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Der Finzer, mit dem ich jetzt ins »Studieren« ging, war noch einmal so breit und zwei Kopflängen höher als ich. Es saß ihm aber dennoch sein Kopf tief in den mächtigen Schultern, und in dem breiten abgeplatteten Gesicht stand eine kaum hervorragende, mit ihrem stumpfen Unterteil förmlich nach oben gestülpte Nase. Ich hatte bis jetzt wenig Freundschaftliches von ihm erfahren.
Meistens hatte er mich nur beachtet, um – er war ein wahrer Riese neben mir – seine körperliche Überlegenheit an mir auszulassen. Solang ich in meiner Kindheit zurückdenken kann, bin ich von ihm mißhandelt worden. Seine erste Bekanntschaft mit ihm habe ich erzählt. Seitdem wir miteinander die Gelehrtenlaufbahn betraten, schlug er mich nicht mehr. Er spielte jetzt den Großmütigen. Wenn er z.B. verstohlen eine Zigarre rauchte, überließ er mir freigebig den Stummel. Wenn er unsere sonntäglichen Spaziergänge, wie er regelmäßig pflegte, in einen Nachbarort und daselbst ins Wirtshaus lenkte, durfte ich den Rest von seinem Bierschoppen trinken, und wenn ich aus dem Kramladen des triefäugigen Aberle zu Märchingen in Goldpapier gewickelte Zuckersteinchen holen mußte, schenkte er mir von allen zwölfen die goldpapierene Hülle.
Aber je mehr mich der Finzer auf diese seine Weise mit Wohltaten überhäufte, desto deutlicher zeigte er mir seine Geringschätzung, desto fühlbarer ließ er mich merken, daß ich einer sei, der nicht bezahlt, der nur um der Butterballen und Schinken der Blässenbäuerin willen im Studieren »mitmachen« dürfe.
Oh, ich hatte es umsonst. Ich war nur gehalten, mich jeden Tag zu des Blässenvogts Hof zu verfügen, um gemeinschaftlich mit dem Finzer die Lektion vorzubereiten. Dafür eben durfte ich mitmachen. Ein Vergnügen war das nicht, hätte ich fast gesagt. Aber das sollte es auch gar nicht sein.
In tiefster Seele zuwider war mir die Blässenvögtin. Sie stellte schon körperlich einen Ausbund aller Häßlichkeiten dar. Keine alte Schindmähre ward je durch übermäßige Anstrengung und schlechte Nahrung elender gemacht, als wie diese Frau sich selber zugerichtet hatte, die man in Hinterwinkel eine reiche Bäuerin nannte. In ihrem Körper stand kein Knochen mehr gerade. Jedes Gelenk war ausgerenkt. Schultern und Hüften waren entsetzlich verzogen. An den knolligen Händen konnte sie keinen Finger mehr geradestrecken, sie waren in eine bleibende Krümmung hineingewachsen wie Vogelklauen und die Gelenke bis zur Unkenntlichkeit angeschwollen; die letzte Spur von Menschenbildlichkeit war aus dieser Hand verschwunden.
Ganz grauenhaft wirkte es auf mich, wenn die Vögtin gelegentlich ihr schmutziges schwarzes Tuch vom Kopfe nahm und dabei ihren kahlen Schädel aufdeckte. Nie hatte ich sonst bei Frauen einen Kahlkopf gesehen; und die Vögtin hatte noch dazu hinter dem linken Ohr einen faustgroßen hellroten Fleischauswuchs; bei seinem Anblick drohten sich mir die Gedärme im Leib umzudrehen.
Die Bäuerin besaß eine unglaubliche Fertigkeit, jetzt finster wie eine böse Eule aus ihrem Winkel hervorzuschielen und im nächsten Augenblick, zu irgendeinem Zweck, das freundlichste Lächeln in den Augen und die süßesten Worte auf den Lippen zu haben, honigsüß, aber mit einem Geschmäcklein ins Ranzige und Faule.
Wenn es wenigstens bei Grimassen und Worten geblieben wäre. Aber die Vögtin bot mir oft zu essen an, und dadurch setzte sie mich vollends in Verzweiflung.
Man konnte keinen heikleren Jungen finden als mich, obwohl ich selten zu Hause ganz satt wurde und viel in fremden Häusern, wohin ich den Vater begleitete, herumessen mußte. Ich blieb trotzdem ein näschiges Kind und litt lieber Hunger, als etwas zu essen, das meinem Gaumen nicht ganz zusagte. Dabei spielte meine Nase eine große Rolle.
Jeder Mensch trug für mich eine Geruchsatmosphäre mit sich herum, und sehr oft entschied allein meine Nase über Neigung oder Abneigung gegen jemand. Es gab Menschen, die ich buchstäblich nicht riechen konnte.
Noch schlimmer erging es mir mit den Häusern. Jedes Hausinnere besaß für mich einen charakteristischen Geruch; ward dieser meiner Nase unangenehm, so empfand ich einen fortgesetzten Ekelreiz, der es mir fast zur Unmöglichkeit machte, in einem solchen Hause etwas zu genießen.
Der Hausgeruch bei Blässenvogts aber war von allen, die ich kennenzulernen Gelegenheit hatte, die Bodenkammer des alten Müllerle ausgenommen, der abscheulichste für meine Nase. Er allein genügte, mir den Aufenthalt im Hause zu einer Qual zu gestalten; es wäre gar nicht nötig gewesen, noch dazu meinem Gaumen Unmögliches zuzumuten. Das aber tat die Blässenbäuerin.
