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Neunzehntes Kapitel

Ein anderer Cyprian Strohmelker

Alexander Schmälzle kannte die Menschen schlecht. Oder wenn er sie kannte, verschmähte er es, aus seiner Kenntnis Vorteil zu ziehen.

Warum trieb er sich einsam auf dem Kahlenbuckel umher und im Sindelwald und Salmischen Gehölz und hockte auf der »Breiten Steinmauer« unter dem alten Nußbaum, hinter Stachelbeerhecken und wildem Rosengedörn? Warum saß er nicht statt dessen in der Krone an Feierabenden und Sonntagen, unter den Burschen und Bauern, als Gleicher unter Gleichen, und erzählte, so gut wie andere, von Verwundungen und Verstümmelungen, von unmenschlichem Hunger und Frost, von Lagerfeuerpoesie und Vorpostenabenteuern, von interessanten Quartieren, von gutherzigen hübschen Französinnen, von eingefangenen Truthähnen, von ausgegrabenen Weinfässern, von ganzen Kisten Kognakflaschen, von Dutzenden fidelen Räuschen und so weiter?

Man hätte ihn gelten lassen wie die anderen, man hätte nicht über ihn die Achsel gezuckt.

Und wenn er seine Geschichte mit Theodosie von Montmerle, der vornehmen Gräfin, erzählt hätte, des langen und breiten, und nicht nach der Wirklichkeit, sondern idealisierend, mit den schmeichelhaftesten Entstellungen, in dem Sinn seiner Briefe von ehedem, da er selber noch in holden Täuschungen lebte, und wenn er behauptet hätte, daß er Schloßherr zu La Renardière werden könne, sobald er nach Frankreich zurückkehren wolle, was er nächstens zu tun gedenke: sie hätten ihm alle mit hellem Erstaunen zugehört, sie hätten gesagt, etwas muß daran wahr sein, wenn er auch ein wenig übertreibt; sie hätten ihn beneidet und sie hätten ihn bewundert.

Aber Alexander ging den Leuten aus dem Weg. Nicht daß er, wie einst zu Hopfingen, die Menschen fürchtete, zu eigenem Leid. Etwas anderes trennte ihn heute von ihnen, er wußte selber nicht was.

Die anderen aber wußten es, wenigstens waren sie schnell mit Namen bei der Hand, und wenn sie es nicht als Dummheit bemitleideten, so nannten sie es Hochmut. Und zu ihrer Verachtung gesellte sich der Haß.

Alexander hätte der Löwe des Tages sein können, aber er hatte kein Talent dazu, und wer gerade dieses Talent entbehrt, von dem nehmen die Leute gern an, er habe überhaupt keines. Der Löwe des Tages aber wurde bald ein anderer.

Ja, fast wiederholte sich die sensationelle Geschichte von sechsundsechzig, die Geschichte mit dem Cyprian Strohmelker.

Alexander befand sich erst kurz in Hinterwinkel und saß eines Tages oben auf der Schillingsberger Höhe, am Saum des Sindelwaldes, auf derselben Stelle an dem großen Markstein, von wo er einst als gelangweilter Junge in den Krieg gefahren war mit dem Fuhrmann Jakob Schmitz von Brunnacker. Er gedachte unwillkürlich jener Zeit und seines damaligen unleidlichen Wesens. Er schämte sich.

Da kam auf der Schillingsberger Straße her, um die Waldecke, ein Fuhrwerk angerasselt. Es war ein echt schwäbisches Gefährt, ein sogenanntes Bernerwägele, aber es trug einen merkwürdigen Insassen, einen französischen Zuaven in voller Uniform, mit scharlachroten Pluderhosen und einem ebenfalls brennendroten hohen Fez auf dem Hinterkopfe, mit mächtigem Schnurr- und Knebelbart, eine Zigarette rauchend.

Das rasselte vorüber. Und plötzlich drehte der Turko sich um, er hatte Alexander erblickt, er rief » Bon jour, Lexel!« und lachte.

