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Neuntes Kapitel

Auch Vetter Pankraz weiß etwas von weißen und schwarzen Katzen

Etwas beunruhigt wurde Alexander durch gewisse sonderbare Reden des Vetters Pankraz. Er hatte den Marienbruder viele Wochen nicht gesehen, da stand er ihm an einem schönen Vormittag just auf dem Pont Saint-Amour plötzlich gegenüber.

»Sie bringen mir keine Übersetzung mehr zur Korrektur, Sie scheinen mich zu meiden«, begann der Vetter vorwurfsvoll.

Alexander wünschte keine Auseinandersetzung. Er konnte deshalb dem Vetter den wahren Grund nicht sagen, welcher darin bestand, daß Alexander sich von dem hochmütigen Klosterbruder nicht wie ein Bettler behandeln lassen wollte. Er schützte die Weite des Weges vor. Dann gestand er, daß Herr Urban und manchmal die bei Tissots wohnende Dame die Freundlichkeit hätten, seine Stilübungen durchzusehen.

»Wie,« rief Monsieur Chemellecellé, »das Fräulein von Montmerle?«

»Kennen Sie denn die Dame?« fragte Alexander, von plötzlicher Neugierde gestachelt, wiewohl es ihm fast als sündhafte Entweihung der Angebeteten erschien, mit dem Monsieur Chemellecellé über sie zu sprechen.

»Ich hörte einige Male von ihr reden,« antwortete der Vetter Pankraz, »sie soll eine reiche Erbin, aber von ihrer eigenen Mutter, man weiß nicht warum, gehaßt und verfolgt sein. Das sei der Grund, weshalb sie einen großen Teil des Jahres bei Herrn Tissot wohne, ihrem Sachverwalter und Ratgeber. Sie sei außerordentlich fromm, es heißt sogar, daß sie ins Kloster gehen wolle. Andere wieder sagen, sie sei nur sehr stolz und habe lediglich aus diesem Grunde und auf ihren alten Adelstitel pochend wiederholt gute Partien ausgeschlagen.«

Mit stockendem Atem und hochklopfendem Herzen hört Alexander die Rede des Vetters.

»Und dieses Fräulein von Montmerle korrigiert Ihnen Ihre Stilübungen«, hub der Vetter Pankraz wieder an, nachdem er bedächtig eine Prise genommen und sich jetzt den heruntergefallenen Tabak von der Brust abklopfte. »Das ist ja sehr merkwürdig. Wie kommen Sie denn zu ihr?«

Und Alexander erzählte seinem Vetter, daß das Fräulein von Montmerle Deutsch lerne und daß sie zusammen Musik machten.

Da blieb der Vetter Pankraz plötzlich stehen und sah Alexander prüfend ins Gesicht.

»Hören Sie, Vetter Alexander,« sagte er kopfschüttelnd, »Sie sind in Theodosie von Montmerle verliebt?«

Der also Apostrophierte versuchte harmlos zu lachen; er fühlte aber gleichzeitig, daß ihm alles Blut in die Schläfen drang.

»Ich will, da Sie empfindlich scheinen, nicht weiter in Sie dringen«, versetzte der Marienbruder. »Aber lassen Sie mich Ihnen eine gutmeinende Warnung geben und Ihnen sagen, daß Sie vielleicht Gefahren laufen, von denen Sie, jung und unerfahren wie Sie sind, keine Ahnung haben. Es ist ein eigenes Ding mit diesen Französinnen. Sie haben alle etwas Katzenartiges, und sie spielen gern mit zappelnden armen Mäuschen, die in ihre Gewalt geraten sind und sich nicht mehr losmachen können. Das Spiel nimmt sich zuerst fast spaßig aus, aber je länger es dauert, je grausamer wird es. Die glattpfötigen, weichhäutigen Wesen, ich meine die Katzen, haben eine solche Lust an derartigen Spielen, daß ihnen, verzeihen Sie, das magerste und ausgehungertste Mäuschen nicht zu schlecht dazu ist, wenn sie im Augenblick kein anderes bei der Hand, das heißt bei den Pfötchen haben.

