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Zehntes Kapitel

Wie einer auf einem Mistwagen ausfuhr und was er für einen Schatz nach Hausse brachte

In meinen ersten Kunstübungen war ich Autodiktat. Ihren Schauplatz bildete der Kahlenbuckel, wo ich für meine Mutter das Viehzeug hütete. Ich blies die Maipfeife, von mir selber aus Kälberrohr oder losgeschälter Weidenrinde mit ziemlicher Geschicklichkeit zusammengerichtet. Eine ganze Anzahl einfacher Liedmelodien wußte ich damit hervorzubringen. Doch machte mir mancher Ton oft tagelang zu schaffen, bis ich ihn nach unendlichem Probieren zuletzt in meine Gewalt bekam.

Die Geißen und Gänse bildeten mein Publikum, und kein undankbares. Die Gänse besonders belohnten mich oft genug mit lautem Beifallsgeschnatter für ein lustig heruntergeblasenes »Ei, du lieber Augustin« oder ein gefühlvolles »Guter Mond, du gehst so stille«. Die frommen Ziegen taten dies nicht, sie blieben ganz still dabei, aber vielleicht war ein gerührter Blick von ihnen noch mehr wert.

Dann gab es einmal eine ganz unerhörte Musik in Hinterwinkel. Ein Karussell war aufgeschlagen worden, das erste in dieser Gegend, und drehte sich unter dem Gedudel einer ungeheuren Drehorgel im Kreise. Ich stand als Zuschauer dabei. Geld, um fahren zu können, besaß ich nicht. Die Mutter hatte auf eine leise Andeutung meinerseits gemeint, ich sei zu alt für die Kinderei.

Nun sah ich aber viel ältere die hölzernen Pferde besteigen. Alle Kinder hatten heute Kreuzer, nur ich nicht. Wer von den Eltern nichts bekam, bettelte einem Großvater oder einem Großmütterlein oder einer alten Base einen Obolus ab; ich allein wußte niemand, der mir etwas geschenkt hätte.

Meine Stimmung wurde immer finsterer, je länger sich das Karussell drehte, je schriller und lustiger die Drehorgel dudelte.

Plötzlich rief mich mein Vater. Er war über Feld gewesen, und ich ging langsam auf ihn zu, in der Meinung, er werde mir, wie er in solchen Fällen pflegte, einen mürben Wecken mitgebracht haben. Heute nahm ich mir vor, mich nicht im geringsten über die Bescherung zu freuen, weil ich nicht Karussell fahren durfte. Aber mein Vater zog aus der Seitentasche seines blauen Tuchrockes statt des Brotes eine Klarinette, eine Klarinette von honiggelbem Holz, mit glänzenden Messingklappen.

Lächelnd reichte er sie mir hin. Ich ergriff das Instrument und machte einen Sprung, höher als mein ganzer Wuchs, und dann lief ich fort zu Meister Rotermund. Aus dem unglücklichsten war ich mit einem Schlag der glücklichste Mensch von Hinterwinkel geworden.

Nepomuk Rotermund, der ehemalige königliche Hoboist und jetzige Korbmacher, gab vielen jungen Leuten Musikunterricht. Nicht nur aus Hinterwinkel, wo ein Kirchenorchester bestand, das an allen hohen Festtagen aus dem Gottesdienst die lustigste Kirchweih machte, sondern auch von vielen umliegenden Ortschaften kamen junge Kunstbeflissene zu Meister Nepomuk.

Hinterwinkel liegt in einer katholischen Gegend unseres sonst so gut protestantischen Schwabenlandes und war vor dem Reichsdeputationshauptschluß kurmainzisch gewesen. In der Kirche, über dem Chor, ist noch heute das Wappen der alten Reichskanzler mit bunten Farben angemalt, und ich habe als Knabe oft genug mit meinen Augen an den mysteriösen Gestaltungen gehangen. Besonders während der langweiligen Predigten gab ich mich gern diesen heraldischen Studien hin.