Ganz verblüfft sah ihm Alexander nach. Und drunten kam das ganze Dorf in Aufruhr.

Die spielenden Kinder auf der Gasse stiebten auseinander, die kleinen stürzten schreiend in die Häuser an die Schürze ihrer Mütter, die großen rissen die Augen weit auf. Durch alle Fenster reckten sie die Köpfe.

Viele dachten an nichts Geringeres als an den Kaiser Napoleon. Denn so hatten sie sich den Franzosenkaiser immer vorgestellt. Die Zigarette stimmte auch. Wahrhaftig, die Hinterwinkler waren so ununterrichtet nicht. Sie hatten während des Krieges Zeitungen gelesen, das Böhringer Amtsverkündigungsblatt; sie wußten, daß Napoleon sogar während der Schlacht bei Sedan Zigaretten geraucht hat. Was eine Zigarette ist, hatte ihnen der Unterlehrer Theobald Roßrucker erklärt.

Und unmöglich war ja nichts in dieser Zeit. Vielleicht kam der unglückliche Kaiser nach Hinterwinkel, um bei den gemütlichen Schwaben Schutz zu suchen vor den ungemütlichen Preußen.

Übrigens sah er lustig aus auf seinem Bernerwägele. Für einen abgesetzten Imperator machte er fast eine zu vergnügte Miene. Und auch gar nichts Gedemütigtes trug er an sich, sondern blickte stolz und kaiserlich auf die Leute herunter, nicht wie einer, der sein Reich verloren hat, eher wie ein junger Gott, der die ganze Welt sein nennt.

So kreuzten sich die flüchtigen Gedanken in den Gehirnen der Menschen, während das fremde Gefährt mit seinem Zigarettenhelden längst die Dorfgasse hinuntergerumpelt war.

Andere, deren Phantasie weniger ins Weltgeschichtliche stach, dachten an einen andern Großen, an den Cyprian Strohmelker, den herrlichen Sohn der Hanne Strohmelker. Er, der einmal hoch zu Roß, in goldenem Helm und Harnisch erschienen war, wie sollte er nicht auch auf einem Bernerwägele anfahren, mit einer roten Troddelmütze und Hosen wie ein Weiberrock.

Dem durfte man alles zutrauen.

Aber der sonderbare Ankömmling war, trotz seiner Zigarette, weder der Exkaiser der Franzosen noch, trotz seiner Hosen wie ein Weiberrock, der Held Cyprian Strohmelker. Er hieß einfach Vinzenz Bächle.

Der Finzer war's, des Blessenvogts Finzer. Alexander Schmälzle erfuhr diese Nachricht noch auf der Schillingsberger Höhe, denn eine solche Zeitung ging wie ein Lauffeuer durch die Gemarkung.

»Der fehlte mir!« war der erste Gedanke des melancholischen Musikus. Er lächelte dabei schmerzlich.

Am Abend besprach Alexander das Ereignis des Tages mit seinem Freunde Nepomuk.

»Noch neulich,« äußerte Rotermund, »als ich dich zum erstenmal wiedersah, dachte ich: nun, diesmal kommt ihm der Finzer gewiß nicht in den Weg.«

Alexander lachte.

»Ich hab' ihn im Gegenteil jeden Tag erwartet,« antwortete er, »denn ich konnte es nun nachgerade wissen, daß, wenn ich im Dorf bin, der Finzer herbei muß, und wenn ...«

»Und wenn ihn der Teufel auf Stelzen holen muß«, vollendete der musikalische Korbmacher.

Die Geschichte des Finzer läßt sich übrigens, trotz all ihrer Abenteuerlichkeiten, kurz erzählen.