Und außerdem, fuhr der Vetter immer eifriger fort, ist in dem Tun und Lassen und in dem Charakter dieses Fräuleins von Montmerle soviel Unaufgehelltes und Geheimnisvolles, daß ... ich will gewiß über niemand etwas Schlimmes aus. sagen, aber es ist unbestreitbar, daß schon oft Religion und Frömmigkeit schlimme Dinge vor der Welt zudecken mußten.«

»Darin werden Sie Erfahrung gesammelt haben«, wollte Alexander bitter herausplatzen und dem Vetter seine ganze Entrüstung zeigen. Aber die Kehle schien ihm zugeschnürt. Er fühlte sich zu tief empört.

Und er war nicht ohne peinigende Zweifel. Manches Unverständliche im Betragen des Fräuleins von Montmerle fiel ihm ein.

Je überzeugter der Vetter sprach, einen je wärmeren Ton seine Worte annahmen, desto ergrimmter wurde Alexander gegen ihn, desto unglücklicher fühlte er sich innerlich.

Auffallend war es, wie die Physiognomie des Marienbruders während seiner Rede freier und intelligenter wurde – wie sie in jüngeren Jahren gewesen sein mochte. Die Brücke lag längst hinter den beiden, sie wandelten jetzt in den Anlagen am Fluß.

Er lügt, er lügt, rief eine Stimme in Alexander. Gewiß ist kein wahres Wort an allem, was dieser Mensch sagt. Er glaubt es auch wohl selber nicht, er will mich nur irre machen. Wenn er's gut mit mir meinte, hätte er sich von Anfang anders gegen mich benommen, er ist ein Schleicher, »ein Gebärdenspäher und Geschichtenträger, die Unheil mehr in dieser Welt getan als Gift und Dolch in Mörderhand nicht konnten«, wie unser Schiller sagt.

Alexander rief sich all sein seitheriges schönes Glück ins Gedächtnis und zürnte sich selber, daß ihn jener Scheelsüchtige auch nur ein Viertelstündchen lang darum betrügen konnte. Diese Halbpriester, sagte er sich dann, sind schlimm. Ohne durch die volle geistliche Würde und priesterliche Machtvollkommenheit entschädigt zu sein, dürfen sie, wie jene, nicht lieben und müssen jeden Glücklichen mit Neid verfolgen.

Denn wahrlich, es heißt einem gemeinen Durchschnittsmenschen zuviel zumuten, in der Welt die Rolle des Heiligen zu spielen. Das kann immer nur eine elende Stümperei werden.

Stümperei aber verdirbt in allem und jedem den Charakter und macht, daß so ein Mensch schlecht wird durch und durch, wenn er es von Haus aus auch gar nicht war. Selbst der wirkliche Priester, insofern ihm die innere Berufung fehlt, wird unversehens zum Schurken, während er in einer weltlichen Stellung eben nur ein ordinärer Mensch geworden wäre wie die meisten.

Um dem Gespräche eine andere Wendung zu geben, brachte Alexander die Rede auf Herrn Tissot.

Der fromme Vetter, der zum soundsovielten Male und mit vielen Umständen eine neue Prise Tabak nahm, zuckte die Achseln. Er machte eine Miene, die viel sagen sollte. Früher sei Tissot Notar gewesen. Was er jetzt treibe, wolle niemand recht wissen. Es gingen zwar allerlei Reden um, aber Stadtgerüchte würden ja oft böswillig verbreitet, man dürfe darauf nicht viel geben, am wenigsten dürfe man sie nachreden. Sicher sei nur, daß Herr Tissot seit dem Verkauf seines Notariats in Häusern spekuliere, mit Vorliebe in solchen mit Armeleutewohnungen. Und sicher sei auch, daß er sein Notariat nicht ganz freiwillig verkauft habe.