In einem der Wappenfelder glaubte ich eine Säge zu erkennen, welche ich mir ganz gut zu deuten wußte, weil ich sie mit dem heiligen Joseph in Verbindung brachte. In ein anderes Feld war ein Rad gezeichnet, dies ließ ich auf sich beruhen. Im dritten und vierten Felde dagegen schauten meine Augen zwei Tiergestalten, die ich, wie ich sie auch betrachten mochte, für junge Ferkel halten mußte, besonders ihrer geringelten Schwänzlein halber. Besser gefiel mir der rote Kurhut, der das ganze Wappen überschirmte, und wie ich mir gern selber einen gewünscht hätte.

Von der alten Krummstabherrschaft her lag den Hinterwinklern noch manches im Blut, vor allem ihre Liebe für instrumentale Musik, kirchliche wie profane, welche beide Arten sich oft nur durch den Ort der Aufführung unterschieden. Denn in Hinterwinkel war in Musiksachen noch immer das lustige Rokoko Trumpf. Der heilige »Cäcilianische« Chorgesang war damals noch nicht bis in die Bauerndörfer hinausgedrungen. Selbst der sehr zurückgezogene Herr Steuerperäquator Otto Heinzelmann tat im Kirchenorchester mit. Er vertrat dort sogar die erste Violine. Der Meister Nepomuk aber war recht ein Produkt dieser musikalischen Grundstimmung im Wesen des heimatlichen Volkstums. Und auch ich bin vielleicht nur darum ein Musiker geworden, weil ich von Hinterwinkel stamme, wie komisch!

Im Rotermundschen Hause gab es ein besonderes Heiligtum der Kunst, eine abgelegene Bodenkammer, die allein zu musikalischen Zwecken diente. Hier hingen die Instrumente, die Nepomuk als Hoboist um sich versammelt hatte. Ein paar große blinkende Waldhörner und eine Posaune bildeten wenigstens als äußere Erscheinung die Prachtstücke der Sammlung. Ein Piston und nicht weniger als drei Trompeten prangten in kaum geringerer Herrlichkeit.

In diesem Tempel pflegte Nepomuk die Kunst als Liebhaberei. Hier hielt er auch seine Schule. Und hier begann nun auch mein Studium der Kunst in regelrechter Form. Ein halbes Jahr dauerte hier mein Glück, dann aber wurde mir, was ich nie geglaubt hätte, auf einmal meine Klarinette verleidet.

Zu Anfang des Oktober, an einem silberhellen Frühmorgen, sah ich Meister Nepomuk seine Kuh, er besaß nur die einzige, vor den Wagen spannen. Ein Staatswagen war das nicht, er wurde dazu gebraucht, den Dünger der Kuh auf die paar armseligen Äckerlein hinauszufahren, wie auch deren Erträgnis an Klee und Rüben und Kartoffeln, oder was es sonst war, nach Hause zu holen. Man kann sich also ungefähr eine Vorstellung von dem Gefährt machen.

Meister Nepomuk aber war zu meiner Verwunderung nicht in Arbeitskleidern. Er hatte seinen langschößigen blauen Sonntagsrock an mit gelben Messingknöpfen und machte außerdem dazu ein Gesicht, wie er es auch nicht an gewöhnlichen Werktagen zu machen pflegte, so daß seine gradlinig rechtwinklige Nase noch größer als sonst in die Luft zu stechen schien. Auf dem Kopf saß ihm, tief in den Hinterkopf gedrückt, eine Biedermeiermütze mit verwegen in die Höhe stehendem Schild. Sie stammte noch aus seiner Hoboistenzeit, er hatte sie aber schwarz färben lassen.

»Willst mitfahren, Lexel?« fragte er freundlich, während er sich auf den Brettern des Wagens zurechtsetzte, auf die er zur Unterlage einige leere Kartoffelsäcke gelegt hatte. Es waren gerade Schulferien und ich setzte mich ohne Besinnen zum Meister auf den Wagen. »Hühott, Scheck«, sagte Rotermund, indem er das Leitseil anzog, und Kuh und Wagen setzten sich in Bewegung.

