende oder tote Sprache, sondern eine durch das Phalansterium erst zu schaffende Weltsprache, die sich zu den heutigen Sprachen verhalten wird, wie – da Sie Musiker sind, werden Sie den Vergleich zugeben – wie die gewaltige Musik des größten Orchesters zu dem hohen fadenfeinen Tremulando eines Violinvirtuosen, oder dem einförmigen Brummen des Kontrabassisten, oder den weichen, sanften Schmelztönen der Flöte, oder dem dünnen Pfeifen der Klarinette, oder auch wie die zusammengestimmte Harmoniegewalt der Orgel zu ihren verschiedenen Registern, mit anderen Worten, wie die Summe zu den einzelnen Posten, wie der Wald zum einzelnen Baum, wie der Ozean zur Welle. Von dieser Sprache wird man mit Recht sagen können, sie werde gehört, wenn der aufgescheuchte Geist Gottes in den unendlichen Tiefen des gesamten Menschheitsozeans wühlt, daß die Fluten seiner vermillionfachten Lebensfülle höher gehen als der Chimborasso und der Himalaja hoch sind.

Sehr wunderbar ist,« schloß Tissot leuchtenden Auges, »daß, wie Sie gehört haben werden, trotz unserer Entfernung vom Anfang der Einheitsphase um einunddreißig Jahre, sieben Monate, dreizehn Tage, drei Stunden und, wenn ich nicht irre, sieben Minuten – daß sich bereits einzelne Gelehrte, ohne etwas von Charles Fourier selbst zu wissen, mit der Erfindung oder Erschaffung der Weltsprache, deren zukünftige Notwendigkeit sie vorausfühlen, eifrig beschäftigen. Freilich werden sie einstweilen nichts Rechtes zuwege bringen, denn ihre Stunde, oder genauer, wenn auch immer noch ungenau genug zu sprechen, ihre Sekunde ist noch nicht gekommen, die Einheitsphase ist noch nicht angebrochen.«

*

Alexander hatte einen Stuhl auf die Dachterrasse hinausgestellt und da saß er. Das also war des Pudels Kern, dachte der Ex-Unterlehrer; ein Philosoph ist er und hat nur deshalb seine Freundschaft so schnell auf mich geworfen, weil er mich für einen Seinesgleichen gehalten hat.

Ihm ward bange um die Zukunft dieser Freundschaft; denn er zweifelte sehr an seiner Befähigung, ein Philosoph werden zu können. Einst in Hopfingen, als Unterlehrer, hatte sich Alexander einen Gelehrten gedünkt, aber von diesem Wahn war er längst geheilt, und in seiner kindlichen Einfalt hielt er Gelehrsamkeit und Philosophie für ein und dasselbe, ohne doch zu wissen, daß es auf jeder deutschen Universität wenigstens einen Professor gibt, der diese Sache um kein Haar anders nimmt.

Aber eher als den Glauben an Tissots Weltbild hätte man dem jungen Menschen auf der Zinne des Daches einzureden vermocht, die Giebel und Schornsteine, die so seltsam um ihn herum in den Nachthimmel ragten, seien wildes Gebirge und Wald, und die Venus, vom äußersten Horizont mit bezaubernden Strahlen hereinglänzend, sei eine Fee, und nur noch wenige Minuten, so werde sie zwischen den Felsschluchten und Stämmen als weißleuchtende Gestalt auf ihn zugeschritten kommen – –

Wirklich bog, ganz nahe, plötzlich etwas Weißes, wie ein Gewandsaum oder wie eine leuchtende nackte Schulter, um eine schwarze Kaminmasse.

Ein unverstandener Schreck fuhr Alexander durch die Seele.

Die Erscheinung verschwand schnell wieder; es mochte eine weiße Katze gewesen sein. Dafür hörte Alexander nach dem Innern des Hauses hin eine Tür leise aufgehen, dann noch eine, vielleicht gar die eigene Kammertür. Zitternd, mit fieberhafter Spannung horchte er – aber alles blieb still.

Auch Alexander hatte ein Problem zu lösen, wenn auch gerade kein philosophisches.

*

Alexanders Rätsel bildete eine Tür, die Tür, die einsam und geheimnisvoll den Gang vor seinem Zimmer abschloß. Wohnte dahinter wirklich die hochmütige Unbekannte vom ersten Abend in den »Drei Mauleseln«? Dieses Fräulein Theodosie von Montmerle, die sich für ihn interessieren sollte?

Alexander hatte Tissot wiederholt danach gefragt. Aber der Franzose schien ihn jedesmal, wie es öfter vorkam, nicht verstanden zu haben.


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