»Aber das ist eine alte Geschichte«, sprach der Marienbruder mit vieldeutigem Augenzwinkern, »und ist längst Gras darüber gewachsen. Ich will auch gar nichts gesagt haben. Er hat ja immer noch einen Marquis von Auberoche zum Freund – oder Klienten, man weiß nicht genau. Nein, ich will gar nichts gesagt haben. Herr Tissot spielt sich ja in neuerer Zeit heimlich auf einen Atheisten hinaus oder gar auf den Saint-Simonisten oder Fourieristen oder wie sonst seine Heiligen heißen. Aber ehemals, da hat er seine zwei Töchter doch ins Kloster gesteckt, aber halt vielleicht nur, weil ihn das doch immer noch eine geringere Mitgift kostete, als wenn er sie verheiratet hätte.«

Vetter Pankraz ließ eine Pause eintreten. Er machte geräuschvoll von seinem ungeheuer großen blau- und schwarz- gewürfelten Taschentuch Gebrauch. Darauf nahm er andächtig eine Prise.

»Aber eine gute Handlung bleibt immer eine gute Handlung,« fuhr der fromme Bruder fort, »wenn auch die Absicht nicht ganz heilig ist. Auch in diesem Fall wird Herr Tissot, wie immer, spekuliert haben. Und nicht so übel. Er bekam damals für lange Zeit die Kundschaft des sämtlichen katholischen Adels in Stadt und Land. Aber ich will nichts gesagt haben. Mit dem Fräulein von Montmerle ... Nun, sehen Sie mich nicht so bös an, Herr Vetter, ich will ja nichts gesagt haben. Herr Tissot hat unstreitig das Verdienst, aus seinen zwei Töchtern fromme Klosterfrauen gemacht zu haben. Da darf unsereiner nicht zu streng mit ihm ins Gericht gehen. Die eine davon hat es sogar zur Äbtissin gebracht in einem Kloster der Karmeliterinnen in der Normandie, das eine Familienstiftung derer von Auberoche-Lescear sein soll, daher wohl die freundlichen Beziehungen des Marquis zu Herrn Tissot. Dieser Marquis ist nun freilich ein frommer Herr und ein reicher und mächtiger Mann. Man sagt, er sei ein besonderer Freund der Kaiserin Eugenie, deren politische Pläne er unterstütze. Er stand schon zweimal nahe daran, Minister zu werden. Als guter Katholik haßt er die Preußen, und den Ausgang des preußisch-österreichischen Krieges betrachtet er als das große Unglück Europas. Er denkt wie die Hinterwinkler, finden Sie nicht, Herr Vetter? Und Sie selber? Aber freilich, was so ein junger Künstler ist; Sie haben gewiß in Ihrem Leben noch keine Zeitung gelesen.«

Alexander schwieg hartnäckig.

»Apropos, der Herr Marquis von Auberoche,« nahm der Marienbruder von neuem seine Rede auf, »der hat ja freilich seinen Narren an Ihnen gefressen, trotz seinem Preußenhaß. Ich habe ihn gestern gesprochen. Er hat mir in bezug auf Sie eine Mitteilung gemacht, die Sie aber nicht erfahren sollen, da Sie mich doch nicht mehr besuchen. Und also, mit der Frau Marquise machen Sie auch Musik?«

Dem guten Alexander ging es nach dieser kuriosen Rede wie ein Mühlenrad im Kopfe herum. In eine förmliche Aufregung versetzte ihn die rückhaltvolle Bemerkung wegen des Marquis von Auberoche. Was der Vetter wohl hatte sagen wollen? In bezug auf Herrn Tissot hatte ihn das Wort Notar vor allem frappiert.

Dieses Wort wollte ihm gar nicht gefallen. Er hatte sich Tissots Beziehungen zur Welt romantischer gedacht.