Ich wußte aber nicht, warum mir dabei so ungewöhnlich das Herz klopfte, denn ich konnte doch in diesem Augenblick unmöglich ahnen, welche Bedeutung diese Fahrt für mein ganzes Leben haben werde.

Umsonst fragte ich den Meister, wohin wir fahren.

»Wirst schon sehen«, antwortete er geheimnisvoll. Wir hatten längst das Dorf hinter uns, ich erwartete jeden Augenblick, daß wir in einen Feldweg einlenkten nach einem Acker des Nepomuk. Statt dessen ging's immer weiter auf dem holprigen Vizinalsträßchen die Schillingsberger Höhe hinauf. Und langsam genug ging's, wie man sich denken kann. Doch wurde mir die Zeit nicht lang. Nepomuk erzählte mir von seinem Hoboistenleben, von der Residenz und von anderen großen Städten, in die er auf den Kunstreisen mit seiner Kapelle gekommen war. Sehr interessant erzählte er, trotzdem er seine Rede in einem fort mit »Hühott, Scheck« unterbrechen mußte.

Auch von der Schwester seiner verstorbenen Frau sprach er zum erstenmal, jener »Göte« seiner Olga, die in Stuttgart an einen Schloßbediensteten verheiratet war. Zu ihr solle die Olga später kommen und in der Stadt in die Schule gehen. Dann wieder: »Rühr' dich, Scheck, hühott!«

Dies war dennoch nicht mein einziger Zeitvertreib. Nirgendwo in der Welt sind alle Straßen so üppig mit geschlossenen Reihen wohlgepflegter Obstbäume besetzt als in meiner schwäbisch-fränkischen Heimat, und unter solchen Bäumen, schwer vollhängend von prangenden Äpfeln, fuhren auch wir dahin. Überall unter den Bäumen, zwischen Gras und Stoppeln leuchtete es ebenfalls von roten und goldenen Früchten, ja, ihrer viele lagen mitten auf der Straße, und die Räder unseres Wagens zerquetschten bald da, bald dort einen wachsgelben Schlotterapfel oder rotbackigen Borsdorfer, daß die Brühe nur so davonspritzte. Die schönsten Früchte suchte ich vor solchem Unheil zu bewahren, indem ich mich jedesmal, sobald ich darauf aufmerksam wurde, behend vom Wagen gleiten ließ und die Früchte aufraffte und vor dem Verderben rettete zu meinem eigenen Genuß.

Dann lag bereits die Schillingsberger Höhe und die ganze Hinterwinkler Gemarkung hinter uns, aber noch ging's immer weiter auf holprigen Vizinalsträßchen. Und dann hatten wir auf einmal das Dorf Schillingsberg vor uns. Die fremde Dorfgasse hinein hörte das »Hühott, Scheck« des Meisters nicht auf, denn in der ungewohnten Umgebung wurde die Kuh stutzig und ging, wenn das möglich war, noch langsamer als vorher.

Vor dem größten Haus des Dorfes hielten wir an, ich bemerkte gleich, daß es das Schulhaus sei. Der Herr Lehrer kam herbei, er empfing uns wie alte Bekannte. Und nachdem Nepomuk seiner Kuh ein Bündel Heu vorgelegt, wurden wir hinauf in die Wohnstube geführt. Die Frau des Lehrers, die mit dem linken Bein ein wenig hinkte, setzte uns zu frühstücken vor, einen großen Laib Bauernbrot, weißen Klumpenkäse, der mit Rahm und Schnittlauch angemacht war, und einen Krug Apfelmost.