Nach seiner Flucht aus dem bischöflichen Seminar wandte er sich nach Straßburg. Dort ließ er sich in die Fremdenlegion nach Afrika anwerben. Und er besaß gerade die Eigenschaften, die einer in einem solchen Beruf braucht, vor allem physische Zähigkeit und ein gutes Stück Brutalität. So fühlte er sich verhältnismäßig wohl, wo ein anderer zugrunde gegangen wäre. Er tat sich bei verschiedenen Operationen gegen aufständische Eingeborene sichtlich hervor und erregte die Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten. Ja, er wurde in kurzer Zeit Unteroffizier, dann Sergeant. Als solcher gelang es ihm, die Sache ist nicht wahrscheinlich, aber tatsächlich, die Fremdenlegion mit einem französischen Zuavenregiment zu vertauschen, einzig freilich durch die Frechheit, womit er vorgab, ein Franzose zu sein, ein mit seiner Familie nach Deutschland ausgewanderter Elsässer.

Bald nach seinem Übertritt brach der Krieg aus, der sein Regiment, unter dem Oberbefehl des Marschalls Mac Mahon, nach Frankreich und an die deutsche Grenze führte. Bei Sedan, am gleichen Tag mit »seinem« Kaiser, wurde der Finzer deutscher Kriegsgefangener und kam als solcher nach Stettin.

Das Los der Gefangenschaft ertrug er mit Würde. Als Sergeant genoß er eine verhältnismäßige Freiheit. Er benutzte sie, um in den Straßen und Kaffeehäusern der Stadt umherzuschlendern, die Zigarette im Mund, die beiden Hände in den Taschen seiner faltigen Hose, sich königlich freuend, wenn große und kleine Kinder vor seiner malerischen Uniform Mund und Nase aufsperrten. Die großen taten mehr noch als das. Er brauchte sich keine Zigaretten zu kaufen, sie kamen ihm von allen Seiten, er wußte selber nicht woher. Noch lieblichere Dinge wurden ihm angeboten, und der Finzer war nicht der Mann, den Blöden zu spielen.

Die gefangenen Franzosen waren zu Stettin in den Bürgerhäusern herum in Quartier gegeben, kaum einer konnte sich über die Gastfreundschaft seiner Wirte beklagen, der Finzer am wenigsten. Sein Quartierherr, ein bärbeißiger pensionierter Kapitän, fühlte sich über alles beglückt, daß gerade ihm der Vorteil geworden, etwas so Exotisches ins Haus bekommen zu haben, während seine Bekannten nur unscheinbare kleine Infanteristen beherbergen durften. Er hielt weder mit seinem Ruhm – als Kenner der gelben und schwarzen Weltteile – noch mit seinem Rum und den alten Flaschen zurück, und die beiden saßen oft bis in die tiefe Nacht vor dem dampfenden Grog, und das angeglühte fleischig breite Gesicht des Alten schwitzte dabei vor Glück. Auch seine beiden Töchter wichen dann nicht von der Stelle, trotz des Qualms aus Stummelpfeife und Zigaretten. Sie waren wie toll auf den Zuaven, und ihre zahlreichen Freundinnen waren es ebenfalls, und alle schmachteten den Finzer an wie einen leibhaftigen Sultan.

Ängstlich hütete er sich, ein deutsches Wort auszusprechen.

Aber er schrieb heimlich an seine Mutter. Und er erfuhr von ihr bedeutsame Neuigkeiten: daß der Vater gestorben und daß der ältere Bruder im Kriege geblieben war, in der Schlacht bei Sedan, und daß er also, er, der Finzer, als einziger Erbe des Blessenhofs übrig sei. Da wurde Vinzenz Bächle nachdenklich. Dann kam die Zeit der Auslieferung.

Da erschrak der Finzer. Wie aus einem Traum fuhr er auf, als seine Kameraden ihm entgegentraten, laut aufjubelnd, daß sie nun bald ihre Heimat wiedersehen sollten.

Noch in derselben Stunde begann der Abmarsch nach dem Bahnhof.