Recht verstimmt kam Alexander an diesem Tage nach Hause. Und wie es so geht, heute sollte ihn auch alles ärgern, selbst ein Brief von der Mutter Regine.

»Was du von der vornehmen Gräfin, oder wie du sie nennst, neuerdings berichtest, klingt fast unglaublich,« hieß es in dem Schreiben, »und es wurde mir dabei recht bange um dich, und das Herz so schwer, ohne zu wissen warum, daß ich bitterlich weinen mußte. Der Vater schien diesmal auch gar nicht entzückt. Er sagte nichts, aber ich konnte ihm ansehen, daß ihm die Geschichte mit deiner ›Amselbergerin‹ nicht allzusehr behagte, als ob dabei etwas nicht recht sauber sein müsse. Und sei mir nicht bös, lieber Alexander, wenn ich so rede, es ist vielleicht recht dumm und einfältig, der Himmel gebe es, wir würden uns alle freuen, aber ich mußte dir als deine Mutter sagen, was ich auf dem Herzen hatte und daß du vorsichtig seiest.«

*

Unterdessen waren viele Wochen vergangen.

Einmal klopfte Alexander wieder bei Theodosie an. Im Glauben, ihr » entrez?« gehört zu haben, öffnete er die Tür. Ein heller Aufschrei heftigsten Erschreckens überraschte ihn, er sah eine nur halb bekleidete Gestalt in den Alkoven fliehen.

Aufs äußerste bestürzt, stotterte er Entschuldigungen und wollte sich zurückziehen. Doch Theodosie forderte ihn auf, zu bleiben; sie sei nun schon erschreckt, mit ihrer Toilette werde sie sogleich fertig sein.

Ganz selig über diese Güte und Nachsicht, setzte sich der junge Mann ans Pianino. Nach einer Weile drehte er sich um, er glaubte Theodosie hinter seinem Stuhle. Er hatte sich getäuscht, sie war noch nicht aus ihrem Allerheiligsten herausgetreten. Nicht das geringste Geräusch drang aus dem Alkoven hervor. Nur ihre Stimme hörte er jetzt.

»Wie herrlich Sie doch gespielt haben«, rief sie heraus.

Darauf wurde es drinnen wieder mäuschenstill.

»Kommen Sie noch nicht?« fragte Alexander schüchtern.

Keine Antwort.

Alexander wartete.

Hinter dem Vorhang blieb es still und regungslos; da flog's ihn plötzlich an, er wußte selbst nicht wie.

Er war wie außer sich. Ihr Schweigen wirkte auf ihn wie eine Herausforderung. Er stand auf dem Sprunge, gleich einem Besinnungslosen in den Alkoven zu stürzen.

Aber nein, er war nicht der Mann, das zu tun. Noch eine gute Weile dauerte es, bis das Fräulein von Montmerle im Straßenanzuge zum Vorschein kam. Sie blickte mißvergnügt. Ein spöttischer, fast böser Zug lag um ihre schmalen Lippen.

Doch Alexander war auf diesem Felde weiblicher Psychologie noch allzu unerfahren, er war weit davon entfernt, das höhnische Zucken ihrer Mundwinkel zu deuten, noch zu ahnen, was die schöne Französin so gründlich um ihre gute Laune gebracht hatte.

Aber verwundert war er doch über das Betragen der Schönen, und wie sich auch sein Gefühl dagegen sträubte, in seinem Gedächtnis tauchten gewisse Worte seines Vetters Pankraz empor und erweckten in seiner Seele fast schlimme Gedanken, die aber, wenn er die Freundin wieder anblickte und freundliche Worte von ihr empfing, zergingen wie ein Frühlingsreif in der Morgensonne.

Doch bot sich bald eine neue Gelegenheit, wo Alexander so wenig wie diesmal aus dem Wesen der schönen Französin klug werden konnte.


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