In der geräumigen Stube standen zwei Klavierkästen. Wenigstens der eine davon, aus kastanienbraunem Nußbaumholz, war als solcher auch für mich unverkennbar. Aber auch das zierliche Möbelchen daneben, viel schmäler und dünner, das einmal weiß lackiert gewesen war mit vergoldeten Einfassungen, mußte so etwas sein. Und wirklich öffnete es jetzt der Lehrer und setzte sich zum Spielen davor. Die Klaviatur daran war aber anders als am Flügel des Herrn Steuerperäquators, die langen und breiten Untertasten waren hier schwarz, die Obertasten weiß. Denn es war ein richtiges altes Spinett. Mir klopfte wieder das Herz, wie ich dem Spiel des Lehrers zuhörte, und konnte doch nicht ahnen, was das alte zierliche Möbel mir noch bedeuten werde.

Darauf sah ich zu, wie die beiden Männer dem Ding die schlanken vierkantigen Beine ausschraubten, wie sie es dann zusammen hinuntertrugen und auf dem Wagen befestigten.

Nepomuk Rotermund hatte das Instrument gekauft. Es war für die Olga bestimmt. Sie sollte als erste Vorbereitung für ihre städtische Laufbahn von Herrn Otto Heinzelmann Klavierstunden bekommen.

In schon vorgerückter Stunde des Nachmittags langten wir wieder in Hinterwinkel an.

Dann stand ich, viele Wochen später, einmal hinter dem Stuhle Olgas und sah zu, wie sie ihre Übungen machte nach Noten, die ihr der Herr Steuerperäquator aufgeschrieben und mit Fingersatzbezifferung versehen hatte, während Vater Nepomuk ihr von seiner Arbeit aus zuhörte und hier und da eine korrigierende Bemerkung einwarf.

Von dieser Stunde an verachtete ich fast meine Klarinette. Dafür stellte ich mich, sooft es gehen wollte, hinter die übende Olga, und ohne daß ich daran dachte, machten meine Finger die Bewegungen der ihrigen mit. Einmal aber, als ich Olgas Ermüdung sah, fand ich den Mut und bat sie, mich die Sache auch einmal probieren zu lassen. Sie guckte mich überrascht an. »Du wirst wunder meinen, wie leicht das geht,« so sprach sie voll Selbstbewußtsein, »das ist schwerer als sich's ansieht, das muß man gelernt haben.«

Und die junge Künstlerin, von der Vergeblichkeit meines Versuches fest überzeugt, machte keine Miene, mich an ihr Instrument zu lassen. Sie selber konnte trotz langen Mühens ihr Sätzchen kaum zusammenbringen.

»So laß es den Lexel doch einmal versuchen«, rief ihr der Vater zu, ohne in seiner fleißigen Flechtarbeit innezuhalten.

Olga machte mir Platz.

Ich zitterte. Meine Finger zeigten sich viel unbeholfener, und die Tasten, besonders die breiten schwarzen – die kurzen waren weiß – schlugen sich schwerfälliger an, als ich mir's vorgestellt hatte. In der Luft war die Sache leichter gegangen. Mein Anschlag fiel unsicher aus, und ich hielt schlechtes Tempo. Nachdem ich den kleinen Satz mit Mühe durchgehackt hatte, wollte ich beschämt aufstehen. »Nein,« rief Meister Nepomuk, »spiel's noch einmal.«

Das zweite Mal ging es nun weit besser, und bei einer nochmaligen Wiederholung gelang mir das Stück ohne Anstoß und im richtigen Tempo. Nur daß einzelne Töne immer ausblieben, weil die entsprechenden Tasten vor Alter lahm geworden waren. Olga stand sprachlos. Ihr Vater sagte trocken: »Er macht's schon besser als du.«

Am andern Tag, als ich aus der Schule kam, stand der Herr Steuerperäquator auf der Haselbachbrücke und sah ins Wasser. Er war damit beschäftigt, von Zeit zu Zeit feine Brotkrumen in den Bach hinunterzuwerfen, und ich sah ihm sogar von hinten an, wie ihm das hungrige Schnappen der Fische Vergnügen machte. Er wandte mir den Rücken zu, und ich wollte, ohne zu grüßen, was mich niemand gelehrt hatte, an ihm vorüberschleichen; aber plötzlich kehrte er sich mit seinem roten Gesicht und weißen Schnurrbart gegen mich um.