In einem irdenen Teller, der vor Alter und überstandenen Strapazen längst seine Glasur verloren, wie die Vögtin ihre Haare, und aus dem vorher immer schon ein anderer gegessen hatte, mischte die Bäuerin alles zusammen, was gerade auf den Tisch gekommen war: Linsen, Erbsen und Bohnen, Sauerkraut und Kartoffeln, Gerstensuppe und gedörrte Pflaumen und vielleicht ein paar übriggebliebene Klöße mit einem benagten Schweineknochen oder einem Stückchen geräucherter Speckschwarte – das Ganze in einem halbwarmen Zustand, ein entsetzlicher Brei: das sollte ich essen.
Schon bei seinem Anblick fühlte ich eine Wirkung im Magen, die Entsetzliches befürchten ließ.
Nicht weniger ekelhaft als der Schmaus war die Art, wie er mir angeboten wurde. Ich dürfe das Essen schon annehmen, es sei gern gegeben, von gutem Herzen, ich solle nur tüchtig einbeißen, man gönne es mir. Ich sei so dürr, aber man wolle mich füttern, essen sollt' ich, daß mir die Schwarten krachten; wir müßten, der Finzer und ich, nun soviel lernen, da genüge Schneiderkost nicht mehr, mit einer Schale Kaffeebrühe und anderthalb Kartoffeln im Leib könne der Mensch nicht fett werden.
Die Vögtin machte dazu die freundlichsten Grimassen, über die sie gebot; jede Runzel ihres Gesichtes lächelte. Und ich war feig. Ich konnte als Kind niemals einem Menschen etwas rund abschlagen, ich meinte, jedermann zu Gefallen leben zu müssen. So wird ein Mensch, der in der Armut aufwächst.
Ich fand nicht den Mut, der entsetzlichen Blässenbäuerin zu sagen, daß ich keinen Hunger hätte. Um ihr gefällig zu sein, die grausam mein ganzes sinnliches und sittliches Gefühl auf die Folter spannte, machte ich Riesenanstrengungen und brachte es mit einem Aufwand übermenschlicher, jedenfalls überkindlicher Energie fertig, einen kleinen Teil des Gebotenen langsam, einen Löffel voll nach dem andern, hinunterzuwürgen, bei jedem einzelnen versucht, der Natur nachzugeben und den Teller voller statt leerer zu machen. Mehr als einmal auch zeigte sich die Natur stärker als mein moralischer Wille; ich lief dann hinaus und gebrauchte beim Hereinkommen eine Ausrede, eine Lüge.
Dann lächelte die Vögtin; das sei so, wer zu lang Hunger gelitten, dessen Magen wolle das Essen nicht mehr annehmen.
Schon vielen wurde das Latein und auf mancherlei Art verleidet, aber so wie mir ist es noch keinem zum Ekel und Abscheu gemacht worden. Ich streikte auch bald. Und man errät, womit ich mich entschädigte.
Wir gingen dem Winter entgegen, der Meister Nepomuk liebte eine warme Stube, und ich erlebte darin überschwengliche Genüsse. Ich saß hier halbe Tage lang ohne aufzustehen an dem alten Spinett mit den schwarzen Unter- und den weißen Obertasten und übte und übte. Und schön war es auch droben in der Stube des Herrn Steuerperäquators, der nicht nur meine Übungen überhörte, sondern mir auch mit der Zeit allerlei Vorlesungen hielt, wie sie gewiß selten einem Schneiderlehrling und Geißhirten gehalten worden sind.
Darüber vergaß ich oft tagelang den Kornelius Nepos und den Finzer, d.h. ich vergaß ihn leider nicht, aber ich ging so selten hin als nur möglich, und ich empfand eine rechte Schadenfreude, wenn ich dachte, wie der Finzer umsonst auf mich zum Übersetzen wartete, der aber nur froh war, wenn ich nicht erschien. Denn er meinte, dann brauche er auch nichts zu tun und könne sich mit mir entschuldigen. Der Pfarrer zeigte sich auch bald sehr unzufrieden mit meinem Eifer und zankte mich oft, wenn der Finzer nicht vorbereitet war.
In Wahrheit freute sich der Pfarrer heimlich, daß er mich schelten konnte, denn schon rückte der Zeitpunkt nahe, wo der Finzer in das bischöfliche Seminar abgehen sollte. Da hieß es nun: mir geschehe ganz recht, wenn ich das Nachsehen habe; wäre ich in meinem früheren Eifer und willigen Betragen fortgefahren, so hätte man Mittel gefunden, mich ebenfalls im Seminar unterzubringen.
Wirklich zog der Finzer fort in die große ferne Stadt auf die »hohe Schule«, und ich blieb zurück. Ich war wieder nichts als Schneiderlehrling und Geißjunge oder Gänsehirt, je nach Gelegenheit.
Wie der Finzer, verließ nur wenige Wochen später auch Olga Rotermund das Dorf, um in der Residenz bei der Göte ihre musikalischen Studien in strengerer Regel und Ordnung fortzusetzen.
Ich hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten, als die Olga sich von mir verabschiedete. Aber nicht die Trennung war's, die mir den Schmerz verursachte, sondern allein der Zorn darüber, daß auch sie nun fortging von Hinterwinkel und ich allein mußte bleiben.