Der Jubel hatte sich unterdessen gelegt, es war ein stiller Zug; die Mannschaft mochte bedenken, daß sie zwar dem Vaterlande wiedergegeben wurde, aber keineswegs unter ehrenvollen Umständen, und außerdem waren die meisten unter ihnen sich bewußt, daß heimlich heiße Tränen um sie flossen.

Am stillsten und nachdenklichsten verhielt sich der Finzer.

Zwei Tage darauf hielt er, recht als Triumphator, den geschilderten Einzug in Hinterwinkel.

Er hatte seine Sache geschickt angegriffen. An einer einsam gelegenen Kreuzungsstation in Franken wurden den Gefangenen reichliche Erfrischungen gereicht. Eine ungenannte reiche Dame hatte dem dortigen Bahnhofswirt eine Summe Geldes geschickt, um die Scheidenden zu regalieren. Bei dieser Gelegenheit brachte es der Finzer fertig, sich auf die Seite zu stehlen und zurückzubleiben. Da er Geld mit sich führte, fiel es ihm nicht schwer, sich zur Fortsetzung seiner Reise einfache bürgerliche Kleidung zu verschaffen.

An alles hatte er gedacht und hatte sich durch die Mutter mit seinem Taufschein versehen lassen. Damit bewies er, er sei ein guter Deutscher und nur durch böses Mißgeschick in die verdammte französische Uniform geraten. Man bereitete ihm nicht nur keine Hindernisse, man bewies ihm die innigste Teilnahme; man zeigte sich tiefgerührt von seinem wunderbaren Schicksal.

Der Bauernsohn aus Hinterwinkel, der den Krieg als französischer Zuave mitgemacht und, als Deutscher, in deutscher Kriegsgefangenschaft geschmachtet hatte, erschien den guten Leuten unendlich interessanter als die eigenen heimkehrenden Soldaten.

Die Wirtstochter des Dorfes, wo der Finzer sich den bürgerlichen Anzug erhandelte, ein blondes Gretchen, bekam Tränen in die Augen bei den Erzählungen des martialischen Turkos, den man für einen Menschenfresser gehalten und der da plötzlich in deutschen Lauten redete und noch dazu in schwäbischen.

Und wenn die gefühlvollen Jungfrauen dann die Uniform des schwarzbärtigen Helden mit der ihrer Brüder und Schätze verglichen, die in Urlaub kamen, da stiegen in ihren schönen Seelen fast verächtliche Gedanken auf.

Der Finzer aber packte seine bunte Zuavenherrlichkeit zusammen, nahm den Zug, der ihn gen Hinterwinkel führen konnte, rauchte eine Zigarette zum Wagenfenster hinaus und bewunderte heimlich sich selber.

»Der Blessenvogtsbub von Hinterwinkel ist halt doch ein Dunterskerl«, sagte er ein ums andere Mal leise in sich hinein.

Zu Gansweiler, der heimatlichen Eisenbahnstation, mietete er das genannte braune Bernerwägele mit zwei schweren Ackergäulen davor, und damit rasselte er ab.

Vorher hatte er seinen Anzug gewechselt und die Zuavenuniform wieder angelegt. Denn sein Erscheinen sollte bei den Christen in Hinterwinkel größeres Aufsehen erregen als das der drei Weisen aus dem Morgenlande bei den Juden zu Jerusalem. Er wollte für ein Ereignis sorgen, wovon Kind und Kindeskinder sich erzählten. Und man kann nicht sagen, daß ihm sein großer Plan mißlungen sei.

Er feierte Triumph aus voller Brust.

Aber nur drei Tage lang.

Am dritten erschienen in Hinterwinkel und auf dem Blessenvogtshofe zwei Gendarmen und nahmen den Sohn der Blessenvögtin in ihre Mitte und marschierten mit ihm zum Dorfe hinaus.

Und auch bei diesem Auszug steckte ganz Hinterwinkel die Köpfe zusammen wie bei seinem glorreichen Einzug. Niemand wußte, was von der Sache zu halten sei. Man dachte aber an das Schlimmste und munkelte von Erschossenwerden.


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