»Nun, wie geht's, Alexander der Unhöfliche?« redete er mich an. Ich wußte auf eine solche Frage nichts zu antworten.

»Ich meine, was dein Klavierspiel macht«, fuhr Heinzelmann lachend fort, worüber ich noch verlegener wurde und immer unfähiger, auch nur ein Wort hervorzustottern.

»Nepomuk hat mir von deinen Künsten berichtet,« sprach der Herr Steuerperäquator weiter, »und wir haben uns beide gefreut. Du magst auf Olgas Klavier üben soviel du willst, und jeden Dienstag und Freitag kannst du mit deiner Kollegin zu mir hinaufkommen und mir dein musikalisches Sprüchlein aufsagen, so wollen wir sehen, was daraus wird.«

Mit gemischten Gefühlen machte ich mich einige Tage später auf den Weg zu dem alten Heinzelmann. Langsam und zögernd, mein vergriffenes Notenbuch unter dem Arm, stieg ich die Stufen hinauf von einer Gartenterrasse zur anderen.

Dann stand ich droben in der Stube, in dieser Stube mit dem weißgescheuerten Dielenboden und den selbstgefertigten Teppichen des Fräulein Sabine, mit dem grünen Kanapee, dem Flügel, dem Schreibtisch des Herrn Bruders; in dieser Stube mit den zahlreichen Kupferstichen und Gemälden und Photographien an den hellblumigen Wänden, mit den blendend weißen Vorhängen an den Fenstern und dem großen Bücherschrank in der Ecke, wo zugleich die Jagdgewehre standen; in dieser Stube mit ihrem ganz eigentümlichen Duft von armer Vornehmheit und geistig verfeinerter Ländlichkeit.

Der Herr Steuerperäquator, im großblumigen kattunenen Schlafrock, die perlengestickte Mütze mit goldener Quaste auf dem schneeigweißen Haupte, mit einem noch röteren Gesicht als gewöhnlich und die buschigen Augenbrauen bedenklich in die Höhe gezogen, stand mit Palette, Pinsel und Malstock vor seiner Staffelei.

Er malte nämlich auch. Die Gemälde im Zimmer waren Werke seiner Hand. Das Malen war sogar seine Leidenschaft.

Auf die Jagd ging Otto Heinzelmann der Bewegung halber; Klavier spielte er, wie er sagte, weil der Flügel doch einmal dastand und weil er es so von Kindheit auf getan. Aber an seiner Staffelei schwitzte er, als ob er damit sein Brot hätte verdienen müssen. Er malte oft mehrere Jahre an einem einzigen kleinen Bildchen. Wie und wo er an diese Kunst geraten war, ist mir unbekannt geblieben.

»Also, Freund Alexander,« sprach er freundlich, indem er Palette und Pinsel ablegte und einen Stuhl an den Flügel rückte, »nun laß einmal hören.«

Zitternd setzte ich mich an das vornehme Instrument, indem ich mein armes Notenheft auf dem Pult zurechtstellte. Der Herr Steuerperäquator war wider alles Erwarten mit mir zufrieden.

In solcher Art vertauschte ich den korbmacherlichen Klarinetten mit dem steuerperäquatorialen Klavierunterricht.

Dieser ging aber lange nicht so lustig und schnell, und zwischen unendlichen Fingerübungen mit Tonleitern und Läufen und Triolen griff ich von Zeit zu Zeit gern wieder zur Klarinette, der so verachteten, und blies mir, sozusagen zur Belohnung für ausgestandene Übungen, liebe Volkslieder und schmelzende Opernarien nach dem Gehör oder nach Noten des Meister Nepomuk. Und die Namen »Don Juan« und »Zauberflöte«, »Freischütz« und »Die schöne Helena« und viele andere wurden mir, der ich keine Ahnung von dem besaß, was sie bedeuteten oder auch nur, was Theater und Oper sei, so geläufig im Mund, wie die Namen Wassersuppe und Hutzelbrühe.

Besonders wenn ich, was öfter geschah, die Mutter in ihrem Hirtenamt vertreten mußte, nahm ich immer meine Klarinette mit. Ich blies jetzt nicht mehr »Ei, du lieber Augustin« oder »Guter Mond, du gehst so stille«, sondern

Ein Mädchen oder Weibchen
Wünscht Papageno sich,
Ach, so ein zartes Täubchen
Wär' Seligkeit für mich

oder

Wir winden dir den Jungfernkranz
Von veilchenblauer Seide ...

Wieder waren die Gänse und Geißen mein Publikum und kein undankbares. Die Gänse besonders belohnten meinen Eifer gar oft mit lautem Geschnatter. Die frommen Ziegen taten das nicht, sie blieben ganz still dabei, aber vielleicht war ein gerührter Blick von ihnen noch mehr wert.

Leid tat es mir, daß Olga Rotermund nicht gleichen Erfolg wie ich auf dem Klavier erzielte, daß ihre Leistungen immer weit hinter den meinigen zurückstanden. Zum Glück grämte sich das gute Kind deswegen nicht. »Dafür bist du älter als ich,« pflegte sie zu sagen, »und bist kein Mädchen, sondern ein Bub.« Und da hatte sie recht.

Unterdessen kam auch unser Schulmeister Langbein hinter mein musikalisches Talent, wie er's nannte, und reihte mich in die Zahl seiner Violinschüler ein, die er als Dirigent des Kirchenorchesters unentgeltlich zu unterrichten verpflichtet war.

Da fühlte ich mich in meinem Element. Auch schreckte mich keine Schwierigkeit. Die langweiligsten Übungen bereiteten mir noch unendlichen Genuß, und ich hätte jemand groß angeschaut, der mir gesagt, daß das eine Arbeit sei; mir war's ein Spiel.

Und ein »Spielen« wird ja tatsächlich alles Musiktreiben genannt, in allen Sprachen der Welt, was klar beweist, daß der namengebende Mensch der Philosoph war vor allen Philosophen.

Langweilig fand ich nur die Schneiderei, vielleicht weil ich trotz aller Kindsköpfigkeit begreifen mochte, daß sie bitterer Ernst sei. Ich hatte vom Brotverdienen noch kein rechtes Bewußtsein, aber dunkel ahnte ich, daß gerade damit die Welt keinen Spaß versteht.

Ich fand aber die Schneiderei besonders deswegen langweilig, weil ich keine Fortschritte darin machte. Oder machte ich vielleicht keine Fortschritte, weil ich sie langweilig fand? Mit fünfzehn Jahren war mein Vater als »ausgelernter« Geselle in die Fremde gezogen; ich stand jetzt im dreizehnten und konnte noch kein ordentliches Knopfloch machen. Hosenknöpfe annähen und den Henkel an einen fertigen Rock war das Höchste, was man mir selbständig anvertrauen mochte, und sogar in diesen geringfügigen Arbeiten befriedigte ich selten meinen Meister, der oft meine ganze Näherei wieder abriß.

Dann konnte sich mein guter Vater recht erzürnen. Aber meinem musikalischen Treiben legte er dennoch nichts in den Weg; er pflegte zu sagen: »Man kann nie wissen, wozu etwas gut ist.«

Und zu diesem Sprüchlein griff er auch bei jenem Ereignis, das eine noch bedenklichere Ablenkung vom ehrsamen Schneider-Handwerk mit sich brachte als die Musik; auch bei jenem aus eigener Machtvollkommenheit hervorgegangenen und allen Widerspruch ausschließenden Bescheid des Herrn Pfarrers, daß ich auch »mitmachen dürfe«, womit ich meine Geschichte anzufangen mir erlaubt habe, sagte mein Vater: »Man kann nie wissen, wozu etwas gut ist.«


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